Schlagwort: Sommerpredigt

  • Ich seh was, was du nicht siehst

    Sommerpredigt 2024 über Psalm 84:

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“
    Das kennen wir aus unserer Kindheit.
    Wir als Kinder haben es auf langen Autofahrten mit unseren Eltern gespielt.
    Und als Vater habe ich es oft mit meinen Kindern – auf langen Autofahrten – gespielt.
    „Ich seh was, was du nicht siehst!“

    Doch wenn aus „Ich seh was, was du nicht siehtst!“
    ein „Ich such was und finde es nicht!“ wird.
    Dann wird es manchmal zum Verzweifeln.
    Dann ist das Spiel nicht mehr lustig, sondern blöd.

    So geht es mir oft mit Gott.
    Gut dass es da die Psalmen gibt.
    Trauer, Zweifel, Freude, Angst, Dankbarkeit, Streit.
    Das können wir dort finden.
    Dort können wir fündig werden.

    Da kann aus einem „Ich such was und finde es nicht“,
    ein „Ich seh was!“ werden.

    Psalm 84

    Psalm 84 (EG W 734)

    Wohl denen, die in deinem Hause wohnen

    Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth!

    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn;

    mein Leib und Seele freuen sich

    in dem lebendigen Gott.

    Der Vogel hat ein Haus gefunden

    und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen –

    deine Altäre, Herr Zebaoth,

    mein König und mein Gott.

    Wohl denen, die in deinem Hause wohnen;

    die loben dich immerdar.

    Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten

    und von Herzen dir nachwandeln!

    Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund,

    und Frühregen hüllt es in Segen.

    Sie gehen von einer Kraft zur andern

    und schauen den wahren Gott in Zion.

    Herr, Gott Zebaoth, höre mein Gebet;

    vernimm es, Gott Jakobs!

    Gott, unser Schild, schaue doch;

    sieh doch an das Antlitz deines Gesalbten!

    Denn ein Tag in deinen Vorhöfen

    ist besser als sonst tausend.

    Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause

    als wohnen in der Gottlosen Hütten.

    Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild;

    der Herr gibt Gnade und Ehre.

    Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.

    Herr Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!

    Psalm 84,2-13

    Wie lieblich sind deine Wohnungen.
    Wie sehnt sich einer danach.
    Wie möchte einer dort sein.
    Wie möchte einer dort sein, wo Gott ist.

    So viel Verlangen und so viel Sehnsucht:
    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach so viel.
    Meine Seele verlangt und sehnt sich, dass Menschen geliebt werden.
    Dass Menschen sich gegenseitig lieben.

    Meine Seele verlangt nach Friede in der Welt.
    Unter den Menschen. Mit der Natur. Mit der Erde. Nach Shalom.

    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach dem Genug.
    Meine Seele verlangt danach, dass einer sagt: „Es wird alles gut“.
    Meine Seele sehnt sich nach Ruhe und nach Zuversicht, nach Hoffnung und nach Stärke.
    Und wenn der Alltag um mich herum tobt, verlangt und sehnt sie sich nach Kraft.

    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Sie träumt sich fort an einen Ort:

    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach der Nähe Gottes.
    Nah an dem Ort zu sein, wo er ist.
    Wo er wohnt (wie man sagt),
    Nach den Vorhöfen des Herrn.
    Dahin, wo alles gut ist.
    Wo es keine Sehnsucht mehr gibt.
    Wo andere sind:
    Der Vogel, die Schwalbe,
    mein Leib und meine Seele.
    Wo ich bin. Weil er ist.
    Wo es Raum gibt für uns.

    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Vogel und Schwalbe sind schon längst da.
    Wir fliegen hinterher:
    „Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus,
    Flog durch die stillen Lande,
    Als flöge sie nach Haus.“ (Eichendorff)

    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar.

    Stell dir mal vor:
    Du gehst durch dürres Land.
    Über gerissene Erde. Ein ausgetrocknetes Bachbett.
    Es ist heiß.
    Die Hitze glüht.
    Durst auf deiner Zunge.
    Schweiß am ganzen Körper.
    Vertrocknete Blätter an den Bäumen.
    Verbrannte Gräser und Sehnsucht.

    Sehnsucht nach dem, was einmal war.
    Sehnsucht nach dem, was sein könnte.
    Und Erschöpfung, weil es so nicht ist.
    Traurigkeit über das, was verloren.
    Schon so lang oder noch ganz frisch.

    Dein Herz manchmal wie ausgetrocknet.
    Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln!
    Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund:
    Hörst du es auch?

    Dort, ganz leise, ein Gluckern.
    Ein Plätschern und ein Singen.
    Du gehst ihm nach.
    Immer weiter.
    Bis du an die Quelle kommst.

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“

    Noch ist sie ganz klein – die Quelle.
    Du hast sie gehört.
    Und nun siehst du:
    Sie bahnt sich ihren Weg.
    Sie wird das Leben bringen.
    Wird Fülle bringen, die du so lange vermisst hast.
    Mit ihrer kleinen Kraft.
    Mit ihrer Lebenskraft.

    Es ist Nacht geworden.
    Und dann wieder Tag.
    Über Nacht ist Erlösung gekommen:
    Und Frühregen hüllt es in Segen.

    Sie gehen von einer Kraft zur anderen und schauen den wahren Gott in Zion.

    Mit Schwung gehst du weiter.
    Wie damals, als du als Kind von einem Stein zum anderen gehüpft bist.
    Leicht in die Knie, Schwung, Absprung, los, gelandet.

    Und wieder:
    Leicht in die Knie, Schwung, Absprung, los, gelandet.

    Von einem Stein zum anderen.
    Und immer weiter. Immer weiter.
    Von einer Kraft zur anderen.
    Du hast ein Ziel.
    Ganz am Ende deines Wegs.
    Ganz am Ende deiner Reise.
    Das treibt dich an.
    Der letzte Stein, und dann:
    Der Arm des Vaters, das Jubeln der Mutter.
    Hurra, hurra, mein Kind, geschafft!

    Zu schauen den wahren Gott in Zion.
    Wohl dir, du Seele.
    Er wird’s wohl machen.

    Gutes dir:
    Träume, die sich erfüllen.
    Dann und wann.

    Liebe, die leben darf.
    Ein Gegenüber.
    Vielleicht du selbst.
    Oder der Liebste.
    Das Kind und das Kindeskind.
    Die Nachbarin.
    Eine Umarmung.
    Ein Händedruck.
    Ein Lächeln im Gesicht.
    Sonne, die dir scheint.
    Gerade recht.
    Du legst dich hinein.
    Ganz warm auf deiner Haut.
    Sie lässt das Getreide auf den Feldern wachsen und macht die Erdbeeren süß und die Äpfel sind schon reif.

    Wasser, das dir fließt.
    Nicht zu viel, nicht zu wenig.
    Kühl rinnt es durch deine Finger.
    Ein Schluck, der belebt.
    Kein Durst und keine Not.
    Und ein Stück Brot für jeden Tag.
    So ziehen wir dahin.
    In ein Zuhause.
    Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend.
    Schutz.
    Schild.
    Für deine Seele und für dich.
    Wo du sein kannst, wie du bist.
    Und ich auch.

    Zuhause sein.
    Ankommen.
    Last fällt ab.
    Da willst du bleiben.
    Und ich auch.
    Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
    Segen dir.
    Er wird’s wohl machen.
    12 Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; /
    der Herr gibt Gnade und Ehre.
    Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.
    13 Herr Zebaoth,
    wohl dem Menschen,
    der sich auf dich verlässt!
    Gott hört dein Gebet.
    Er vernimmt es, der Gott Jakobs.
    So flüstern sie uns zu, die Psalmen.

    Die uralten Worte.
    Jahrhunderte sind vergangen.
    Und Jahrhunderte sind in ihnen verborgen.
    Worte sind aufgestiegen wie Rauchopfer von den Altären.
    Schwalben haben gebrütet und Nester sind verschwunden.
    Zerstört und wieder errichtet.
    Jahrhunderte sind vergangen.
    Die Psalmen:
    Fremd und fern.
    Und seltsam nah:
    Ruth hat sie gebetet und Isaak.
    Nathanael und Rebekka.
    Später haben sie geliehen: Hildegard und Martin.
    Du und ich.
    Und unsere Kinder.
    Jedes Jahr wieder.

    Psalm 84, im Gesangbuch die Nr. 734.
    Wir beten mit.
    Beten mit den Gebeten Israels.
    Teilen die Sehnsucht und die Hoffnung.
    Die Freude und die Gnade.
    Wir sind auf dem Weg.
    Pilgernde bis in die Ewigkeit.
    Hoffen mit auf den lebendigen Gott.
    Hoffen, dass wir teilhaben am Segen:
    Herr Zebaoth,
    wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt.

    Ein „Ich seh, was, was du nicht siehst!“
    Amen

  • Gott ist anders!

    Predigt zu Matthäus 25, 14-30 im Zuge der Nürtinger Sommerpredigtreihe „Ich seh was, was du nicht siehst“

    Als ich das Motto der Sommerpredigtreihe „Ich seh was, was du nicht siehst“ hörte, musste ich sofort an das Gleichnis von den Talenten aus dem Matthäusevangelium denken.
    Das ist ein Gleichnis, das mich schon lange beschäftigt und sich dadurch für mich gewandelt hat.
    Ich seh es jetzt mit anderen Augen.
    Ich seh etwas, was ich vorher nicht gesehen habe.

    Hören wir uns den Text aus der Lutherbibel, Mathäus 25, 14-30 an.

    Ein reicher Mann hat drei Sklaven. Dieser Reiche gibt, vor seiner Abreise, drei seiner Knechte Geld. Sie sollen es während seiner Abwesenheit verwalten.
    Bei seiner Rückkehr fordert er von den Knechten sein Geld zurück.
    Knecht eins und zwei haben sein Geld verdoppelt.
    Knecht drei hat nicht damit gearbeitet.
    Deshalb wird der dritte Knecht bestraft und die zwei anderen belohnt.

    Meist wird dieses Gleichnis so gepredigt:
    Gott schenkt den Menschen unterschiedliche Talente.
    Diese müssen wir Christen einsetzen, um die Welt besser zu machen.
    Auch ich habe das Gleichnis schon so ausgelegt.

    Soweit kein Problem.

    Aber diese Stelle!
    Als der Reiche das Geld von dem dritten Knecht entgegen nimmt, sagt der Reiche:
    „Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern.“

    Das hat doch nichts mit einem gütigen, barmherzigen Gott zu tun.
    Das kann doch Jesus nicht so gemeint haben.
    Jesus, der mit den Sündern an einem Tisch saß und sagte: „Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut,
    mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lukas 15, 7)
    Darum lassen sie mich die Geschichte anders erzählen:

    Ein Superreicher sucht zuverlässige Verwalter für sein Geldvermögen.
    So gibt er drei Sklaven jeweils eine große Summe Geld, bevor er außer Landes geht: fünf Talente, zwei Talente, ein Talent.

    Talent – heute verstehen wir darunter eine besondere Fähigkeit, eine Begabung.
    In der Antike war es eine Gewichtseinheit, mit der Geld gemessen wurde.
    Ein Talent entsprach 60 Minen.
    Eine Mine entsprach 100 Drachmen oder römische Denare.
    Die fünf Talente, die der erste Sklave erhält, sind also 30 000 Denare.

    Es geht also um 48.000 Denare.
    Das ist eine kaum vorstellbare Summe für diejenigen, die das Gleichnis hören.
    Im Vergleich dazu:
    Ein Tagelöhner in der Landwirtschaft verdiente einen Denar pro Tag.
    So wird es im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erzählt. 1
    Das konnte im Leben nicht erarbeitet werden.

    Es geht also um große Geschäfte. Doch für den Besitzer sind die Talente nur „Peanuts“. Bei seiner Rückkehr sagt er, dass er die Sklaven nur „im Kleinen“ testen wollte.2 
    Die Erfolgreichen belohnt er nun mit den wirklich großen Aufgaben.

    Erfolgreich heißt in diesem Fall: Der erste Sklave hat weitere 30 000 Denare erwirtschaftet, der zweite 12000.
    Der dritte allerdings hat sich der Aufgabe verweigert und das ihm anvertraute Geld einfach vergraben.

    Als der Herr den Sklaven zur Abrechnung ruft und nur genau die Summe zurückerhält, die er ihm anfangs gegeben hat, wird er zornig und macht ihm Vorwürfe: Er hätte das Geld doch zur Bank bringen können, dann hätte er zumindest Zinsen erhalten. Der Sklave wird zur Strafe für seine Weigerung, den Besitz des Reichen zu vermehren, in den Folterkeller geworfen, wo ihn „Heulen und Zähneklappern“ erwarten.3

    Das Gleichnis wirft ein Licht auf die Finanzwirtschaft zur Zeit des Neuen Testaments.
    Es geht um viel Geld.
    Die beiden Sklaven haben zusammen 42 000 Denare Gewinn erwirtschaftet.
    Solche Summen können durch Arbeit in der Landwirtschaft oder in kleinen Handwerksbetrieben nicht erarbeitet werden.
    Sie können, wie heute, nur in der Finanzwirtschaft zustande kommen.
    In diesem Fall vermutlich durch Steuer- und Pachteintreibungen, verbunden mit einer gnadenlosen Ausbeutung der Bevölkerung.

    Im ersten Jahrhundert nahm die Land- und Besitzkonzentration in den Händen weniger reicher Großgrundbesitzer enorm zu – und ebenso Armut, Versklavung und Arbeitsmigration.4
    Urkunden und andere literarische Zeugnisse aus römischer Zeit zeigen, dass in Judäa die Verschuldung weite Bevölkerungsgruppen betraf.
    90 % der Menschen gehörten zur Unterschicht, die meisten davon waren sehr arm, viele lebten sogar unterhalb der Grenze des Existenzminimums.

    Wenn die Ernte schlecht ausfiel, musste das Geld für das neue Saatgut geliehen werden. Allerdings oft gegen horrende Zinsen, die bis zu 60 % im Jahr betrugen.
    So war es oft nicht möglich die Darlehen zurückzuzahlen.
    Verkauf von Land und Vieh oder sogar Familienangehörige in die Schuldsklaverei waren die Folge.

    Von der Gewalt der Schuldeneintreibung zeugen vielfältige Quellen.
    Wenn sich die Verschuldeten durch Flucht entzogen, wurde das nähere Umfeld, die Familie oder Dorfgemeinschaft in Haftung genommen, bis das Geld gezahlt wurde.

    Auch die Eintreiber selbst waren oft Sklaven.
    Im römischen Finanzwesen waren an vielen wichtigen Stellen Sklaven eingesetzt, auch in der Verwaltung ganzer Städte.
    Das war praktisch für diejenigen, die das Geld besaßen:
    Die Sklaven waren abhängig und konnten gefoltert werden, wenn sie versagten.
    Und:
    Nur in begrenztem Maße konnten sie in die eigene Tasche wirtschaften, denn sie selbst waren auch Besitz, gewissermaßen Produktionsmittel für ihre Herrschaften.

    Als Ausgangspunkt für den ersten jüdischen Aufstand gegen Rom nennt der jüdische Historiker Flavius Josephus die Verbrennung von Schuldverschreibungen im Jahr 66 n. Chr.5
    Die Menschen waren verzweifelt angesichts der sie erdrückenden Schuldenlast und wehrten sich gegen die römische Besatzung. Der Krieg dauerte über vier Jahre und kostete Tausende von Menschenleben. Er verschärfte die wirtschaftliche Situation weiter.
    In der Nachkriegszeit, in der die Evangelien aufgeschrieben wurden, litten die Menschen unter großer Not, Hunger und daraus resultierenden Krankheiten.
    Das Matthäusevangelium ist vermutlich in Antiochia in der römischen Provinz Syrien aufgeschrieben worden.
    Hier lebten die Jesus-Nachfolgenden in den Elendsvierteln der Großstadt.
    Sie beobachten sehr kritisch, welche Macht das Geld hat und wie es Menschen in seinen Bann zieht. „Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon, dem Geld“ heißt es in Kapitel 6.6
    Sie wissen genau, wie das Geld erwirtschaftet wird, das die erfolgreichen Sklaven ihrem Herrn geben.

    Diejenigen, die das kritisieren, stehen auf der Seite des dritten Sklaven.
    Er begründet seine Weigerung, das Geld zu vermehren so: „Du bist ein harter Mensch, der erntet, wo er nicht gesät hat und einsammelt, wo er nicht ausgeteilt hat.“ (V.24)
    Er sagt die Wahrheit klar heraus und weigert sich bei der Ausbeutung der armen Bevölkerung mitzumachen.
    Er ist der Held der Geschichte, der sein mutiges Handeln mit seinem Leben oder zumindest mit seiner Gesundheit bezahlt.7

    Nach der Gleichnis-Theorie von Luise Schottroff steht das Wichtigste manchmal nicht im Text, nämlich: Die Antwort der Hörenden.

    Luise Schottroff versteht diese Aufforderung an die Hörenden, das Erzählte mit dem Reich Gottes zu vergleichen, als zentrales Element des Gleichnisses. Sie sollen im Anschluss selbst aktiv werden und über das Gehörte sprechen:
    „Gleichnisse“, so Luise Schottroff, „wollen auf eine Antwort hinaus, sie wollen die Hörenden dazu anleiten, über Gottes Handeln in der Geschichte und Gegenwart nachzudenken und sich in eine Beziehung zu Gott zu setzen.
    Deshalb gehören die Wendungen, die zum Vergleichen auffordern, zwingend zum Gleichnis.

    Wie würde ich mich verhalten?
    Ist es klug, das Geld zu vergraben?

    Der dritte Sklave handelt gemäß biblischer Ethik, er verweigert sich einem System, das von Menschen Zinsen fordert. Für den Talmud ist das Vergraben die beste Lösung, um zur Verwahrung gegebenes Geld zu sichern.8

    Aber auch das schützt den dritten Sklaven nicht.
    War es richtig sein Leben zu riskieren?
    Hätte er das Geld nicht wenigstens zur Bank bringen können?
    Und: Hätte ihn das gerettet?

    Er sagt die Wahrheit: „Du bist ein harter Mensch, der erntet, wo er nicht gesät hat und einsammelt, wo er nicht ausgeteilt hat“.
    Dafür wird er in den Folterkeller geworfen.

    Die beiden anderen Geldverwalter sind auch Sklaven, sie werden zu Mittätern in einem System, das sie entmenschlicht und bereichern sich an denjenigen, die in einer ganz ähnlichen Situation sind.

    Was bringt sie dazu: Angst, Habgier?
    Sind sie loyal zu ihrem Herrn, weil sie den Wunsch haben aufzusteigen, sich mit dem erwirtschafteten Geld freikaufen zu können?

    Woher kommt der Mut des dritten Sklaven, anders zu handeln?

    Das Gleichnis lässt vieles offen, auch die Bewertung seines Verhaltens.
    Er löst das System nicht auf, langfristig wird ein anderer an seine Stelle treten.
    Doch sein Verhalten zeigt, dass eine Unterbrechung der Gewalt möglich ist, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
    Er hat niemandem Geld abgepresst, niemanden in Schuldhaft genommen.

    Zu überlegen, wie Gerechtigkeit konkret in ihrem Alltag verwirklicht werden kann, ist die Aufgabe der zuhörenden Gemeinschaft.

    Wir haben nicht mit solchen immens großen Geldsummen zu tun, doch strukturell stehen wir oft vor derselben Frage:
    Wo mache ich mit – und wo verweigere ich die geforderte Loyalität? Welchen Preis wäre ich bereit dafür zu zahlen?
    Wie verhalte ich mich gegenüber einem Finanzsystem, das von globaler Ungerechtigkeit profitiert?

    Habe ich die Standhaftigkeit, mich nicht daran zu beteiligen und nach Alternativen zu suchen?
    Wenn ich Aktien besitze, frage ich danach, woher der Profit stammt, der die Finanzwirtschaft mit Gewinnen bereichert, die höher sind als bankübliche Zinsen?

    Ich frage mich oft, was mich davon abhält, auf meine eigenen Verstrickungen zu schauen und mir klar zu machen, dass auch ich zu den Menschen gehöre, „die ernten, wo sie nicht gesät haben“, wenn ich gedankenlos andere mit dem Geld auf meinem Sparkonto arbeiten lasse.

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“
    Biblische Texte sprechen eine klare Sprache, wenn es um Ökonomie geht und prangern das Unrecht an den Verarmten an.
    Das Matthäus-Evangelium, aus dem das Talente-Gleichnis stammt, warnt an vielen Stellen vor einer Vergöttlichung des Geldes:
    Wo Dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.9
    Es verurteilt ungerecht angehäuften Reichtum und stellt sich parteilich auf die Seite der Armen.
    Es fordert auf, hinzuschauen, die alltägliche Gewalt wahrzunehmen – und immer auch nach der eigenen Beteiligung zu fragen.

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“

    Amen

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    1. Mt 20, 1-16 ↩︎
    2. Vgl. Mt 25,21.23. ↩︎
    3. Vgl. Mt 25,30. ↩︎
    4. Einen guten Überblick über Landbesitz in Judäa in römischer Zeit bietet der Artikel von Willy Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9). Ein Beitrag zur Geschichte der Bodenpacht in Palästina, in: ders. Gerechtigkeit lernen.
      Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte, F. Crüsemann/ R. Kessler (Hg.), Gütersloh 1999, 165-204.3 ↩︎
    5. Josephus, Bell. Jud. II, 426f. ↩︎
    6. Mt 6,24 ↩︎
    7. Vgl. Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh (2005), 2. Aufl. 2007, 290-294, vgl. auch 239-246. Zur Auslegung des Gleichnisses vgl. auch Marlene Crüsemann, Wahre Herrschaft: Das Gleichnis von den Talenten und das Gericht Gottes über die Völker – Matthäus 25,14-46, in: Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen, Marlene Crüsemann /Claudia Janssen / Ulrike Metternich (Hg.), 2014, 56-69. ↩︎
    8. Zum biblischen Zinsverbot vgl. Rainer Kessler, Artikel: Zins/Zinsverbot, in: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (2009), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35406/ ↩︎
    9. Mt 6,21.7 ↩︎