Langenecks Welt

Wieviel Kapitel hat der Abschied? – Predigt zu Johannes 17, 1-8

Wieviel Kapitel hat der Abschied?

Das kann niemand sagen.
Das können wir nur im Rückblick erkennen.

Da waren wir das letzte Mal miteinander unterwegs.
Da haben wir noch einmal zusammen gegessen.
Da habe ich ihn das letzte Mal gesehen.
Und das hat sie mir noch erzählt.

Wenn jemand geht, ist die Welt nicht mehr, wie sie war.
Und die Erinnerung sucht nach den letzten Momenten und den letzten Worten.
Gerade, wenn da Fragen bleiben.
Dann wendet die Erinnerung alles wieder und wieder um.

Was hatte das zu bedeuten?
Hatte das überhaupt etwas zu bedeuten?

Aber statt einer Antwort bleibt es still.
Die Stunde ist gekommen und die Zeit kommt zum Erliegen. 

Jesus geht.

Noch einmal haben sie zusammen gegessen, schon stiller als sonst.
Und da war auch noch dieser seltsame, halb zärtliche, halb praktische Moment nach dem Essen.
Jesus hat ihnen allen die Füße gewaschen und sie ihnen abgetrocknet, sich vor jeden einzelnen hingekniet.
Auf den Knien ist er vor ihnen weitergerutscht, von einem zum andern.
Und niemand von ihnen hat gewusst, wo er dabei hinschauen soll.
Knapp über den Kopf, der sich über ihre Füße beugt, irgendwo in den Raum hinein.

Gesagt hatte niemand etwas.
Jeder von ihnen wusste:
Das hier ist für immer.
Nur Petrus nicht, mit seinem herausragenden Talent, zur falschen Zeit das Falsche zu sagen.

Zum Glück redete dann fast nur noch Jesus, einen ganzen Abend lang.
Ein, zwei Fragen noch aus ihrem Kreis.
Und dann werden sie nach und nach still, damit er sprechen kann.
Es wird dunkel, die Gesichter um den Tisch verschwimmen langsam, auch seines.
Aber solange er redet, ist er noch da.

Jeder von ihnen ahnt:
Dafür gibt es nur ein Wort.
Und das heißt Abschied.
Die Stunde ist gekommen und jetzt ist sie da.

Irgendwann ist Jesus fertig mit Reden.
Und endlich haben sie das Gefühl, ihn verstanden zu haben.
Das ist das unpünktlichste aller Gefühle.
Es kommt immer erst dann, wenn einer gehen muss.
Und „jetzt ist es viel zu früh zu spät.
Weil die Zeit dich dann verlässt, wenn du sie am meisten brauchst“ (Enno Bunger).

„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Das sind seine letzten Worte an sie.
Es ist nicht schwer, sie sich zu merken.
Denn sie sind wahr, jedenfalls der erste Teil.

Und dann wendet Jesus sich von ihnen ab und sieht nach oben, so als sei da irgendetwas anderes als die Balken der Decke.
Und er sagt:

„Vater, die Stunde ist gekommen:
Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche.
Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.“

Johannes 17,1.4f – Luther Bibel 2017

Die Zeit kommt zum Erliegen, schon wieder, noch gründlicher.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, das ist alles eins.
Und alles ist Herrlichkeit.

Dass sie sich die Sandalen nach dem Füße waschen, noch nicht wieder angezogen haben, erweist sich als äußerst angemessen.
Sonst hätten sie die Schuhe gleich wieder ausziehen müssen.
Denn der staubige Boden unter dem Tisch zu ihren Füßen ist auf einmal heiliger Boden.
Die Zimmerdecke öffnet sich zum Himmel.
Und auf dem Gesicht Jesu liegt ein Glanz von woanders her.

Manchmal ist das so, beim Abschied.
Da wird die Welt herrlich durchsichtig für einen Moment.
Gestern, heute und morgen werden eins, für jetzt und für immer.
Und dann ist es egal, wo man gerade ist und ob die Füße schon wieder schmutzig sind oder das Herz voller Angst.

Da ist die Welt auf einmal doch zu überwinden.

Wenn jemand geht, ist die Welt nicht mehr so wie sie war.
Es ist still und leer.
Und es ist laut und voll, mit allem, was diesen Menschen ausgemacht hat.
Wir sind gewohnt, dann immer nur auf alles Unfertige zu schauen, auf das, was nicht oder nicht mehr getan worden ist.
Oder auf das, was noch alles hätte getan werden können.
Das quält uns so beim Abschied.

Wie kann Jesus sagen, dass er das Werk vollendet hat, das ihm sein Vater gegeben hat?
Was ist denn vollendet an diesem lockeren Freundeskreis aus ängstlichen Menschen mit schmutzigen Füßen?
Die meisten überlegen doch schon, wo sie hingehen können, wenn es ernst wird.
„Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das seine und mich allein lasst.“ (Joh 16,32).

Sie spüren die schäbige Erleichterung darüber, dass Jesus gar nicht mehr mit ihnen rechnet.
Und am Ende stehen dann auch nur noch die unter seinem Kreuz, die wirklich keine Entschuldigung haben:
Die Mutter, die Tante, die Freundin und der beste Freund.
Und trotzdem wird Jesus sagen: „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30)

Es ist vollbracht.

Im Abschied vollendet sich jedes Leben.
Die Welt ist auf einmal still und leer.
Und laut und voll von all dem, was einen Menschen ausgemacht hat.
Weil vollendet etwas anderes heißt als fertig.

Die Welt hat nicht angenommen, was Jesus gesagt hat.
Selbst seine engsten Freunde haben ihn meistens nicht verstanden.
Und es sieht nicht so aus, als würde irgendjemand sein Gebot ernst nehmen, dass wir einander lieben sollen.
Die Welt war schon lange nicht mehr so unfertig wie jetzt gerade.
Ein Krieg, schmutzige Füße, schmutzige Hände und die Herzen so voller Angst.

Und gerade jetzt wird uns deutlich, was Jesus ausgemacht hat.
Wie er auf einem Esel in die Stadt geritten ist.
Und damit genauso sanft und genauso störrisch wie ein Esel die Bilder von Macht und Herrschaft in Frage stellt.
Wie er auf den Knien vor seinen Freunden auf dem Boden herumrutscht und sich zu ihrem Diener macht.
Wie er dann ganz allein mit den Soldaten geht.

Diese letzten Bilder von Jesus, still und leer, laut und voll zugleich.
„Nun ist die Botschaft verkündet und wird nicht mehr verstummen. Bis zum letzten Tage wird sie an die Herzen pochen. Die Welt ist anders geworden.“ (Romano Guardini)

„Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.“

Johannes 17, 6-8 – Lutherbibel 2017

Wenn jemand geht, ist die Welt laut und voll mit dem, was ihn oder sie ausgemacht hat.
Und nichts ist dann dringender als der Wunsch, damit verbunden zu bleiben, weiter dazu zu gehören.

Wie macht man das, mit Jesus verbunden bleiben?

Denn die Welt ist die Welt.

Sie ist der staubige und schmutzige Boden, auf dem wir gehen, manchmal ganz wüst und leer.
Die Welt, das sind die Menschen um uns und wir selbst.
Ängstlich, inkonsequent, furchtbar schwach, gerade dann, wenn es darauf ankommt.
Die Welt ist die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein wird.

Wer sich an Jesus erinnert, erinnert sich daran, dass die Welt trotzdem nicht an der Zimmerdecke aufhört.
Es gibt einen Glanz in dieser Welt.
Und Momente, die einem die Schuhe ausziehen, in denen die Zeit zum Erliegen kommt und die Welt herrlich durchsichtig ist.

Und die Welt ist zu überwinden.
Nicht, indem man sich aus ihr zurückzieht.
Sondern indem man in sie hineingeht, genauso wie Jesus es gemacht hat.
Sich seine Leute sucht und all ihre Unzulänglichkeiten in Kauf nimmt.
Auf Eseln reitet, wann immer sich die Gelegenheit ergibt.
Auf dem Boden herumrutscht, schmutzige Füße wäscht, ängstliche Herzen tröstet.
Sich manchmal sehr allein fühlt.

Das ist die Herrlichkeit, die diese Welt zu bieten hat.
Denn sie ist doch gut gemacht.
Es gibt so viel Gelegenheiten, die Welt, andere Menschen und nicht zuletzt sich selbst zu lieben, so zärtlich und praktisch zugleich.
Das ist die Herrlichkeit, die wir haben.

Amen

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