Langenecks Welt

Über Stärken und Schwächen – Predigt über 2. Korinther 12,1-10

Predigt am 30.06.2024 in Kohlberg

Es war am Ende eines langen Assessment-Center-Tages. Geeignet für den Job oder nicht?
Darum ging es bei dieser Veranstaltung.
Die Aufregung war allen Teilnehmenden anzumerken.
Ein abschließendes Gespräch mit der Personalkommission stand auf dem Programm.
Jetzt noch einmal gut durchkommen, dann müsste es hoffentlich klappen.

Die Tür öffnet sich.
Fünf Gutachter sitzen da,
aufgereiht an langer Tischreihe im Raum,
die Bleistifte gespitzt.
Manche schauen etwas angestrengt in ihre Unterlagen, andere blicken neugierig.
Eine kurze Begrüßung.

Keine wirklich gemütliche Atmosphäre,
aber so muss es ja vielleicht sein bei Bewerbungsverfahren.
Nun bloß ordentlich hinsetzen und gut aufpassen.
Der Pulsschlag pocht im Hals,
die Hände sind eiskalt und ein bisschen zittrig.

Der erste Gutachter verschränkt die Arme,
lehnt sich ein bisschen zurück
und dann sagt er:
„So, Herr Langeneck, Sie wirken ja so sehr motiviert…“
Ich schlucke, atme durch.
Die Gedanken drehen sich in meinem Kopf:
Ist das jetzt was Gutes oder Schlechtes, motiviert zu sein? Ich dachte immer, schon etwas Gutes.
Aber so wie er es gesagt hat, klingt das wie ein Problem.
Und dann rotiere ich, erkläre, dass ich mich natürlich auch zurücknehmen kann und gern zuhöre.
Aber ja, natürlich weiß ich, dass ich eher extrovertiert bin und und und.
Was man dann alles so sagt in solchen anstrengenden Situationen.

Vielleicht waren Sie auch schon einmal in so einem Bewerbungsgespräch oder Sie saßen auf der Seite derjenigen, die aussuchen mussten.
Das Assessmentcenter von IBM vor vielen Jahren ist mir jedenfalls eindrücklich in Erinnerung geblieben.
Wie verkauft man sich dort?
Welche Seiten zeigt man von sich?
Was gibt man preis?
Gar nicht so einfach.

Mittlerweile finden sich alle möglichen Ratgeber für solche Gespräche und vor allem auch für diese „Fangfragen“ danach, wie selbstkritisch die Bewerber sind.
Aus einer selbsternannten „Karrierebibel“ habe ich gelernt: Es gibt drei absolute No Go-Antworten gibt auf die Frage „Welche Schwächen haben Sie?“
Diese schlechten Antworten sind:
„Ich bin ein Perfektionist.“
„Ich arbeite zu viel.“
Und „Ich habe keine Schwächen.“

Vielleicht nicht ganz so plump, aber doch in der Art probieren es viele mit ihren Antworten.
Studien zufolge versuchen die meisten Menschen, in solchen Situationen Dinge zu finden, die nach Schwäche klingen, aber doch letztlich als Stärke ankommen sollen.

Wenn ich sage „Ich bin ungeduldig“, zeigt das doch eigentlich, dass ich immer schnell zum Ergebnis kommen möchte…

Wir machen es uns heute nicht leicht, Schwächen einzugestehen.
Uns selbst nicht.
Und erst recht nicht vor anderen.
Stark zu sein, das ist erstrebenswert.
Leistungsstark sollen Kinder in der Schule und soll unsere Gesellschaft als Ganze sein.
Und natürlich im Job.
Selbst in Krankheit, Alter oder im Sterben.

Stark im Ausdruck ist besser als schwach.
Starke Auftritte lieben wir.
Wir feiern sportliche Erfolge.
Wir wollen Essen, das uns stark und nicht dick macht.

Stark sind die Helden unserer Jugend:
Pippi Langstrumpf, Colt Seavers, Lassie und Flipper.

Sich stark zu fühlen bedeutet für die meisten Menschen auch, sich glücklich zu fühlen.
Darum sagt man ja Sätze wie: „Ich könnte Bäume ausreißen.

Paulus: Schwache Stärke – starke Schwäche

Wollen wir ernsthaft über Schwächen reden?
Sie sind doch eigentlich dazu da, um überwunden und beseitigt zu werden.
Und um die Schwäche in Stärke zu verwandeln.

Paulus, der Apostel, will drüber reden.
Ausführlich.
Sogar über seine eigene Schwäche.
Vermutlich hat er sich ein bisschen gefühlt wie in heutigen Bewerbungsverfahren.

Die Gemeinde in Korinth hatte wohl Zweifel an seiner Tauglichkeit für den Job als Apostel.
Er sollte Gemeinden aufbauen.
Das war ihre Erwartung.
Er sollte ihnen Kraft und Stütze sein, sollte sie mitreißen und als großartiges Vorbild taugen.
Das wünschten sie sich.
Und dann kam Paulus, von dem an anderer Stelle erzählt wird, dass bei einer seiner Predigten ein junger Mann sogar vor Langeweile eingeschlafen und aus dem Fenster gefallen ist.
Starke, mitreißende Auftritte sehen anders aus.

Paulus nimmt sich das sehr zu Herzen und schreibt der Gemeinde in Korinth.
Einen „Tränenbrief“ nennen wir diese Kapitel heute.
Ja, vermutlich hat er geweint, über all die Anfeindungen. Denn so ein richtig harter, starker Kerl war Paulus eben nicht.
Darum geht es ja…

Doch zunächst hält Paulus der Gemeinde das entgegen, was sie vielleicht hören möchte:
„Wenn es darum geht, sich zu loben, wie man es für gewöhnlich tut, dann kann ich das problemlos.“
Paulus legt der Gemeinde eine lange Erfolgsliste vor:
„Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten…“, als so manch anderer.
Seine Leistungen zählt er auf.
Er erzählt von gefährlichen Reisen, von Bedrohungen, von den vielen Mühen mit den Gemeinden, von Hunger und Durst, Todesnöten und und und.
Alles, wirklich alles hat er heldenhaft gemeistert.
Und das waren nur die ganz praktischen, sichtbaren Dinge.

Von seiner besonderen Beziehung zu Gott hat er bislang noch gar nicht gesprochen.
Auch das tut er.
„Ich kenne einen Menschen“ sagt er, und doch wird schnell deutlich: Damit meint er sich selbst.
Er spricht von sich, wie von einer anderen Person, auf die er von außen schaut – fast selbst noch etwas erstaunt von den außergewöhnlichen Erlebnissen:
Wir lesen im 2. Brief an die Korinther

Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. 
Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen?
Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht;
Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.
Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –,  der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. (2. Kor. 12,1-4)

Luther Bibel 2027

Eigentlich ist Paulus also der absolute Vorzeigeapostel, ein Held.
Praktisch veranlagt und zugleich Gott ganz nah durch diese besonderen Visionen, entrückt bis ins Paradies.

Gerade als die Gemeinde in Korinth zu Applaus über diesen heldenhaften Apostel anheben möchte.
Fährt Paulus in ganz anderem Ton fort:

Für denselben (Gott) will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 
Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen.
Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.
Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche.
Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.
Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.  Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark. (2. Kor. 12,5-10)

Luther Bibel 2017

Damit überrascht Paulus die Gemeinde.
Manche sind wohl enttäuscht.
Mit all diesen großartigen Offenbarungen und Fähigkeiten kann er angeben.
Könnte er angeben.
Will er aber nicht.

Paulus will, wenn, dann nur mit seiner Schwäche angeben.
Mit der Schwäche, die sie alle schon von ihm kennen:
Kein überzeugender Redner.
Keine imposante Statur, eher schwächlich.
Von einem schmerzhaften „Pfahl im Fleisch“ erzählt er der Gemeinde. Heutige Ärzte würden vielleicht eine chronische Krankheit diagnostizieren.
Paulus deutet dieses körperliche Leiden als den starken linken Haken von Gottes Engel, als eine Art Denkzettel, damit er ja nicht überheblich wird.
Dass er sich immer wieder an seine eigene Schwachheit erinnert.

„Genau das sind die wirklich wichtigen Momente meines Apostelamts, wenn meine Schwachheit aufleuchtet.
Schaut auf diese starke Schwachheit, nicht auf meine Erfolge.“
„Denn,“ so begründet Paulus es: „denn in meiner Schwäche zeigt sich, dass Gott nah und am Werk ist.“
Das ist die wohl wichtigste Botschaft, die Paulus der Gemeinde von Gott mitteilen will.
Jage nicht nach Lob und Ruhm.
„Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“

Schwäche erleben

Viele Jahre hieß es in der Lutherbibel: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.
Wie wenn wir eingeteilt wären in „die Schwachen“ und „die Starken“.
Doch gerade so ist es ja eben nicht.
Das hat Paulus schon sehr gut beschrieben:
Ich kenne starke und schwache Seiten an mir selbst.
Ich weiß um die Zeiten, in denen ich Bäume ausreißen kann, und jene, in denen ich kraftlos in ihrem Schatten sitze.
Die neue Lutherbibel hat an dieser Stelle nun genauer und damit auch treffender übersetzt: „Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“

Ist das so wie in den Tellerwäscher-Geschichten?
Zuerst arbeiten sie als letztes Glied der Restaurant-Hierarchie in der Küche und schrubben Teller.
Am Ende stehen sie als erfolgreiche Restaurant-Chefs da. Wer die harten Zeiten aushält, wird am Ende belohnt. Zuerst am Boden, dann wie Phönix aus der Asche erstanden.
Diejenigen, die schwach sind, werden am Ende doch die Starken sein, weil Gott mit ihnen ist.
Möchte das Paulus der Gemeinde mitteilen?

Manchmal empfinden Menschen das so:
Im Rückblick.
Wenn sie aus Durststrecken im Leben stark hervorgegangen sind.

Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.
Krankheiten, Trennungen, Verluste, Mobbing.
Solche Erfahrungen der eigenen Schwäche erinnere ich mein Leben lang.
Wie eine Narbe trage ich diese Erfahrungen im Herzen und zugleich wird die Narbe zur inneren Trophäe: Das habe ich gemeistert!  

Es ist ja letztlich auch solch eine Geschichte, die uns Christinnen und Christen trägt:
Jesus, der erst so erfolgreich durch die Lande zog, Wunder tat, predigte und heilte, der hängt dann schwach und wimmernd am Kreuz.
Gott ist mit seiner Kraft am Ende.
„Erzählen Sie uns von Ihren Stärken.“ „Ich habe keine Stärken…“
Nichts mehr zu sehen und zu hören von der großen Macht, nur ein wimmernder, nackter Jesus, der einfach stirbt wie alle andern.
Aber dann eben – der noch viel größere Machterweis:
Als alle Gottes Sohn am Boden wissen,
besiegt vom Tod,
da ersteht Jesus auf.
Die Schwäche ist überwunden.
Vor dem dunklen Hintergrund der Kreuzigung erstrahlt das Licht des Ostermorgens noch viel heller.

Wer will von Schwäche reden?
Wir wollen das schon manchmal tun.
Als Christinnen und Christen.
Denn wir lieben diese Auferstehungsgeschichte unseres Glaubens.
Und wir lieben es, wenn wir ähnliche Geschichten in unserem Leben am Werk sehen.
Dann, wenn wir von Schwäche eben in der Vergangenheitsform erzählen können.
Wenn wir von den Erfolgsgeschichten berichten, die in der düsteren Schwäche beginnen und aus denen dann doch auf die eine oder andere Art strahlende und glückliche Sieger hervorgehen.

Nur ist die Geschichte so nicht zu Ende erzählt.
Nicht für jene Menschen, die ihre Schwächen am Ende nicht in Stärke verwandelt zur Schau stellen können.
Die Tellerwäscher bleiben.
Die beim Bewerbungsgespräch aussortiert werden.
Die ihre Krankheit nicht besiegen.

Manchmal bleibt die Schwäche schwach.
Menschen erleben, dass sie immer schwächer und schwächer werden.
Der alte Herr im Pflegeheim etwa.
Nein, auch er ist gewiss kein „Schwacher“.
Sein Geist ist stark, immer noch so wach.
Aber sein Körper – der wird seit vielen Jahren weniger und weniger.
Schwächer von Tag zu Tag.
Ihm gefällt das nicht.
Er kann sich damit nicht anfreunden.
Seine früheren anpackenden starken Hände gefielen ihm besser.
Nein, „stärker“ ist er durch all das nicht geworden, auch nicht im Geist.
Der hadert eher mit diesem Zustand.
Dass sich an diesem Körper, der ihm selbst so schwach und elend scheint, in irgendeiner Weise Gottes Kraft zeigen, gar vollenden solle – mit diesem Gedanken brauche ich diesem Mann nicht zu kommen.

Die Schwachheit lässt sich eben nicht glorifizieren.
Es gibt keinen göttlichen Tellerwäscher-Mechanismus, der alle Schwächen in dieser Welt einfach umkehrt oder in geistige Stärke verwandelt.
So fühlt es sich für viele Menschen nun einmal gerade nicht an.
Auch für Paulus nicht, der seine Schwachheit nicht loswird. Der Pfahl im Fleisch bleibt ihm.
Auch ist er ist auch nie zum mitreißenden Redner geworden.
Was bedeuten ihm dann diese Sätze: „Lass dir an meiner Gnade genügen. Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“?
Gott wirkt in mir, so wie ich bin.
So empfindet Paulus das.

Gott sucht sich keine perfekten Sprachrohre für seine guten Nachrichten:
Lass dir an meiner Gnade genügen.
Mach dir keine Sorgen.
Für mich reicht das.

Die Welt und Du selbst, ihr könnt denken, was ihr wollt. Erzählt Heldengeschichten.
Rühmt euch Eurer Erfolge.
Schon okay, aber Gott geht es um anderes.
Gottes Kraft sucht sich ihre Wege und ihre Menschen.
In dieser Welt und hat Gottes Kraft anderes vor, als einfach alle in kraftstrotzende Sieger zu verwandeln.

Vermutlich stimmt es schon:
Wenn ich meine Schwächen erlebe.
Wenn ich dünnhäutig und verletzlich bin kann ich Gott in meinem Leben viel Raum geben.
Will ich dann auch.
Und es stimmt vermutlich, dass Gott durch diese Einfallstore auf besondere Weise in unser Leben eingehen kann.

Aber worin besteht die Kraft?
Wie vollendet sie sich?
Spüren wir davon einfach nichts, oder erst in der Ewigkeit?

Paulus entdeckt Gottes Kraft darin, dass Menschen von seinem Tun und seiner Botschaft angezogen werden.
Trotz seiner Schwachheit, seiner Fehler.

Wo Menschen anfangen, loszulassen von den Heldengeschichten.
Wo sie sich eingestehen, dass es nicht „die Starken“ und „die Schwachen“ gibt, mit klarer Rollenverteilung und geschlossenen Schubladen.
Wo man sich gemeinsam über die Trophäen freeut, aber auch einfach mal wieder die Narben beweinen kann.

Wer will schon über Schwächen reden?
Wie ist es mit Ihnen?
Paulus macht es uns vor, dass uns nicht nur unsere Stärken überzeugend machen.
Oft sind es gerade unsere schwachen Seiten, mehr als wir selbst empfinden.

Übrigens gilt das sogar für Bewerbungsgespräche.
Die starken Helden, die nicht über Schwächen sprechen wollen, bekommen Studien zufolge, die Jobs gerade nicht. Sondern diejenigen, die von ihren Schwächen so ehrlich erzählen können wie von ihren Stärken.
So ähnlich wie Paulus vor der Gemeinde in Korinth also. Und von seinen schwachen Stärken und starken Schwächen erzählen wir ja sogar noch heute.

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