Schlagwort: Predigt

  • Klagen erlaubt

    Klagen erlaubt

    Predigt über Klagelieder 3,22‑32

    Manche Christen denken, sie dürfen nicht klagen.
    Außer über die Schlechtigkeit der gottlosen Welt.

    Sie meinen, ein Christ muss immer fröhlich sein.
    Das ist ein Irrtum, wenn auch weit ver­breitet.

    Wir Kinder Gottes dürfen durchaus klagen.
    Selbst ein ganzes Buch der Bibel steht unter der Überschrift „Klagelieder“:
    Es sind Klagegebete des Propheten Jeremia, der in seinem Leben unheimlich viel Leid erleben musste.

    Unser Predigttext ist ein Stück aus so einem Klagelied.
    Auch viele Psalmen sind Klagelieder.
    Christen dürfen also klagen – voraus­gesetzt, sie haben Grund dazu.
    Und sie wenden sich mit ihrem Klagen an die richtige Adresse.

    Unter Klagen verstehe ich nicht das das alltägliche Gejammere, das oft zu einer schlechten Angewohnheit geworden ist.
    Da wird geklagt, wenn im Supermarkt die Schlange an der Kasse zu lang ist.
    Da wird geklagt, wenn das Essen nicht schmeckt.
    Da wird geklagt, wenn das Geld nicht reicht, sich alles alles leisten zu können, was gerade in den Sinn kommt.
    Da wird geklagt, dass sich jemand ungerecht behandelt fühlt.

    Ja, in Deutschland hören wir einen nicht enden wollenden Chor von Klage­liedern, obwohl wir doch mit unserem Lebensstandard weitaus mehr Grund zum Loben und Danken haben als zum Klagen.

    Aber wer wirklich Grund zum Klagen hat, der darf auch klagen.
    Besonders dann, wenn sein normales bisheriges Leben zerstört wird.
    Wenn sich seine Träume und Hoffnungen zer­schlagen.
    Wenn kaputt geht, was er sich mühevoll aufgebaut hat.

    Die Familie aus Arweiler darf klagen. Sie haben sich ein Haus gebaut, einen Garten anlegt und ein Auto zusammen­gespart.
    Und nun ist alles weg.
    Garten, Auto und Haus mit allem, was sich darin befand.
    Sie besitzen nur noch, was sie am Leibe getragen haben, als die Flut kam.

    Oder die Frau in ihrer Lebensmitte darf klagen, die plötzlich die Diagnose „Krebs“ erhält und hört, dass medizinisch keine Hoffnung besteht.
    Sie weiß, sie wird noch dringend gebraucht.
    Auch hatte sie noch so viele Pläne und Hoffnungen für ihr Leben, und nun muss sie damit rechnen, dass es in kurzer Zeit zu Ende geht.

    Der Geschäfts­mann darf klagen, der mühsam eine Existenz gegründet hat, der Kredite aus­handelte, der von früh bis spät hart arbeitete und nun durch Corona bankrott gegangen ist.

    Auch Jeremia durfte klagen und das Volk der Juden.
    Die Babylonier hatten die ganze Stadt Jerusalem verbrannt und vom heiligen Tempel war nur noch ein trostloser Trümmerhaufen übrig geblieben.
    Die Elite des Landes, Anführer, Handwerker, Adel, Geistliche sind in die Sklaverei nach Babylon geführt worden. Die Toten sind begraben.
    Nur das einfache Volk durfte, musste bleiben. Damit das Land bestellt werden kann.

    Dieses entsetzliche Geschehen der Babylonischen Gefangenschaft ist Gegenstand vieler Klage­psalmen in der Bibel und auch der Klagelieder Jeremias.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die Stadt zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn das Haus zerstört ist

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die Gesundheit zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die berufliche Existenz zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die menschliche Hoffnung zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn das irdische Lebensglück zerstört ist.

    Wer wirklich Grund dazu hat, darf klagen, voraus­gesetzt, er wendet sich an die richtige Adresse.

    Das wird oft ein lieber, verständnisvoller Mensch sein, bei dem das Herz ausgeschüttet werden kann.
    Vor allem aber ist es unser Vater im Himmel, denn wer hätte mehr Liebe und Verständnis als er?
    Deshalb sind die Klage­psalmen und Klagelieder der Bibel allesamt nach oben gerichtet, an Gottes Adresse.
    Ja, es tut gut, sich mit allem Jammer, aller Klage und allem, was das Herz bedrückt an Gott zu wenden.

    Verhängnisvoll wäre es, sich in so einer Lage von ihm abzuwenden, den Glauben aufgeben und sich von Gott im Stich gelassen fühlen.
    Wer sich mit seiner Klage an Gott wendet, der kann die Erfahrung machen, dass Gott ihn dann tröstet.

    Von diesem Trost handelt der Abschnitt aus Jeremias Klagelied, den wir als Predigttext gehört haben.

    Es ist kein ungewisser Trost, keine nebulöse Hoffnung.
    Es ist auch kein leeres Gerede.

    Gottes Trost ist verlässlich, klar und wunderbar.
    „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind.“
    Wir leben noch – dank der Güte Gottes.
    Und wir werden weiterleben, komme, was da wolle.

    Jesus ist gestorben, damit wir ewig leben können:
    Und dieses Versprechen Gottes gilt für uns alle, ohne Einschränkung.

    Gott mag uns viel Schweres zumuten, aber verstoßen will er uns nicht.

    Leben bedeutet, dass Gott bei uns bleibt und wir bei ihm.

    Gott garantiert uns nicht, dass sich von uns erwünschte Lebens­verhältnis­se einstellen.
    Auch nicht, dass ich Besitz und Gesundheit wieder in vollem Umfang zurück­erlange.

    Aber Gott garantiert uns, dass er zu uns hält. Dass er bei uns ist und er es immer gut mit uns meint.

    „Seine Barmherzig­keit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.“

    „Teil“ bedeutet „Erbteil“ oder „Besitz“:
    Wenn ich auch alles verliere, was Natur­katastro­phen, Wirtschafts­krisen oder Pandemien mir rauben können, Gott werde ich nicht verlieren.
    Gott kann ich nicht verlieren, er bleibt mein Teil.

    „Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“

    Wenn wir mit dieser Einstellung Gott unser Leid klagen und zugleich diesen Trost erfahren, dann stellt sich die Erkenntnis ein:

    „Der Herr verstößt nicht ewig.“

    Das verstehe ich so:
    Gott mutet uns nicht andauernd und in Ewigkeit leidvolle Erfahrungen zu.
    Es sind vielmehr vorübergehende Verluste, die zwar im Augenblick sehr weh tun aber kein endgültiger Untergang sind.

    Mit anderen Worten:
    Wer Gott sein Leid klagt, der schöpft wieder Hoffnung.
    Ohne Gott kann das Klagen zur Verzweiflung führen.
    Ohne Gott muss der Mensch annehmen, er wäre nur ein Staubkorn im Universum.
    Ein Staubkorn, das vom Zufall beliebig hin und her geweht wird und am Ende vergeht.

    Mit Gott aber kann mitten im Klagelied plötzlich ein Loblied aufkeimen – wie bei Jeremia:
    „Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“

    Das ist dann auch echt. Und es muss vom Leidtragenden kommen. Nicht von außen.
    Von Außenstehenden wirkt das wie ein falscher Kalenderspruch.

    Aber wenn diese Erkenntnis von innen kommt, dann hilft diese Erkenntnis dem Klagenden ihn zu trösten.
    Sie zeigt ihm, dass Gott ihn nicht verstoßen hat.
    Sie bewahrt ihn vor der Verzweiflung.

    Diese Hoffnung gibt ungeheuer viel Kraft, das Schwere zu tragen.
    Sie beflügelt den Menschen, ganz anders mit seiner Situation umzugehen und viel mehr Geduld zu haben, als wenn die Hoffnung nicht da wäre.

    Darum glaube ich, dass wir auch dann, wenn wir berechtigten Grund zur Klage haben, unsere Klagelieder und Klagegebete mit Lob und Dank vermischen sollten:
    „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“

    Amen.

  • Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a

    Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a

    13. Sonntag nach Trinitatis – Wolfschlugen 29.08.2021

    Unser Predigttext steht im 1. Buch Mose 4, 1-16

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Kain redet nicht mit Abel. 

    Dabei gäbe es viel zu reden:  
    Über Eva, die Mutter, die bei Kains Geburt jubelt und bei Abels nicht.  
    Über die Namen, die ihnen die Eltern gegeben haben:
    Kain lässt sich vermutlich „von erwerben/erschaffen“ ableiten,  
    Kain, der Erschaffene/Erworbene.  
    Der Name könnte auch von „Lanze“ kommen.  
    Abel dagegen heißt übersetzt „Windhauch“ oder auch „Nichts“. 

    Es sind schicksalhafte Namen, die für jedes Kind zu schwer wären.

     Was haben sich die Eltern dabei gedacht?  
    Wie können Eltern ein Kind „Nichts“ nennen?  
    Das wäre doch schon Gesprächsstoff für die Brüder genug, oder?  
    Und müsste nicht eigentlich Abel der Zornige sein?  

    Aber sie sprechen nicht miteinander. 

    Sie könnten über noch mehr reden:  
    Kain wird Ackerbauer, und Abel Viehzüchter.  
    Sie gehen verschiedene Wege – schon die ersten Menschenkinder sind verschieden, und wir sind es nach ihnen.  
    Wir haben verschiedene Berufe, verschiedene Lebensentwürfe, verschiedene Vorlieben, wir mögen verschiedene Musik, wir wählen verschieden, wir lieben verschieden…  

    Wir hätten uns so viel zu erzählen:  
    Wie siehst Du das? 
    Wie verstehst Du das? 
    Wovon träumst Du? 
    Was würdest Du heute anders machen? 

    Aber sie reden nicht miteinander, die ersten Menschenkinder.

    Das Schweigen ist das Schlimmste. 

    Und dann kommt der Tag, an dem Kain und Abel Gott opfern.
    Sie ehren ihn beide.
    Kain opfert Früchte des Feldes, Abel opfert ein Lamm. 
    Beide opfern, was sie haben.

    Aber Gott sieht nur Abel, den „Windhauch“, und sein Opfer gnädig an. 
    Kain und sein Opfer sieht er nicht gnädig an.
    Er ignoriert Kain.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Kain redet nicht mit Abel.
    Dabei gäbe es jetzt so vieles zu fragen:  
    „Warum du und ich nicht? Verstehst du das?“ 

    Kain redet auch nicht mit Gott.  
    Dabei ist gerade das das Naheliegendste:  
    „Warum, mein Gott, ignorierst du mich?  
    Ich bin doch wie Abel dein Menschenkind!  
    Sag mir, Gott, was das soll!  
    Sag mir, Gott, warum die einen leben, als würdest du sie bevorzugen – und die anderen leben, als sähest du sie gar nicht?  
    Wie soll ich mir diese Ungleichheiten erklären?  
    Was hast du, Gott, damit zu tun?“ 

    Aber Kain redet nicht mit Gott.  
    Er hätte schreien und toben können. 
    Gott zur Rechenschaft ziehen.  

    Er hätte mit Gott in einen heiligen Streit eintreten können.
    Manchmal gibt Gott ja nach.
    Manchmal lässt er sich überreden.

    Wie er sich von Mose nach der Geschichte mit dem Goldenen Kalb überreden lässt, sein Volk doch nicht zu vernichten. (2. Mose 32)  

    Oder so wie Jesus sich von der kanaanäischen Frau überreden lässt, ihre Tochter zu heilen, obwohl er zu Beginn gesagt hat: „Sie gehört nicht zu Israel. Ich bin nicht zuständig.“ (Matthäus 15, 21-28)  

    Manchmal bereut Gott sogar, was er getan hat:  
    Im Buch des Propheten Hosea stürzt Gott deswegen in eine tiefe Krise.  
    Er müsste, aber er kann sein Volk nicht verlassen; er leidet unter seinem eigenen Beschluss, und nimmt ihn am Ende zurück.
    30 x ist immerhin von der Reue Gottes in der Bibel die Rede!  

    Aber Kain versucht es erst gar nicht.  
    Er redet nicht mit Gott.
    Kein einziges Wort.
    „Du ignorierst mich?! Ich ignoriere dich.“
    So staut sich in Kain der wortlose Zorn an.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Darum ergreift nun Gott das Wort.  
    Er stellt Kain Fragen.
    Fragen, die Kain zum Reden bringen und damit Schlimmeres verhindern wollen:  

    „Warum ergrimmst du?
    Warum guckst du nach unten und schaust niemanden an?
    Wenn du Gutes tust, kannst du allen frei ins Gesicht sehen. Ist es nicht so?
    Und wenn du nicht Gutes tust, dann lauert die Sünde vor der Tür.
    Du aber herrsche über sie, damit sie nicht über dich herrscht.“ 

    Kain antwortet nicht.  
    Von Gott zur Rede gestellt verhält er sich wie ein bockiges Kind, das die Arme verschränkt und die Lippen zusammenpresst.  

    Gott hat Fragen an uns.  
    Gott ist in Sorge, dass unser bockiges Schweigen zur Brutstätte des Bösen wird.  
    Er ruft:  
    „Rede doch, Menschenkind!  
    Rede mit mir!  
    Rede dir deinen Grimm von der Seele, deinen Frust, deinen Hass, deinen Neid, dein Nichtverstehen, deine Wut – rede dir das von der Seele, bevor du dich nicht mehr selbst beherrschen kannst und deinen Verstand verlierst!“  
    Aber Kain redet nicht mit Gott.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Stattdessen geht er mit Abel auf das Feld.  
    Die Lutherbibel lässt Kain hier das erste Mal reden: „Lass uns, Abel, aufs Feld gehen.“  
    Aber das gibt der Originaltext nicht her.  
    Da steht einfach nur:  
    Sie gehen aufs Feld.  
    Vielleicht hat es Luther auch nicht ertragen, dass Kain nicht spricht. 

    Sie gehen schweigend aufs Feld.  
    Die Brüder hätten sich so viel zu sagen, aber sie reden nicht miteinander.  
    Aus dem schrecklichen Schweigen entsteht die furchtbare Tat.  
    Kain erhebt sich gegen Abel, er macht sich groß, the greatest, und schlägt Abel tot.  

    Jetzt ist Abel, was sein Name immer vorhergesagt hat: Er ist ein Nichts.  

    Ob Kain hofft, dass mit Abels Beseitigung in seinem Herzen jetzt Ruhe einkehrt?  

    Vermutlich.  
    Kain hat das Ventil in seinem Innern gelöst.  
    Sein aufgestauter Zorn, sein Neid – jetzt sind sie raus, sind in der Welt.  
    Und wer soll es schon gesehen haben?  
    Es gibt ja nur diesen einen Bruder.  
    Kain braucht fortan keinen Vergleich mehr mit irgendjemandem zu fürchten.  
    Sein Opfer wird in Zukunft das einzige sein.  
    Er muss mit niemandem mehr teilen.  
    Er hat alles für sich allein.  
    Jetzt muss er nicht mehr reden.  
    Jetzt – kann er nicht mehr mit Abel reden… „ 

    Da ergreift Gott ein zweites Mal das Wort.  
    Wieder stellt er Kain eine Frage: „ 
    Wo ist dein Bruder Abel?“  
    Vielleicht ist es Gottes drängendste Frage überhaupt: 
    „Wo ist dein Bruder Abel?“  

    Was antworten wir, wenn Gott uns heute diese Frage stellt: „Wo ist dein Bruder Abel?“  
    Sagen wir die bittere Wahrheit oder schieben wir die Verantwortung so lange von A nach B und B nach C und C nach D, bis sie sich verflüchtigt und niemand mehr weiß, wie die Frage eigentlich lautete:
    „Wo ist dein Bruder Abel?“ 

    Ich schau mich um in der Welt. 
    Ich sage nur: Afghanistan. 
    Die Bundestagsmehrheit hat im Mai den Antrag abgelehnt, viele gefährdete Menschen schnell zu retten. 
    Und nun ist das Desaster da. 
    Wir hätten viele rechtzeitig retten können. 
    Nun werden viele davon sterben. 

    Und aus vielen Ecken höre ich es raunen: 
    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 
    »Mir doch egal, geht mich nichts an, keine Ahnung, 
    interessiert mich auch nicht. 
    Wir können ja nicht die ganze Welt retten.« 

    Ich schaue aufs Mittelmeer. 
    Da ertrinken nach wie vor tausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. 

    »Wo ist dein Bruder Abel?« 

    Und aus vielen Ecken höre ich es rufen: 
    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 
    »Ist mir doch egal, wir können nicht noch mehr aufnehmen,  das sind doch alles nur Wirtschaftsflüchtlinge. 
    Geht mich nichts an, interessiert mich auch nicht. 
    Hauptsache, die bleiben weg.« 

    Ich sehe im Fernsehen die Bilder von »Fridays for Future«. 
    Kinder und Jugendliche gehen auf die Straße. 
    Für ihre Zukunft. 
    Das ist komisch. 

    Als ich ziemlich jung war, also vor 30, 40 Jahren, da habe ich ganz oft gehört, wie Erwachsene gesagt haben: 
    »Ich will, daß es meinen Kindern mal besser geht«. 
    Diesen Satz höre ich heute nirgendwo mehr. 
    Ganz im Gegenteil. 
    Die jungen Leute werden lächerlich gemacht: 
    »Die sollen lieber zur Schule gehen.« 
    Und sie werden gedemütigt, verspottet, in den Dreck gezogen, und in den finsteren rechten Ecken des Internets wünscht man den jungen Frauen Vergewaltigungen an den Leib. 
    Sie gehen ja nicht auf die Straße, weil sie irgendwas mehr haben wollen. 
    Sondern weil sie überhaupt noch leben wollen auf diesem geschundenen Planeten. 
    Sie wünschen sich nichts weiter als Zukunft. 
    Und die Wissenschaft bestätigt das, was sie sich wünschen. 

    »Wo ist dein Bruder Abel?« 

    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 

    Das tönt aus vielen finsteren Ecken. 
    Es tönt von den Verspottern und Egoisten und denen, die einfach nur alles lassen wollen, wie es ist – 
    »nach mir die Sintflut«. 
    »Ist mir doch egal, was geht’s mich an, interessiert mich nicht, laßt mich in Ruhe, was gehen mich die kommenden Generationen an. 

    Was gehen mich die Leute in Afghanistan an? 
    Was kümmern mich die Menschen auf dem Mittelmeer? 
    Was kümmert mich fremdes Elend?« 

    „Ich weiß nicht“, sagt Kain, „soll ich meines Bruders Hüter sein?“  

    Eine handfeste Lüge gepaart mit einer frechen Gegenfrage.  
    Wir wissen, wo unser Bruder Abel ist.  
    Er ist tot.  

    Erschlagen, geköpft, zertrampelt vor den Toren eines Flughafens, aus Versehen von der sicheren Liste gestrichen, ohne bürokratisches Reisevisum stehengelassen, im Mittelmeer ertrunken, weil wir die rechten Wähler nicht verlieren und unseren Wohlstand nicht teilen wollen.  

    „Wo ist dein Bruder Abel?“  

    Gottes Stimme gellt über diesen Planeten.  
    „Was hast du getan?“  

    Das Schweigen auf diese Frage ist das Schlimmste. 

    Kain aber hat sich geirrt.  
    Von wegen „niemand hat es gesehen“!  
    Gott hat gesehen.  
    Gott hat gehört.  
    Der Mensch, der Kain ein Nichts war, ist Gott alles. 
    Der Mensch, den Kain beseitigt hat, ist bei Gott präsent.  

    Am Tag der Toten, dem Allerseelen, sprechen die Menschen in Mexiko ihre Toten mit Namen an und dann rufen sie „El esta presente“:  
    Er/Sie ist hier, gegenwärtig. 

    Kain kann Abel töten, er kann Abels Blut vergießen, aber er kann nicht verhindern, dass das Schreien des Blutes von der Erde bis zum Himmel dringt – bis an Gottes Ohren.  
    Und ehrlich, ist das in diesen Tagen auch mein Trost. 
    Gott hört das Schreien des vergossenen Blutes, es wird sich nicht in eine schnell vergessene Radiomeldung verwandeln, es bleibt Gott im Ohr, gegenwärtig, „el presente“.

    Kain hat sich geirrt, und er irrt sich ein zweites Mal: 
    Sein Bruder ist zwar tot,  
    er muss das Feld nicht mehr mit ihm teilen,  
    aber das Blut seines Bruders hat die Erde erschöpft. 
    Sie gibt ihren Ertrag nicht mehr her.  
    Das ist mehr Konsequenz als dass es Strafe ist.  
    Kain muss erkennen, dass alles zusammenhängt, der Brudermord hängt mit der Ernte zusammen, unser Umgang miteinander mit der Natur.  
    Das Netz, das Gott in der Schöpfung geknüpft hatte, ist zerrissen. 

    Am Ende spürt Kain die Schwere seiner Tat.
    Er hatte sich mit der Beseitigung seines Bruders Erleichterung verschaffen wollen, aber jetzt erkennt er: „Die Strafe ist zu schwer“, sagt er, „ich kann sie nicht tragen.“ 

    Hört Ihr es?  

    Kain bricht sein Schweigen.  
    Jetzt, wo er Angst hat, dass sich an ihm wiederholt, was er seinem Bruder angetan hat (dass er zum „Abel“ wird), da redet er mit Gott.  
    Aufrichtig.  
    Keine Lüge kommt mehr aus seinem Mund, kein frecher Spruch mehr, kein Verantwortung von sich schieben.  
    Das macht ja auch keinen Sinn mehr.  
    Kain klagt Gott: „Siehe, ich muss jetzt fort von hier. Der Acker gibt den Ertrag nicht mehr her. Darum muss ich fortgehen, unstet und flüchtig über die Erde ziehen. Wer mich findet, wird mich totschlagen.“ 

    Aber Kain irrt sich noch ein drittes, letztes Mal:  
    Gott greift dem Rad der Gewalt in die Speichen.  
    Er macht an Kain ein Zeichen, ein Tattoo, dass Menschen davon abhält, ihn, den Mörder, zu töten. 
    Kain hat ein schweres Leben vor sich, aber die Gnade Gottes geht mit ihm. 

    Die Geschichte von Kain und Abel ist unserer aller Geschichte.  
    Sie wiederholt sich jeden Tag.  
    Aber sie muss sie nicht jeden Tag wiederholen.  

    Sie wird uns erzählt, damit sie sich nicht wiederholt. 
    Schon das ist Gnade.  
    Das Schlimmste in der Geschichte ist das Schweigen. 

    Mit Gott und miteinander reden, zuhören, fragen, in die Schuhe der anderen steigen, streiten um das, was wichtig ist – ändert Geschichte.  

    Amen.

  • Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten.  –  Predigt zu 1. Korinther 6,9-14.19-20

    Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten. – Predigt zu 1. Korinther 6,9-14.19-20

    Gottesdienst am 25.07.2021 in Unterensingen

    Der Predigttext für heute steht in den Korintherbriefen von Paulus im 6. Kapitel. Und das sind wirklich Briefe (im Unterschied zu anderen neutestamentlichen Schriften in Briefform, die eher theoretische Lehrschreiben sind).

    Nein:
    Zwischen Paulus und den Christen von Korinth gab es eine lebhafte Korrespondenz hin und her.
    Man kannte sich. Und man schonte einander nicht.
    Immerhin hatte der Apostel diese Männer und Frauen selbst für den Glauben an Christus gewonnen, sie getauft, ihre Gemeinde gegründet.

    Korinth, stelle ich mir vor, war das Amsterdam der Antike. Eine Stadt, schrill, laut, bunt, voller Menschen aus den verschiedensten Kulturen.
    Menschen, die exotische Speisen mitbrachten, fremde Lebensweisen.
    Götter und Götzen aller Couleur verehrte man hier.
    Händler dealten mit allem, was Geld brachte.
    Tagediebe übten ihr Gewerbe aus, ebenso wie die vielen Prostituierten der Hafenstadt. Genug wohlhabende Männer, die deren Dienste in Anspruch nahmen, gab es auch. Und dann war da noch die berühmt berüchtigte Tempelprostitution im Aphrodite-Tempel. In Korinth wurde gemäß dem Motto: „Alles ist erlaubt“ gelebt.

    Und dem konnten sich offenbar auch die getauften Christen nicht immer entziehen. Paulus hatte jedenfalls Grund, ihnen einige deutliche Worte zu schreiben:

    Wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden?
    Täuscht euch nicht!
    Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben.
    Und solche sind einigen von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes

    Lutherbibel 2017 1. Korinter 6, 9-11

    Was für eine Liste von Lastern!

    Haben die Korinther Christen wirklich ein so verdorbenes Vorleben mitbrachten?
    Oder spricht so ein Text eher Bände über seinen Verfasser?

    Über Paulus als verklemmten, leibfeindlichen Typen, der offensichtlich ein Problem mit Frauen hatte.
    Und der zusätzlich noch ein Problem hatte mit Sexualität, mit der Freude am Essen und einem guten Tropfen… Also mit allem, was Spaß macht.

    Und sind es nicht Bibeltexte wie dieser, die jahrhundertelang Verheerendes in den christlichen Kirchen anrichteten? Die schuld sind an der engen Sexualmoral der Kirche.
    Die als Rechtfertigung für die physische und psychische Gewalt in evangelischen Einrichtungen und Diakonissenhäusern diente.

    Die zu Vertuschung, Machtmissbrauch in kirchlichen Kreisen missbraucht wurde. Die zu einer unbegründeten Homophobie führte. Ja, grundlegend zur Abwertung der leiblichen Seite des Menschseins beitrug.

    Ganz unschuldig an diesen Verformungen sind Paulus‘ Texte wohl nicht. Andererseits hat man sie oft auch missverstanden oder missverstehen wollen. Lesen wir weiter.

    Paulus an die Korinther:

    Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe.

    Luterbibel 2017 1. Korinther 6, 12-13

    Alles ist mir erlaubt.

    An vier Stellen zitiert Paulus dieses damals unter den Griechen beliebte Motto.
    Er lehnt es nicht ab.
    Er sagt vielmehr: Ja, stimmt! Für Christen mehr als alle anderen. Wer in Christus lebt, ist frei, alles zu tun. Es gibt keine Verbote. Essen ist Ernährung und keine religiöse Handlung. Und du darfst mit jedem zu Tisch sitzen – Sünder oder gerecht, gläubig oder Heide.

    Frei heißt aber auch: Ich bin verantwortlich für mein Tun. Ich muss die Grenzen für mich setzen und entscheiden, was ich vor Gott vertreten kann und wann ich anfange, mich von Dingen gefangen nehmen zu lassen.

    Ich muss selbst darauf achten, ob ich im Ausleben meiner Freiheit nicht die Freiheit des anderen einschränke, ihn verletzte, beschäme oder bevormunde.

    Auch aus dieser Perspektive könnten wir Paulus‘ Lasterkatalog lesen – nicht von den Tätern her formuliert, sondern aus Sicht der Opfer.

    Dann hört es sich womöglich ganz anders an. Dann klingt es so: Niemand soll aus Not zur Prostitution gezwungen sein! Und niemand soll diese Not ausnutzen. Niemand – weder Frau noch Mann, weder Kind noch Erwachsener – darf als Sexualobjekt benutzt werden. Niemand soll geschmäht, gemoppt, durch üble Nachrede verleumdet oder ausgeraubt werden.

    Paulus beendet seine Rede nicht ohne eine klare Ansage, was der Maßstab sein soll für unser freies, vor Gott verantwortetes Leben – auch im Umgang mit dem eigenen Körper.

    Oder wisst ihr nicht,

    dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist,

    der in euch ist und den ihr von Gott habt,

    und dass ihr nicht euch selbst gehört?

    Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.

    1. Korinther 6,19-20

    Von wegen leibfeindlich! Für den Juden Paulus ist Glaube und die Zugehörigkeit zu Christus eine höchst leibliche Angelegenheit.

    Der Jude Paulus muss mit dieser Sichtweise bei den griechisch geprägten Korinthern einiges aufgewühlt haben. Denn die Griechen sahen im Körper nur eine Hülle, in der der eigentliche Mensch mit Seele und Geist wohnt. Den einen von ihnen war er störendes Gefängnis und musste möglichst kasteit werden durch Askese und Entsagung. Andere gaben sich zügellosen Ausschweifungen hin in der Meinung, diese körperlichen Dinge hätten ja eh nichts mit ihnen selbst zu tun.

    Die Bibel erzählt anders vom Menschen. Sie sieht die Menschen stets in seiner Ganzheit von Seele, Geist und Leib. So handeln und so glauben die Menschen der Bibel immer auch mit ihrem Leib.

    Gottes Liebe verkündigen geht nicht ohne Hände, die einander halten. Seine Vergebung weiterschenken geht nicht ohne Augen, die einander sehen. Seine Fürsorge predigen geht nicht ohne Speisung für die Hungernden und Kleidung für die Frierenden, Besuch bei den Einsamen.

    Der Gedanke, Glaube könne reine Kopfsache sein, war Paulus vollkommen fremd.

    Wie nahe wir ihm da sind, das hat Corona uns gezeigt. Gottesdienst, ohne zu singen, dafür mit Maske und Abstand, ist machbar. Digitale Andachtsformen sind eine bereichernde Ergänzung. Frauenfrühstück über ZOOM eine witzige Erfahrung und der Start ins neues Jahr ohne Sekt und Umarmungen waren besser als nichts.

    Und doch! Es lässt sich nicht leugnen, dass uns, als „Gemeinschaft der Heiligen“, eine wesentliche Dimension fehlt, wenn das körperliche, leibhaftige Beisammensein gestrichen wird.

    Darum preist Gott mit eurem Leibe.

    Ein Mann ging diese Woche durch Radio, Fernsehen und Internet:  Hubert Schilles, der „Baggerheld von der Steinbachtalsperre“, der nicht Held genannt werden will. Achtzehn Meter unter dem Wasserspiegel räumte er mit seinem Bagger bei Lebensgefahr einen zugelaufenen Abfluss der Talsperre frei. Mit 68 und als Chef eines großen Tiefbauunternehmens hätte er auch einen Mitarbeiter schicken können. Aber gerade wegen der Gefahr, so sagt er im Interview, musste er den Job selbst machen. Und fügt hinzu: „Mit Hilfe von Gott hat das gut funktioniert. Ich bin ein gläubiger Mensch. Du Herr, musst wissen, was passiert`, habe ich gesagt. Und ich hatte keine Sekunde Angst.“ Wenn das kein Beispiel ist, wie ein Mensch seinen Schöpfer preist! Nicht nur mit Worten und Gedanken, sondern mit seinem Leib.

    Was nehmen wir aus unserer Begegnung mit Paulus und seinen korinthischen Christen in die kommende Woche mit?

    Gott mit dem Leib preisen.

    Den Gedanken nehme ich mit und damit verbunden die Anregung, den christlichen Glauben ohne Scheu noch mehr als ein leibliches füreinander-Dasein zu leben. Wer krank ist, alt oder gebrechlich, wird das Gefühl teilen, dass der Körper zum Gefängnis werden kann. Er braucht unser tatkräftiges Mit-Zupacken, unseren liebevollen Blick und manchmal einen stützenden Arm.

    Mein Leib – ein Tempel des Heiligen Geistes.

    Auch das nehme ich mit. Warum nicht dem Schöpfer bewusst auch einmal Danke sagen;  dafür, dass ich einen Körper habe, der mich alles im Leben, das Schöne wie das Schmerzliche, sinnlich erfahren lässt. Dass ich Hände habe, die ich reichen kann.
    Ein Geschenk ist das – vor allem in Pandemiezeiten. Dass ich Beine habe, die gehen, laufen und Rad fahren können. Dass ich atme, singe, die Lungen sich füllen, das Zwerchfell sich spannt. Danke, Gott, für meinen Körper!

    Und das dritte, was ich mitnehme: Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten.

    Einmal wieder verstärkt darauf achten:
    Was tut meinem Körper eigentlich gut? Und was nicht? Wo bin ich in Anhängigkeiten, aus denen ich mich mit Gottes Hilfe gern befreien möchte? Und: Wie möchte ich als ganzer Mensch mit Geist, Seele und Leib mit anderen in Beziehung treten? Dass ich, soviel an mir liegt, niemanden herabsetze, bedränge oder für meine Wünsche in Besitz nehme. Dass ich in jedem Mitmenschen ein von Gott geheiligtes Leben sehe. Ein Leben, das leben will, selbstbestimmt, wertgeschätzt und frei.

    Amen

  • Vertrauen – Elia am Bach Krit und bei der Witwe zu Sarepta – Predigt zu 1. Könige 17,1–16

    Vertrauen – Elia am Bach Krit und bei der Witwe zu Sarepta – Predigt zu 1. Könige 17,1–16

    Gottesdienst in Aichtal-Aich am 18. Juli 2021

    Was es heißt Hunger zu haben weiß ich.
    Wenn ich Hunger habe, dann gehe ich an den Kühlschrank und hole mir da etwas raus. Dann ist der Hunger wieder gestillt.
    Wenn der Kühlschrank leer ist, dann gehe ich einkaufen und fülle ihn wieder.

    Wie es ist Hunger zu haben und diesen Hunger nicht stillen zu können. Also nicht für kurz wegen einer Diät oder einer Fastenkur, sondern wirklich Hungern. Ohne die Möglichkeit an Essen heranzukommen.
    Das weiß ich aus eigener Erfahrung nicht.

    Ich kenne Geschichten über Hunger aus dem Krieg und der direkten Nachkriegszeit.
    Ich kenne Hungergeschichten aus Eritrea, der Sahelzone.
    Hungergeschichten aus heutiger Zeit.
    Hungergeschichten, bei denen Menschen wirklich an Nahrungsmangel gestorben waren.
    Gott sei Dank mussten weder ich noch meine Kinder so etwas erleben.

    Eine solche Hungergeschichte bekommen wir im Buch 1. Könige 17,1–16 erzählt.

    Etwa Im Jahr 860 vor Christus, also vor etwa 3000 Jahren, gerät die Ordnung der Welt aus den Fugen.
    Der Himmel verschließt sich – wochenlang, monatelang sind keine Wolken zu sehen, kein Regentropfen zu spüren.
    Das kostbare Wasser verdunstet, der Erdboden trocknet aus.
    Menschen und Tiere verlassen mit ungewissem Ziel ihre Heimat.
    Totenstille über dem ganzen Land.

    Aber dann bekommt die grenzenlose Öde Namen und Gesichter. Da ist der Prophet, die Witwe und ihr einziger Sohn.
    Ein Drama spielt sich vor unseren Augen ab. Wir sehen eine weinende Mutter, Holzstücke für ein Feuer zusammentragen, um ein letztes Brot für sich und ihren Sohn zu backen, eine Henkersmahlzeit. Ein Bild des Grauens.

    Dies ist Vergangenheit, gewiss!
    Auch heute ereignen sich Krisen, hier und auf der ganzen Welt.
    Eine Ausnahmezeit wie die Coronakrise lässt uns dies hautnah erleben.
    Für uns hier in Aich führt die Krise nicht zur Katastrophe.
    Ganz im Gegensatz zu anderen Teilen in der Welt.
    Dort schlägt das Virus in voller Härte zu.
    Dort wo Menschen bereits durch Krieg und Hunger aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
    Dort wo Menschen schon in normalen Zeiten mit dem Hunger leben müssen.
    Dort wo Menschen auf Grund ihres Glaubens verfolgt und getötet werden – darunter auch viele Christen.
    Dort ist die Welt katastrophal.

    Wir befinden uns in Israel. Ahab ist der aktuelle König über Israel.
    Von ihm heißt es ein Kapitel zuvor, dass er Böses tat, und zwar mehr als alle Könige, die vor ihm waren.
    Er hat sich vom Gott Israels abgewandt und mit seiner Frau unterstützen er den Baals-Kult. Baal war ein Wettergott, der Wind, Wolken und Regen beherrscht. Indem er die Dürre beendet, ist er Spender der Fruchtbarkeit.

    So wahr der HERR, der Gott Israels, lebt, vor dem ich stehe: Es soll diese Jahre weder Tau noch Regen kommen, ich sage es denn.“ Das ist die Kampfansage des Elia, als Prophet Gottes gegen Baal und somit auch gegen Ahab.
    Da kommt einer aus der Provinz, baut sich vor dem König auf und macht ihn und sein Gott lächerlich.

    Natürlich schäumt König Ahab vor Wut und er gibt den Befehl Elia töten zu lassen.
    Elia muss sofort fliehen. Zum Glück hat Elia – er ist ja Prophet – einen heißen Draht zu Gott. Und Gott sagt ihm: „Verschwinde sofort von hier. Wandere nach Osten und verstecke dich am Bach Krit. Aus dem Bach kannst du trinken und es werden Raben kommen, die dich versorgen werden.“

    Elia vertraut Gott.
    Er versteckt sich nicht bei Verwandten oder Bekannten.
    Er packt sich auch nicht noch schnell ein Überlebenspäckchen.
    Er tut das, was Gott sagt, und wandert direkt zu dem Bach.
    Und tatsächlich: Raben bringen ihm Brot und Fleisch.
    Elia hat erst einmal alles, was er zum Leben braucht. Gott hat sein Versprechen gehalten und er sorgt für ihn.

    Doch dann, eines Tages, merkt Elia, dass der Bach immer weniger Wasser hat – denn es regnet nicht mehr.
    Das hatte Elia dem Ahab ja auch an den Kopf geworfen:
    Gott würde es nicht mehr regnen lassen, weil er und nicht Baal der Spender der Fruchtbarkeit ist.
    Nun bekommt auch Elia die Auswirkungen dieser Tatsache zu spüren.
    Wieder redet Gott zu Elia:
    Gehe nach Sarepta. Das ist fünf Tagesmärsche entfernt. Kurz hinter der Grenze zu Israel.
    Dort habe ich einer Witwe befohlen, dich zu versorgen.

    Was wird sich Elia gedacht haben?
    Alles klar! Eine Witwe wird mich versorgen. Eine, die selbst nichts hat. Wie soll das funktionieren?
    Witwen gehörten damals zu dem Ärmsten der Armen, oft waren sie auf Almosen angewiesen.
    Elia – der große Mann Gottes – abhängig von einer Witwe.
    Wieder muss Elia vertrauen – auf Vorschuss.
    Er kann sich absolut nicht sicher sein:
    Kann diese Witwe ihn tatsächlich versorgen? Nach menschlichem Ermessen ist das höchst unwahrscheinlich.
    Soll er wirklich fünf Tagesmärsche durch die Wüste auf sich nehmen?
    Was, wenn er am Ende feststellt, dass es umsonst war?
    Zudem liegt Sarepta außerhalb von Israel.
    Wer sollte ihm da sonst wohl gesonnen sein und ihm von den ohnehin knappen Lebensmittel etwas abgeben?

    Aber Elia wagt es zu vertrauen.
    Er tut das total Widersinnige.
    Er unternimmt diesen Gewaltmarsch durch die sengende Sonne.
    Er macht sich von einer Frau abhängig, die nicht einmal im Traum genügend zum Überleben besitzen dürfte.
    Irgendwie demütigend.
    Irgendwie verrückt.
    Aber Elia vertraut!
    Er vertraut, dass Gott ihm den Tisch decken wird.

    Perspektivwechsel:
    Nun schauen wir uns die Geschichte aus dem Blickwinkel der Witwe an.
    Wir wissen nicht, wie sie heißt. Aber wir wissen, sie hat einen Sohn und sie wohnt in Sarepta, was in Sidon liegt.
    Sie ist also keine Israelitin. Sie gehört zu dem Volk, dass den Wettergott Baal anbetet.
    Und sie leidet darunter, dass dieser Wettergott Baal seinen Job nicht tut.
    Es hat seit Wochen und Monaten nicht geregnet.
    Die Saat auf den Feldern ist nicht einmal aufgekeimt, sie ist gleich verdorrt.
    Die Menschen leben nur noch von ihrem Vorräten.
    Und sie, die Witwe?
    Von welchen Vorräten soll sie schon leben?
    Es gibt keine Versicherungen, kein Sozialsystem in Sidon.
    Im Nachbarland Israel sind die Menschen angewiesen den Witwen und Waisen zu helfen. Von allem ein bisschen abzugeben. Aber hier in Sidonien gibt es keine Barmherzigkeit.
    Und in Sarepta, was „Schmelzofen“ bedeutet, scheint sogar die Sonne besonders unbarmherzig.

    Der Tag ist gekommen, an dem die Witwe in ihren Mehltopf und ihren Ölkrug schaut.
    Einmal, zweimal: Ja, heute ist der Tag.
    Heute wird sie die letzten kleinen Brotfladen backen.
    Dann sind alle Vorräte an Öl und Mehl aufgebraucht.
    Sie sieht sich und ihren Jungen, wie sie das letzte Brot teilen.
    Er wird das größere Stück bekommen.
    Sie werden schweigend dasitzen und kauen.
    Bitteres Brot.

    Sie sieht es vor sich, ein paar Stunden später, wie er wieder Hunger bekommen wird.
    Er ist ja schon so dürr geworden in den letzten Wochen.
    Sie möchte die Vorstellung beiseite schieben, aber sie kann nicht.
    Die Bilder schleichen sich immer wieder in ihren Kopf:
    Wie er weinen wird, weil sie ihm kein Brot mehr gibt.
    Wie er Schmerzen bekommt.
    Wie er sie fragend ansieht, nicht verstehen kann, warum seine Mama ihm nicht den Hunger stillt.
    Wie er schwach werden wird.
    Wie der Lebensglanz aus seinen Augen verschwindet.
    „Wer wird uns finden?“, schießt es ihr durch den Kopf, „wer wird unsere Körper begraben?“

    Und dann wird sie zornig.
    Geht zum Hausaltar des Wettergottes und schreit ihn an: „Warum tust du das? Warum schickst du keinen Regen? Siehst du nicht das wir verhungern? Ich habe dir immer geopfert, aber jetzt hilfst du uns nicht. Nicht mal der Junge wird durchkommen. Du bist kein Gott!“
    Wütend fegt sie die Götterfigur vom Altar.
    Sie zerbricht in viele Stücke.
    Die Frau erschrickt. ‚Was habe ich getan?‘
    Doch dann denkt sie: ‚Das ist jetzt auch egal.‘
    Sie kehrt die Scherben zusammen, setzt sich hin und weint.
    In ihrem Herzen schreit sie: „Wenn es irgendeinen wahren Gott gibt, dann hilf mir! Ich tue alles, wenn du mich und meinen Sohn vor dem Tod rettest! Schicke mir Hilfe!“

    So ähnlich wird der Tag dieser Frau ausgesehen haben.
    Gott muss ihr irgendwie begegnet sein.
    Denn als er Elia aufgefordert hat, nach Sarepta zu gehen, hat er ihm zugesagt, dass er einer Witwe befohlen hat, Elia zu versorgen.
    Wie sich dieser Befehl genau zugetragen hat, davon ist uns nichts berichtet.

    Nun geht sie hinaus, sie will Holz sammeln für die Backstelle.
    Sie hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.
    Da kommt ein Fremder daher, der ruft ihr etwas zu.
    Sie erschrickt.
    Besuch hat sie wirklich nicht erwartet.
    Wer besucht schon eine Witwe und ihr Kind, die verhungern?
    Es will doch keiner daran erinnert werden, dass da zwei sind, die sterben, wenn man ihnen nichts abgibt.

    Seit Wochen ist niemand mehr vorbeigekommen.
    Sie schaut den Mann skeptisch an. Ein Fremder, wahrscheinlich ein Israelit.
    Er sieht auch nicht so aus, als ob er ihr helfen könne.
    Zerlumpt, ungewaschen. Ausgetrocknet. Das ist der Eindruck, den der Fremde auf sie macht.
    Hoffentlich ist der nicht bösartig!
    Da ruft er ihr zu: „Hole mir doch bitt ein wenig Wasser in einem Gefäß, dass ich trinke.“
    Sie schaut ihn skeptisch an.
    Der hat wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
    Wasser ist unbezahlbar geworden.
    Selbst die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Region ist der Trockenheit in den letzten Wochen zum Opfer gefallen.

    Was wird der Witwe durch den Kopf gegangen sein?
    Ist es Mitleid?
    Resignation?
    Wenn wir eh sterben, dann kann er auch noch einen Schluck Wasser abhaben.

    Oder ist es schon eine Ahnung, dass hier etwas Seltsames passiert?
    Auf jeden Fall geht sie ins Haus, um Wasser zu holen.
    So ermutigt, wird der Fremde dann aber doch ein bisschen frech:
    „Bitte, bring mir auch ein bisschen Brot mit!“

    Sie dreht sich um.
    Sie fasst es einfach nicht:
    „Du weißt gar nicht, was du da sagst!
    Bei deinem Gott, falls es ihn gibt, ich habe nur noch eine Hand voll Mehl und einen Tropfen Öl im Haus.
    Gerade genug, um noch einmal zu kauen.
    Und ich habe einen Jungen, der liegt im Bett, ist krank und abgemagert, und ich werde jetzt für ihn und mich Brot backen, und dann essen wir das zusammen und dann sterben wir.“

    Der Fremde ist nicht entsetzt, er entschuldigt sich nicht.
    Er bedrängt sie auch nicht.
    Sondern er sagt wieder so etwas Aberwitziges:
    „Fürchte dich nicht!
    Tue, was du vorhattest.
    Aber zuerst backe mir den Brotfladen und bring ihn mir heraus.
    Dann kannst du in dein Haus gehen und dir und deinem Sohn etwas backen.
    Denn mein Gott, der wahre Gott, den es wirklich gibt, lässt dir sagen:

    Dein Mehl im Topf und dein Öl im Krug werden nicht ausgehen, solange diese Hungersnot anhält. Bis es wieder regnet, wirst du immer genug haben. Ihr werdet nicht verhungern.“

    Was wird der Frau wohl durch den Kopf gegangen sein?
    In diesem Moment…?

    Irgendwie muss Gott diese Frau vorbereitet haben.
    Eine Mutter hätte sonst niemals einem Fremden das Brot ihres Kindes gegeben.
    Gott muss ihr Hilfe zugesagt haben obwohl sie diesen Gott nicht kennt.
    Mit dem alten, der in Scherben liegt, hat sie keine guten Erfahrungen gemacht.
    Sie kennt diesen zerlumpten, unverschämten Mann nicht, der da vor ihr steht.
    Wie soll sie ihm glauben?
    Was, wenn er nicht die Wahrheit sagt?
    Was, wenn er lügt, um an ihr Brot zu kommen? Und sie dann mit leeren Händen dasteht.
    Was wird aus dem Jungen, der in seinem Bett auf sein letztes Brot wartet?

    Es ist Wahnsinn!
    Was soll sie tun?
    Sie setzt alles auf eine Karte. Sie geht hinein und bereitet dem Mann seinen Brotfladen zu.
    Die ganze Zeit gehen ihr dieselben Fragen, dieselben Ängste und Phantasien im Kopf herum.

    Das Brot ist fertig.
    Sie geht an der Kammer des Sohnes vorbei.
    „Nein!“, schreit ihr Herz.
    Doch sie geht weiter.
    Mechanisch setzt sie einen Fuß vor den anderen.
    Reicht dem Mann das Gefäß mit dem Wasser – und – das letzte Brot.

    Er bedankt sich.
    Nickt mit dem Kopf zum Haus hin. „Geh wieder rein. Backe dir und deinem Sohn etwas!“
    Sie dreht sich um, sie traut sich kaum zu gehen.
    Mit jedem Schritt wächst die Angst.
    Was wird sie finden?
    Hat er sie betrogen?
    Ist sie nur eine dumme Frau, die zu beschränkt ist, sich und ihren Sohn angemessen zu verteidigen?

    Sie geht hinein, geht zur Feuerstelle.
    Nimmt den Topf vorsichtig in die Hand, blickt mit Herzklopfen hinein.
    Ihr Herz setzt einen Schlag aus.
    Da ist Mehl! Da ist wieder Mehl drin!
    Sie greift nach dem Krug, schaut nocheinmal ungläubig hinein und beginnt zu – lachen.
    Sie lacht und lacht und lacht. Sie kann nicht mehr aufhören.
    Die Anspannung der letzten Wochen fällt von ihr ab, zusammen mit der Todesfurcht.

    Der Junge ruft aus der Kammer. Sie läuft hin, lachend.
    Hebt ihn hoch und trägt ihn in die Küche.
    Seine Augen werden größer und größer, als er in die Gefäße schaut und auch er lacht mit ihr.
    Seine Augen bekommen wieder Leben.
    Die Frau backt Brote. Viele Brote.
    Sie holt den Fremden von draußen ins Haus.
    Zusammen essen sie.
    Die Witwe, ihr Sohn und der Mann Gottes bis sie nicht mehr können.
    Und immer noch ist Mehl im Topf und Öl im Krug.
    Das Herz der Frau ist randvoll mit Dankbarkeit.
    Sie weiß es ganz fest in ihrem Herzen:
    Mehl und Öl werden nicht mehr ausgehen, bis die Hungersnot vorbei ist.
    Sie werden überleben – sie werden leben!
    Denn der wahre Gott, der Gott der Israeliten ist mit ihnen, und er hat es ihr versprochen.

    Elia und die Witwe … was beide besonders auszeichnet ist ihr Vertrauen.
    Vertrauen auf Vorschuss.
    Vertrauen ohne zu wissen, ob es belohnt wird – oder ob sie bitter enttäuscht werden.
    Und das in Situationen, die so existentiell sind.

    Vertrauen auf Vorschuss… eigentlich geht das doch gar nicht anders.
    Sonst ist Vertrauen ja kein Vertrauen.
    Und doch, wer von uns hat ein solches Vertrauen?

    Ich weiß nicht, ob ich auf Gottes Wort hin zum Bach Kerit gegangen wäre – ohne mich noch auf etwas anderes zu verlassen…
    Ich weiß nicht, ob ich nicht enttäuscht gewesen wäre, als der Bach versiegte und die Raben nicht mehr kamen.
    Ich weiß nicht, ob ich es geglaubt hätte, wenn Gott mir gesagt hätte, dass mich jemand versorgen wird, der selbst nichts hat.
    Ich weiß nicht, ob ich mein letztes Brot, das Brot meiner Kinder, abgegeben hätte, nur weil jemand sagt, es werde schon neues Brot da sein.

    Vertrauen auf Vorschuss – also wirkliches, echtes Vertrauen.
    Vertrauen auf den wahren Gott, der mir helfen kann, wenn es sonst keiner mehr kann.
    Ich glaube, die meisten von uns wollen Gott gerne so vertrauen.
    Aber es ist echt schwierig, so zu vertrauen.
    Und man kann ein solches Vertrauen nicht erzwingen.
    Auch nicht in sich selbst.

    Aber man kann es wagen.
    Und es kann einem geschenkt werden.
    Vertrauen wächst, wenn wir gute Erfahrungen machen.
    Wenn wir immer wieder erfahren: auf Gott kann ich mich 100% verlassen.
    Er lässt mich nicht im Stich.
    Er sorgt für mich.
    Gott sehnt sich danach, dass wir ihm vertrauen.
    Er will uns mit Vertrauen segnen und beschenken.
    Er will für uns sorgen und uns einen Tisch decken.

    Egal wie die Not aussieht.
    Er will unseren Mangel beseitigen, denn er hat im Überfluss und er gibt dir gerne im Überfluss.

    Er lädt uns ein:
    Mein Kind, vertraue mir.
    Amen

  • Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten – Predigt zu 1. Korinther 1, 18-25

    Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten – Predigt zu 1. Korinther 1, 18-25

    Gottesdienst in Neckartenzlingen am 04. Juli 2021 – Predigttext: 1. Korinther 1, 18-25

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23

    Dieser Satz ist eine Kampfansage.
    Ein gekreuzigter Gesalbter Gottes, ein gekreuzigter Christus.

    Damit widerspricht Paulus allen Träumen, allen Träumen der Religion von Stärke und Überlegenheit.
    Er sagt auch ganz deutlich: Das Wort vom Kreuz ist für die einen eine Torheit, Unfug und für die anderen ist es schlichtweg dumm.

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23
    • ein Skandal für die Frommen in Israel
    • ein Unsinn für die Griechen

    Was meint Paulus damit?
    Was ist das, dieses Wort vom Kreuz?
    Und warum wird ihm so heftig widersprochen?

    Der Traum von der Stärke

    Da ist zuerst der Traum von der Stärke. Jedes Kind träumt ihn. In Israel wird gesagt: „Wir sind schwach und unterlegen, aber Gott kann alles. Der Messias, der wird alles gut machen. Der wird alles richten. Der wird mit gewaltiger Hand dreinschlagen und uns zu unserem Recht verhelfen.“

    Jesus und Paulus legen hier Widerspruch ein.
    Als Jesus seinen Jüngern sagte: „Mein Weg führt ans Kreuz“(Mt 16, 21-26), da ruft Paulus ganz ohne Nachdenken und aus vollem Herzen: „Nein, oh, nein, das darf auf keinen Fall passieren. Gott bewahre dich davor!“ Aber Jesus dreht sich um zu Petrus und sagt: „Weiche von mir Satan. Du denkst so wie die Menschen denken und nicht wie Gott denkt.
    Bei den Freunden Jesu selbst fängt es also an: Sie möchten ihn – verständlicherweise – gern stark und mächtig sehen. Darum verstehen sie Jesus nicht, wenn er sagt: „Ich werde leiden. Und das ist gut so.“

    Paulus sagt in seiner Sprache:

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23

    Die Geschichte vom Leid

    Wir müssen uns die Geschichte, die Leidensgeschichte Jesu, noch einmal genauer anschauen.
    Matthäus erzählt von der Kreuzigung Jesu:
    Alle kommen und schauen zu, wie Jesus da hängt, hilflos und verlassen, seinen Peinigern ausgeliefert.
    Jetzt spotten sie.

    Im Spott sind sie sich einig, die Priester und Soldaten: „Anderen hast du geholfen. Jetzt hilf dir selber. Dann wollen wir auch glauben. Wenn du der Messias, der Gesalbte Gottes bist, dann steig herab vom Kreuz! (Mt 27, 40ff)“
    Sie glauben, einer, der Gott auf seiner Seite hat, der kann nicht am Kreuz hängen.
    Wer Gott auf seiner Seite hat, der kann nicht leiden, der muss nicht leiden.
    Wer Gott auf seiner Seite hat, der muss stark und mächtig sein.
    So denken sie.
    Und sie sind sich einig im Auslachen. Sie sind sich einig im Spott über den Jesus, der am Kreuz hängt.

    Wir lachen Jesus heute so nicht aus. Aber auf den Glauben, dass es den frommen Menschen gut gehen muss, auf den fallen viele immer wieder herein. Außerhalb und auch innerhalb der Kirche.

    Einer, der am Kreuz hängt, hat ausgespielt. Da hat Gott nichts zu suchen.

    Einer , der sich nicht durch Machtzeichen ausweisen kann, der komme nicht von Gott.

    Deshalb ist das Kreuz Jesu – und das Wort vom Kreuz – ein Skandal für viele.

    Und da ist die Angst. Niemand möchte der Dumme sein. Deshalb wird zur Zeit des Paulus bei den gebildeten Griechen nach Weisheit gefragt. Diese beschäftigen sich damit, wie man das Leben durch Klugheit, durch gute Gedanken so einrichten kann, dass man immer wieder gut wegkommt. Eben so, dass man auf keinen Fall der Dumme ist.

    Weisheit, sie soll frei machen von der Welt und ihren Zwängen.
    Diese Sehnsucht nach der Weisheit, die den Hintergrund versteht, diese Lust auf geheimes Wissen, das Menschen zu Überlegenen machen soll, auch die feiert heute fröhliche Wiederkehr. Und wer daran glaubt, an das Wissen und die Weisheit und die Wahrheit und die Macht, der kann nur lachen, wenn Paulus sagt:

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23

    Das Wort vom Kreuz

    Das Wort vom Kreuz, das heißt:
    Erzählen und Reden von einem Menschen Gottes, der selber schwach und unterlegen ist und der am Kreuz jämmerlich verreckt.
    Das Wort vom Kreuz ist ein Skandal für die Frommen und ein Unsinn für die Klugen – zur Zeit des Paulus bei den Juden und den Griechen.
    Bei uns ist das nicht anders. Wir müssen uns da nichts vormachen.

    Wenn ich genauer hinhöre, dann merke ich: Diese Botschaft vom Kreuz – sie widerspricht auch mir selbst.
    Ich habe keinen Grund über Menschen zu lächeln, diWir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.e über den Gekreuzigten Christus den Kopf schütteln.

    Ich habe selber etwas in mir:
    – von den Menschen, die Stärke und Macht-Beweise fordern und endlich etwas von der Macht Gottes sehen wollen.
    – und von den Menschen, die nach überlegener Weisheit suchen.

    Paulus schreibt:

    Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 25

    Das ist ein starker Satz.

    Aber ist der auch wahr?
    Da stirbt jemand unter Schmerzen – viel zu jung.
    Und wir fragen: Wo ist da Gott? Warum sehe ich nichts von ihm?
    Und auf einmal geht es mir wie denen, die Paulus Juden und Griechen nennt. Man müsste doch etwas von Gottes Nähe merken. Es müsste doch etwas sichtbar werden. Stärke oder wenigstens ein Sinn.
    Und wir, wir sehen nichts.
    Paulus aber weist auf den gekreuzigten Jesus.

    Kann das sein?
    Ist Gott da, wo wir es uns nicht vorstellen können?
    Ist Gott auch gerade dort, wo wir nicht weiter sehen?

    Matthäus erzählt weiter: Jesus aber schrie laut auf und rief:

    Eli, Eli, lama asabtani? … Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

    Lutherbibel 2017, Matthäus 27, 46

    Am Kreuz betet er den 22. Psalm, der mit diesen Worten beginnt.
    Am Kreuz schreit Jesus nach Gott.

    Jesus stirbt, wie er gelebt hat: mit dem Gotteswort auf den Lippen.
    Jesus stirb im verzweifeltem Vertrauen, dass Gott allein Hilfe ist im Leben und im Sterben.
    Jesus ruft nach Gott und glaubt an Gott. Auch da, wo niemand mehr etwas sieht. Wo Gottes Nähe nicht mehr erfahren werden kann und nicht mehr spürbar ist.

    Das Wort vom Kreuz, das sagt:
    Gott war bei diesem Jesus. Er hat ihn nicht verlassen, dort in der Nacht des Leidens. Im „Nicht-mehr-Können“ und im „Nicht-mehr-verstehen“, da ist Gott da.

    So zeigt Jesus uns einen anderen Gott. Nicht einen Gott der Überlegenen und Starken.
    Nicht einen Gott der Macht und Weisheit und der Religiosistät.
    Nicht den Gott einer Kirche, die großen Einfluss hat und andere ausschließt.

    An Jesus sehen wir den Gott, der da ist bei den Leidenden und Schwachen, so wie bei Jesus am Kreuz.
    Deshalb ist der Gekreuzigte der Retter, der Heiland.

    Erzählen von Gott

    Und nun müssen wir anfangen zu Erzählen von diesem Jesus. Seinem Weg.

    Jesus hat nicht Gottlose fromm gemacht.
    Er ist zu ihnen gegangen und hat gesagt: „Gott hat euch lieb. Kommt, esst mit mir. Folget mir nach“.
    So sind im Jüngerkreis Jesu auch Zöllner und Sünder zu finden.

    Jesus hat nicht gesagt: „Wir helfen nur unseren Freunden.“
    Er erzählt von dem Fremden, der da hilft, wo Priester und Levit wegschauen und nicht helfen.

    Es gibt unendlich viel zu erzählen, was die einen fröhlich und die anderen ärgerlich gemacht hat.
    Die Ärgerlichen, die haben Jesus ans Kreuz gebracht.
    Aber er hat sich nicht gerettet.
    Und er vertraut nicht der Stärke.
    Er sagt im Garten Gethsemane eindeutig:

    Wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen

    Lutherbibel 2017, Matthäus 26,52

    In dem, was es da von Jesu törichter Liebe und von seiner liebenden Schwäche zu erzählen gab, da fange ich an, ein wenig zu begreifen, warum das Wort von dem gekreuzigten Christus ein Glück ist.
    Und ich fange an, ein wenig zu ahnen, was Paulus meint, wenn er schreibt:

    Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 25+23

    So schreibt Paulus.

    An diesem Wort vom Kreuz wird sich eine christliche Gemeinde und ihr Tun und Lassen messen lassen.
    Gott ist auf der Seite der Opfer und der Schwachen.
    Die Liebe, mit der Jesus gelebt hat und gestorben ist, die zählt allein.

    So kann die Predigt vom Kreuz Jesu zur Gotteskraft werden, zur Kraft für die Schwachen.

    Auch zur Kraft für uns.

    Amen.