Volkstrauertag und Weltgericht
Predigt zu Matthäus 25, 32-46 am 19.11.2023 in der Veitskirche in Nehren
Der Staat Israel verleiht seit seiner Staatsgründung im Jahre 1948 an Nichtjuden, an Ausländerinnen und Ausländer den Ehrentitel: „Gerechter unter den Völkern“. Es werden Menschen geehrt,
die während des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges Juden geholfen haben, den Nazi-Schergen zu entkommen.
Erinnern sie sich noch an den Text unserer Schriftlesung? Wie der Hirte die Schafe und Böcke trennt?
Jesus setzet voraus, dass bestimmte ethische Regeln immer und überall gelten. Diese Regeln sind aus sich selbst heraus wahr. Selbst dann, wenn sie niemals verkündet wurden. Selbst dann, wenn sie nicht bekannt wären.
Denn beide Gruppen in dieser großen Rede Jesu,
die Schafe zur Rechten und die Böcke zur Linken, reagieren erstaunt,
als der Weltenrichter ihnen die ethischen Maßstäbe für ein menschliches Leben vorhält: Mitleid zu haben mit den Hungernden;
die Armen zu nicht beschämen, sondern ihnen ihre Armut zu lindern und ihre Würde zurückzugeben;
den kranken Nachbarn besuchen
oder auch jemanden, der gefangen ist
Das haben die einen, ohne groß nachzudenken, getan. Die anderen, ebenfalls ohne nachzudenken, versäumt.
Am heutigen Volkstrauertag geht es um die ethischen Maßstäbe, die jeder Mensch wissen kann. Die immer und überall gelten. Denen sich kein Mensch zu keiner Zeit und an keinem Ort, entziehen kann.
Der hochrangige SS-Mann Adolf Eichmann hatte sich bei seinem Prozess in Jerusalem darauf berufen, dass er nur Befehle ausgeführt habe. Er für sein Tun deshalb nicht verantwortlich zu machen sei. Und genau das, sagt Jesus, genau das geht nicht.
Der Menschensohn wird, wenn er Gericht hält,
nicht einzelne Menschen nach links oder nach rechts weisen. So haben es die KZ-Schergen mit den Juden getan: Wer arbeiten konnte, kam auf die rechte Seite,
und wer nach links sortiert war,
der ging auf kurzem Wege in die Gaskammern.
Der Weltenrichter versammelt die Völker zum Gericht und richtet die Völker.
Dieses Bild ist den Juden aller Zeiten vollkommen geläufig.
Es stammt aus dem Propheten Jesaja und trägt bei den Theologinnen und Theologen den Titel: „Völkerwallfahrt zum Zion.“ Am Ende der Zeit
– so der Gedanke dieses Bildes –
werden alle Völker Gott als den wahren Gott erkennen.
Sie werden zu ihm pilgern und seine Gebote halten.
Und die Vorstellung Jesu über das Jüngste Gericht ist: Da sitzt eben nicht irgendein eifersüchtiger, despotischer Gott auf den Richtthron, der vollkommen willkürlich nach selbst gesetzten Regeln urteilt.
Sondern:
Das letzte, das Jüngste Gericht folgt genau den Maßstäben, die jeder Mensch aus sich selbst heraus erkennen kann. Regeln, die jeder Mensch aus sich selbst heraus halten kann. Ja, die jeder Mensch halten muss oder er verhält sich böse.
Hin und wider höre ich Menschen sagen: Die Chinesen, die haben eine andere Ethik als wir. Die russische Regierung
oder meinetwegen auch Wladimir Putin in einsamer Größe denkt eben in anderen Kategorien als der Westen und handelt nach anderen Maßstäben.
Die Rechten in unserem eigenen Lande: Die Neo-Nazis, die Reichsbürger oder auch Teile der AfD wollen bestimmen, wer zu unserem Volk gehört und dabei das Recht außer Kraft setzen. Das Recht, dass, wer einen deutschen Pass besitzt, auch Deutscher oder Deutsche ist. Egal ob mit Kippa oder Kopftuch. Egal ob mit Geburtsort Teheran, Tel Aviv oder in Nehren.
Wir reden auch oft von westlichen Werten, von europäischen Werten, von den Werten, die durch die Aufklärung vermittelt sind.
Annalena Baerbock jettet durch die Welt als Engel der Menschenrechte
und eckt damit an in China und in der Türkei und anderswo. Aber sie hat recht!
Die Menschenrechte sind universal. Und sie sind es nicht, weil wir Europäerinnen und Europäer oder weil die Amerikaner sie eingesetzt haben. Sie sind aus sich selbst heraus gültig.
Niemand musste sie erst setzen oder beschließen. Wenn man sie gefunden hat, dann leuchten sie unmittelbar ein.
Die Aufklärung heißt auf Englisch „Enlightning“ – „Erleuchtung“ Das, was in der Aufklärung gefunden wurde,
ist nicht willkürlich gesetzt, sondern wurde entdeckt. Das war immer schon da und wird immer gelten. Es mag im Mittelalter verschüttet gewesen sein. Es mag im Dunkel gelegen haben. Aber es war immer da.
Und die Denker der Renaissance haben das Licht der Aufklärung auf den Leuchtern entfacht: von Martin Luther und Erasmus von Rotterdam
über René Descartes, Gotthold Ephraim Lessing
und dem großen Immanuel Kant.
Oder die die Vordenker der Französischen Revolution mit ihren Werten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.
Da wurde der Menschheit mit einem Mal klar:
Es kann keine Sklaven mehr geben.
Es kann nur freie und gleiche Menschen geben.
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, das war nicht das Diktat eines Herrschers oder eines wenig souveränen Gottes. Das war die Erkenntnis der Vernunft. Das war, was alle Menschen längst hätten wissen können. Das ist ein absoluter Wert. „Absolut“, das heißt losgelöst von jedem Herrscher, von jeder Religion, von jeder Weltanschauung.
Und das muss einfach gelten: Alle Menschen haben gleiche Rechte. Die Menschenwürde gilt für jedermann. Das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit; das Recht auf Freiheit. Das kann mit Vernunftgründen nicht bestritten werden. Darauf kann jeder Mensch kommen,
weil es eben die Wahrheit ist.
Und ein universeller Wert ist es auch, dass wir unseren Mitmenschen helfen,
dass wir sie in ihrer Armut nicht beschämen,
dass wir ihnen in Krankheit und im Sterben nahe sind
und dass wir ihnen in der Verfolgung helfen.
Dass Menschen Kriege führen,
dass sie sich gegenseitig abschlachten. Das ist kein universeller Wert. Und das kann jeder Mensch wissen.
Auch Putin, auch die Terroristen in Gaza. Das hätten eben auch ein Adolf Hitler und ein Adolf Eichmann wissen können.
Wir sollen so handeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Das ist Kants berühmter kategorischer Imperativ.
Und das steckt auch in unserem Predigttext: Es geht um simple Mitmenschlichkeit.
Eichmann wurde in Israel verurteilt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Aber wir müssen viel weiter gehen.
Wir dürfen keinen Krieg vom Zaun brechen. Wir müssen uns ans Recht halten, auch ans internationale Recht. Und wenn wir etwas im Recht für falsch halten, dann müssen wir es auf friedlichem Wege ändern.
Wir dürfen kein fremdes Territorium an uns reißen und auch kein Seegebiet, das uns nicht gehört. Da geht es zumeist um Bodenschätze.
Das können wir auf das Übertragen, woran uns der Volkstrauertag erinnert: Der Zweite Weltkrieg war ein verbrecherischer Krieg. Das Nazi-Reich war ein abgrundtief böses Regime.
Wer Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung umbringen lässt,
der ist böse, abgrundtief böse. Da kann er noch so viel Autobahnen gebaut haben. Da gibt es kein Vertun. Da gibt es keine Entschuldigung. Das ist eindeutig.
Es kann keine vernünftige Ethik geben,
die das Töten von Menschen rechtfertigt. Und das weiß jeder Mann und jede Frau. Wer an der Tötung von Zivilisten mitgewirkt hat,
in den Konzentrationslagern oder bei den Massakern im Krieg,
hat verbrecherisch gehandelt. Trotz Handelns unter Befehl oder unter entsprechenden Gesetzen.
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das ist das Stichwort. Jeder weiß, dass man keine Menschen tötet,
auch nicht für Volk und Vaterland,
und schon gar nicht für die Reinheit der Rasse oder ähnlichen Humbug.
Das verbietet uns die Vernunft. Und auch Gott.
Jesus fordert in seiner großen Rede vom Jüngsten Gericht nicht, dass wir uns an die Zehn Gebote halten. Er geht nicht die Gebote durch.
Sein Weltenrichter fragt einzig und allein nach den universellen Geboten der Menschlichkeit. Nach den Geboten, die aus sich selbst heraus klar sind. Und genau diese Gebote der Menschlichkeit hat das Dritte Reich verfehlt.
Hitler hat versucht, den Deutschen die Menschlichkeit auszutreiben. Seine „Anständigkeit“ war vom Hass und vom Vernichtungswillen geprägt. Sie war abgrundtief böse. Das Nazi-Reich war ein böser Staat.
Das muss man heute auch von Russland sagen und von der palästinensischen Hamas. Da gibt es kein Vertun.
Das Böse muss benannt werden, damit es nicht siegt. Und das tue ich hiermit.
Die große Gerichtsrede Jesu verbietet uns aber nicht, um unsere Gefallenen zu trauern. Sie zu beweinen und zu beklagen:
Die Soldaten der beiden Weltkriege, die Gefallenen in Afghanistan und Mali, den Vater, den Bruder oder andere Verwandte. Auch die Frauen und Kinder, die im Bombenhagel der Alliierten zu Tode gekommen sind. Oder die Toten an der deutsch-deutschen Grenze.
Ihr Schicksal dürfen und sollen wir betrauern. Unseren Schmerz müssen wir nicht unterdrücken.
Genau das ist es ja, was Jesus erwartet: Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, Solidarität im Leid, im Schmerz. Jeder getötete Soldat, jede getötete Zivilistin, jede vergewaltigte Frau, jede Geisel, jedes verschleppte Kind und jeder getötete Flüchtling war und ist Opfer des Krieges, ob auf der einen oder auf der anderen Seite.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen,
die deutschen Kräfte waren die Täterinnen und Täter, von denen alles ausging. In vielen Fällen haben sie sich unmenschlich verhalten.
In den Konzentrationslagern oder bei Massenerschießungen. Oder bei der Reichskristallnacht.
Im deutschen Namen wurden furchtbare Verbrechen begangen. An den Juden, an den Polen, an den Russen und Ukrainern, an Italienern und Griechen und ich weiß nicht, wen ich noch alles nennen soll. Und das müssen wir anerkennen. Es ist und bleibt eine gewaltige deutsche Schuld.
Deutschland hat den Krieg vom Zaun gebrochen. Niemand sonst.
Auch wenn wir, die wir diese Zeit nur aus der Geschichte kennen, daran keine Schuld mehr tragen, so dürfen wir die Verantwortung für all das Schreckliche trotzdem nicht von uns weisen.
Die Schuld unserer Vorfahren und unsere Verantwortung verpflichten uns, für Israel einzutreten und für die Ukraine.
Und das heißt mit Blick auf Israel: Wir sollten Israel nicht nur helfen, sondern es auch davor bewahren, eine ähnliche Schuld auf sich zu laden in Hinblick auf die Palästinenser. Denn in dieser Gefahr sehe ich Israel in diesen Tagen.
Wir tragen eine besondere Verantwortung in der Welt, denn unser Volk hat furchtbare Schuld auf sich geladen. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen. Unser Land hatte den moralischen Kompass verloren und einen grausamen Weg eingeschlagen.
Unser Kompass muss für immer die Barmherzigkeit und die Mitmenschlichkeit Jesu sein. Das Mitgefühl mit Menschen jeder Herkunft und jeder Hautfarbe. Dabei geht es nicht darum, dass wir alle aufnehmen müssen, die zu uns kommen. Das können wir wohl nicht.
Sondern es geht darum, dass wir im konkreten Fall, von Angesicht zu Angesicht, menschlich bleiben. Weil wir Mensch sind und wir es mit Menschen zu tun haben. Daran kann es keinen Zweifel geben. Jeder Mensch verdient Menschlichkeit.
Der Maßstab im Jüngsten Gericht gilt für alle Völker. Für jeden und jede von uns.
Es wird nicht gefragt werden, ob wir jedes der Zehn Gebote, so wie sie Israel einst verkündet wurden, bis zum letzten i-Tüpfelchen gehalten haben. Der Maßstab ist, ob wir uns an die Menschlichkeit gehalten haben. Unserem Mitmenschen gegenüber, wer auch immer er oder sie sei.
Wer einen Krieg lostritt, fällt durch im Jüngsten Gericht. Ob er Hitler oder Putin heißt oder ein Anführer der Hamas ist.
Aber auch George Bush der Ältere hat nach 9/11 den Irak zu Unrecht überfallen. Dadurch hat der Westen furchtbare Schuld auf sich geladen. Gerhard Schröder gehörte damals nicht zur „Koalition der Willigen“. Das rechne ich ihm hoch an.
Kriege setzen die Menschlichkeit außer Kraft. Das kann jeder Mensch begreifen, das fühlt jedes Kind. Und mehr als simple Menschlichkeit wird im Jüngsten Gericht von uns nicht verlangt.
Das Jüngste Gericht ist keine Beichte. Das Jüngste Gericht fragt ganz simpel nach der Menschlichkeit. Und das Gebot der Menschlichkeit folgt aus unserem Mensch sein.
Die „Gerechten unter den Völkern“, die der Staat Israel nach dem Holocaust geehrt hat und immer noch ehrt, haben nicht die Gebote Israels befolgt. Sie sind in bösen Zeiten Mensch geblieben und haben sich ihre Menschlichkeit bewahrt. So sind sie gewissermaßen die Heiligen inmitten der Kriege unserer Zeit.
Amen.
- „Antisemitismus ist Sünde. Wer Juden hasst, wendet sich gegen Gott selbst.“
- Es brennt!