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  • Neues Leben – Predigt zu Kolosser 2, 12-15

    Neues Leben – Predigt zu Kolosser 2, 12-15

    I. Der ungläubige Thomas

    Die Geschichte aus der Schriftlesung hat mich immer schon angesprochen.
    Weil ich Thomas heiße.
    Und weil ich oft auf diese Geschichte angesprochen werde: Bist Du auch so ein ungläubiger Thomas?

    Und ich muss gestehen:
    So weit weg ist der Jünger Thomas nicht vom Prädikanten Thomas entfernt.
    Erst wenn ich meine Finger in seine Wunden legen kann, dann kann ich auch glauben – wer möchte keinen Gottesbeweis.

    Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben – auch so eine Bibelstelle, die wie für mich gemacht ist.
    Wie kann ich an etwas glauben, das ich nicht gesehen habe?
    Wie kann ich Gewissheit haben, dass ich von Gott angenommen bin? – So wie ich bin? Unfertig, zerrissen und nie ganz frei schon Schuld.

    12 Gott hat euch als seine Heiligen erwählt, denen er seine Liebe schenkt. Darum legt nun das neue Gewand an. Es besteht aus herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld.
    13Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorwirft. Wie der Herr euch vergeben hat, so sollt auch ihr vergeben!
    14Vor allem aber bekleidet euch mit der Liebe. Sie ist das Band, das euch zu vollkommener Einheit zusammenschließt.
    15Und der Friede, den Christus schenkt, lenke eure Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Und dafür sollt ihr dankbar sein!

    Aus der Basisbibel

    II. Totsein mitten im Leben

    “Ihr wart tot aufgrund eurer Verfehlungen”
    Wir Menschen sind grundsätzlich in Schuld verstrickt. Darum sind wir dem Tod im Leben hilflos ausgeliefert.

    Ziemlich krass.
    Da möchte ich doch sofort widersprechen.
    So eine Aussage ist doch viel zu allgemein.
    Sind wir alle in Schuld verstricket Menschen?
    Wir leben doch einigermaßen anständig, oder?
    Wir haben doch alle die sprichwörtliche weiße Weste an!
    Oder verdrängen wir etwas, wenn wir im Brustton der Überzeugung sagen, dass wir im Reinen sind?

    Bei genauerem Hinsehen werden auf unserer weißen Weste doch einige Flecken sichtbar.

    Da gibt es globale Flecken, für die wir selbst eigentlich gar nichts können.
    So bringe der Krieg in der Ukraine Christen in ein Dilemma, sagte die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus, im Dlf.
    Einerseits würden Waffen als Mittel für den Frieden abgelehnt. Andererseits müssten sich die Ukrainer mit Waffengewalt gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriff verteidigen. „Im Krieg wird jeder schuldig“, so die Theologin.

    Aber da sind vor allem die ganz persönlichen Flecken.
    Wir wissen, wie sehr wir uns selbst und anderen das Leben schwer machen können.
    Wir kennen unser ständiges Bemühen, das Leben selbst in die Hand nehmen zu wollen. Wie wenn wir allein über unser Leben entscheiden könnten.
    Manche von uns haben in ihrem Leben etwas getan, was eine Freundschaft zerstört hat, eine Partnerschaft, eine Ehe.

    Und das Bittere: Manches von dem, was wir getan haben, können wir nicht wieder gut machen.
    Manches können wir uns selbst nicht vergeben!
    Wenn wir so in uns hineinhorchen, spüren wir, dass unsere Art zu leben uns von Gott und den Mitmenschen trennt.
    Ein Totsein nicht am Ende des Lebens.
    Ein Totsein schon jetzt – mitten im Leben.

    III. Können Tote zurück ins Leben kommen?

    Gibt es einen Weg aus diesem Tod zurück ins Leben?

    Natürlich, sagt unser Predigttext und beschreibt diesen Weg mit einem starken Bild:
    Mit dem Bild eines Schuldscheins.

    Ein Schuldschein in der Antike ist keine Quittung, die jemand ausstellt.
    Einen Schuldschein schreibe ich mir selbst mit eigener Hand. Ich schreibe mir selbst zu, was ich getan und auf welche Schuld ich auf mich geladen habe. Dann gebe ich diesen Schein in fremde Hände.
    Der andere hat mich dadurch in der Hand, bis ich meine Schuld abgetragen habe.

    Das besondere am Schuldschein aus dem Kolosser Brief ist, dass dieser Schuldschein in die Hände Gottes gegeben wurde.
    Und Gott verwendet meinen Schuldschein nicht gegen mich.
    Er radiert das Geschriebene aus.
    Er nagelt mich nicht auf das fest, was ich getan habe.
    Der Schuldschein, der gegen mich gesprochen hätte, existiert nicht mehr.
    Gott hat ihn zerrissen.
    Ich bin frei. Ich kann neu anfangen.

    Dieser Neuanfang, oder dieser Empfang eines neuen Lebens, ist allerdings an eine Bedingung geknüpft:
    Ich muss an dem teilhaben, was mit Jesus geschehen ist.
    Bevor Jesus auferstehen konnte, musste er sterben und begraben werden. Wer mit Jesus auferstehen will, muss zuvor mit ihm sterben und begraben werden.

    Symbolisch geschieht das in der Taufe. „In der Taufe wurdet ihr mit ihm begraben. Mit ihm wurdet ihr auch auferweckt.“, steht im Predigttext.

    Das wurde in der Taufe der frühen Christen deutlich.
    Dreimal wurden sie ganz unter Wasser getaucht.
    Das Untertauchen symbolisiert den Tod, das Auftauchen dagegen das neue Leben.
    Und da die Taufe zugleich auch eine Reinigung ist, bleibt beim Untertauchen zurück, was von Gott trennt.
    Beim Auftauchen ist der Mensch wie neu.
    Ein neuer Mensch, der zu Gott gehört.

    Martin Luther hat das in seiner kraftvollen Sprache so beschrieben:
    „In der Taufe wird der alte Adam in uns ersäuft und stirbt mit allen Sünden und bösen Lüsten; und aufersteht ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.“

    IV. Gott will Neues mit mir anfangen

    Die Taufe ist mehr als ein Aufnahmeritual in die Gemeinde der Christen.
    Durch die Taufe wird ein Christ mit Christus verbunden – für immer!
    Und noch mehr:
    In der Taufe wird das alte Leben abgelegt. Da ist etwas zu Ende gegangen und endgültig vorbei.

    Von der Taufe her leben heißt, dass wir nicht mehr über die Vergangenheit definiert werden.
    Wie oft werden wir im Alltag auf unsere Vergangenheit reduziert.
    Auf das, was wir getan oder gelassen haben.

    Als getaufter Mensch kann ich immer sagen:
    Ich bin für Gott kein hoffnungsloser Fall.
    Er kennt mich.
    Er rechnet mit mir.
    Er wird nicht aufhören, in meinem Leben immer wieder Neues mit mir anzufangen.

    Und – das ist wirklich toll.

    Weil ich getauft bin, kann ich stets neu auf Gott zugehen.
    Keine Krankheit, keine Katastrophe, kein Schuldigwerden kann meinen Weg zu Gott verstellen.

    Darauf kann ich bauen.:
    Egal, was passiert – Gott ist für mich da!
    Egal, welche Entscheidung in meinem Leben nicht richtig waren – Das Leben geht weiter!
    Aus jeder Erfahrung kann Neues entstehen. Jesus starb und ist auferweckt worden.
    Und mit diesem Wissen können wir immer wieder neue Wege finden.
    Im Vertrauen auf Gott.

    Das hat er uns in der Taufe versprochen.
    Gott ist da!

    Amen


  • Predigt Unterensingen – 08.05.2022

    Predigt Unterensingen – 08.05.2022

    über 1. Mose 1-4a.26–31; 2, 1–4a

    Der Schöpfungsteppich, 11 – 12. Jahrhundert, Wandteppich, 365 × 470 cm, Kathedrale von Girona, Girona.
    Lizenz: Creative Commons license
    Quelle: Wikimedia Commons

    I. Das Gewebe des Lebens

    Im spanischen Girona ist aus dem 11. Jahrhundert einer der ältesten Teppiche Europas erhalten. Er zeigt die Schöpfungsgeschichte, wie sie die Bibel erzählt.
    Alle Geschöpfe sind eingewoben ein ein großes Rad.
    Erdige Rot-, Braun- und Grüntöne herrschen auf dem fein gewebten Tuch vor. Daneben ein tiefes Blau für den Himmel und darauf mit seidenen Fäden gestickt ein paar Tupfen, Funken von Gold für das strahlende Licht.

    Wie das Licht ist die Finsternis Teil von Gottes Schöpfung. Denn das Dunkle gehört in den Kreis des Lebens hinein.
    Der blühende, fruchtbare Garten hat seinen Platz darin und der reißende Strom.
    Das Unbekannte, das in der Tiefe wohnt, und das Leichte, Beflügelnde, für das die Vögel stehen mögen. Der wilde Löwe gehört dazu und das scheue Reh. Und schließlich auch Mann und Frau. Sie alle sind in dem Rad einander zugeordnet. Jedes hat sein Gegenüber. Keines steht für sich. Feine Fäden, sichtbare und unsichtbare, sind zwischen ihnen gesponnen.

    In der Mitte des Rades ist der Schöpfer angedeutet. Von ihm her strömt die Kraft zu, die alles belebt. Wer sich von dem Bild ansprechen lässt, wird in eine Bewegung hineingenommen, die zur Mitte führt. Von der Mitte her erst wird sichtbar, woher wir kommen und wohin wir gehen, was uns gegeben ist und was werden kann.

    Das ist die Bewegung, die auch die Schöpfungsgeschichte in 1. Mose 1 mit uns vollzieht. Sie führt uns von der Mitte her zur Mitte hin. So zeigt sie uns mit dem Ursprung auch das Ziel und im Ende den Anfang.

    Der Schöpfungsteppich, 11 – 12. Jahrhundert, Wandteppich, 365 × 470 cm, Kathedrale von Girona, Girona.

    Wie einen Teppich rollt die Geschichte die Schöpfung vor unseren Augen aus.  
    Sie macht das Gewebe des Lebens sichtbar. 
    Ein Gefüge unzähliger miteinander verknüpfter Fäden. 

    Die Erzählung fragt nicht, wie alles entstanden ist.  

    Das ist die Frage der Wissenschaft, und die hat ihr Recht!  

    Die Schöpfungsgeschichte verbietet diesen wissenschaftlichen Zugang nicht. Sie selbst wählt einen anderen.  

    Sie fragt:
    Was ist der Sinn des Ganzen?  

    Die Bibel beschreibt keine Naturgeschichte und liefert kein Entstehungsprotokoll ab, sondern sie bezeugt uns die Liebe Gottes zur Erde als seiner Schöpfung.  
    Sie will uns aufmerksam machen auf das, was unsere Erde und unser Menschsein bestimmt und auszeichnet.  
    Der Sinn der Schöpfung liegt darin, dass Gott sich seiner Welt zuwendet und ihr in Liebe zugewandt bleibt. 

    Diese bleibende Zuwendung kommt in dem kurzen Gotteswort zum Ausdruck: »Es werde Licht«!  
    Das Wort »Licht« meint nicht das Licht, das Sonne, Mond und Sterne ausstrahlen. 
    Die Gestirne werden nach der Erzählung erst am vierten Tag geschaffen. 

    Mit dem Licht des ersten Tages spricht Gott der Welt die grund-legende Lebensgrundlage zu. Es geht um das Licht seiner Liebe, das auf die Erde strahlt.  Das unterstreicht der Satz: »Gott sah das Licht, dass es gut ist« Es ist lebensvoll und lebensförderlich, wärmend und erleuchtend. 

    Gott sieht, was er geschaffen hat, als »gut«, am Ende sogar als »sehr gut« an.  
    In diesem liebenden Blick hat alles, was lebt, Ansehen bei Gott.
    In jedes Leben hat er den Glanz seiner Liebe hineingewoben. 

    Doch der Glanz scheint der Welt mehr und mehr verlorenzugehen. Wer Augen hat zu sehen und nicht wegschaut, sieht vieles, was nicht gut ist.

    Unsere Erde und das Leben auf ihr sind vom Tod bedroht. Die größte Gefahr sind wir Menschen selbst. Ein Riss geht mitten durch das fein gewebte Gefüge des Lebens hindurch.  

    Aus dem Miteinander von Mensch und Erde, von Mensch und Tier, von Mensch und Mensch ist ein Gegeneinander geworden. 

    Statt die Grenzen des anderen zu achten, überschreiten wir sie immer mehr.

    Wir haben die Erde rücksichtslos ausgebeutet und große Gebiete als Lebensraum vernichtet.  

    Die Gier der reichen Völker dieser Erde macht die armen Länder immer noch ärmer.  

    Wir zerstören die Ozonschicht und verändern das Klima mit schrecklichen Folgen.  

    Wir quälen die Tiere und rotten viele Arten aus.  

    Wir Menschen haben die Herrschaft über die Erde übernommen.  

    Was anfänglich ein Segen schien, ist für die Erde und das Leben auf ihr zum Fluch geworden.  

    Die Kreatur seufzt.  

    Nicht allein mit, sondern oft genug unter uns.

    Wir brauchen eine ernste Umkehr, einen veränderten Blick auf die Erde und einen neuen Lebensstil.  

    Wir brauchen es, dass wir mit den Augen Gottes auf die Erde und unseren Auftrag schauen lernen.  

    Die ersten Verse der Bibel wollen uns das Herz öffnen für solch eine neue Sicht. 

    In das Gefüge der Schöpfung werden die Menschen mit einem besonderen Auftrag eingewiesen.  

    Der Mensch ist darin das einzige Lebewesen, das Verantwortung übernehmen kann und soll.

    »Vom Herrschen« und »untertan Machen« spricht Luthers Übersetzung.  

    Das kann man leicht missverstehen.  
    Und es wurde oft unheilvoll angewendet.  
    Als solle und dürfe sich der Mensch der Erde gegenüber wie ein kriegerischer Feldherr verhalten oder gar gegen die Erde kämpfen.  

    Als gäbe der Schöpfergott zur Zerstörung und Ausplünderung unseres Planten sogar noch seinen Segen!  

    Doch ein Unterwerfen der Erde unter die Menschen oder gar ein Niedertrampeln von Tieren und Pflanzen ist hier nicht gemeint.  

    Es gibt Bilder aus dem Alten Orient, die zeigen den König, wie er einen Fuß sachte auf ein vor ihm lagerndes Tier setzt. Währenddessen wehrt er mit der Hand einen anstürmenden Löwen ab. Damit schützt er das schwächere Tier und erweist sich als sein Hüter. 

    Hirten und Hüterinnen der Welt zu sein, ist uns also aufgetragen, nicht sie auszubeuten.  

    Das Schwache in Schutz zu nehmen, die Erde gegen alle Mächte des Chaos zu verteidigen die gute Ordnung der Schöpfung zu bewahren, dazu hat Gott uns Menschen beauftragt.  

    Wir sollen stellvertretend für ihn, als seine königlichen Repräsentanten, uns um das Leben in seiner Schöpfung sorgen.  

    Das ist eine hohe Würde und eine große Verantwortung, die Gott seinen Menschen zumutet – und zutraut.  

    Solange sie nicht vergessen: »Der sogenannte »Herrschaftsauftrag« ist […] eigentlich ein »Hüteauftrag«!

    So hoch wir Menschen auch angesehen sind, wir sind nicht die Krone der Schöpfung.  

    Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat.  

    Nicht mit der Erschaffung der Tiere und der Menschen am sechsten Tag vollendete Gott die Schöpfung, sondern mit dem Sabbat. 

    Sabbat heißt »Aufhören«, »Ruhen«.  

    In der Ruhe vollendet sich die Welt und aus der Ruhe schöpft sie die Kraft für ihre Erneuerung. In die Ruhe ist Segen gelegt.  

    Nicht nur für uns, sondern für die ganze Schöpfung.  

    Sie bewahren, Hüterinnen und Hirten zu sein für sie, heißt nicht zuletzt: sie in Ruhe lassen! 

    Können wir das:  

    uns selbst, uns einander, unserer Welt die Ruhe gönnen?  

    Wir haben alle gelernt, vieles zu tun.  

    Wir haben es vielleicht sogar geschafft, manches gleichzeitig tun zu können.  

    Es ist uns gelungen, immer höher, schneller, weiterzukommen.  

    Doch noch mehr zu lernen haben wir, wie es geht, vieles nicht zu tun, auf manches zu verzichten.  

    Nach meiner Erfahrung ist die Ruhe für unsere körperliche und seelische Gesundheit lebenswichtig.  

    Sie gehört zum Grundrhythmus des Lebens. Es ist der uns von unserem Ursprung her gewährte Wechsel von Arbeit und Ruhe, von Tun und Lassen, von Einsatz und Erholung, der unser Lebensrad in Schwung und unsere Arbeitsfreude am Leben hält.

    Die ersten sechs Schöpfungstage werden jeweils abgeschlossen mit der Formel: »Und es ward Abend und Morgen …«  

    Beim siebten Tag fehlt der Abschluss. Deshalb nennt der Kirchenvater Augustin ihn den »Tag ohne Abend«.

    Der Sabbat öffnet die Schöpfung über die Grenzen der Zeit hinaus für Gottes Ewigkeit und uns Menschen für das Lob des Schöpfers.  

    Ich werde erinnert: Die Welt und ich selbst – wir sind nicht nur von ihm geschaffen, sondern wir sind auch zu ihm hin (3) geschaffen.  

    Ich erkenne im Ursprung auch das Ziel meines Lebens und glaube, wo ich das Ende wähne, an einen neuen Anfang.  

    An diesem »zu ihm hin« aber werde ich mein Leben lang zu üben haben. 

    Wie die Fäden eines Teppichs miteinander verknüpft sind, so sind wir mit Gott verwoben.  

    In ihm leben, weben und sind wir.  

    Und zu ihm hin hat er uns geschaffen.   Amen.

  • Wieviel Kapitel hat der Abschied? – Predigt zu Johannes 17, 1-8

    Wieviel Kapitel hat der Abschied? – Predigt zu Johannes 17, 1-8

    Wieviel Kapitel hat der Abschied?

    Das kann niemand sagen.
    Das können wir nur im Rückblick erkennen.

    Da waren wir das letzte Mal miteinander unterwegs.
    Da haben wir noch einmal zusammen gegessen.
    Da habe ich ihn das letzte Mal gesehen.
    Und das hat sie mir noch erzählt.

    Wenn jemand geht, ist die Welt nicht mehr, wie sie war.
    Und die Erinnerung sucht nach den letzten Momenten und den letzten Worten.
    Gerade, wenn da Fragen bleiben.
    Dann wendet die Erinnerung alles wieder und wieder um.

    Was hatte das zu bedeuten?
    Hatte das überhaupt etwas zu bedeuten?

    Aber statt einer Antwort bleibt es still.
    Die Stunde ist gekommen und die Zeit kommt zum Erliegen. 

    Jesus geht.

    Noch einmal haben sie zusammen gegessen, schon stiller als sonst.
    Und da war auch noch dieser seltsame, halb zärtliche, halb praktische Moment nach dem Essen.
    Jesus hat ihnen allen die Füße gewaschen und sie ihnen abgetrocknet, sich vor jeden einzelnen hingekniet.
    Auf den Knien ist er vor ihnen weitergerutscht, von einem zum andern.
    Und niemand von ihnen hat gewusst, wo er dabei hinschauen soll.
    Knapp über den Kopf, der sich über ihre Füße beugt, irgendwo in den Raum hinein.

    Gesagt hatte niemand etwas.
    Jeder von ihnen wusste:
    Das hier ist für immer.
    Nur Petrus nicht, mit seinem herausragenden Talent, zur falschen Zeit das Falsche zu sagen.

    Zum Glück redete dann fast nur noch Jesus, einen ganzen Abend lang.
    Ein, zwei Fragen noch aus ihrem Kreis.
    Und dann werden sie nach und nach still, damit er sprechen kann.
    Es wird dunkel, die Gesichter um den Tisch verschwimmen langsam, auch seines.
    Aber solange er redet, ist er noch da.

    Jeder von ihnen ahnt:
    Dafür gibt es nur ein Wort.
    Und das heißt Abschied.
    Die Stunde ist gekommen und jetzt ist sie da.

    Irgendwann ist Jesus fertig mit Reden.
    Und endlich haben sie das Gefühl, ihn verstanden zu haben.
    Das ist das unpünktlichste aller Gefühle.
    Es kommt immer erst dann, wenn einer gehen muss.
    Und „jetzt ist es viel zu früh zu spät.
    Weil die Zeit dich dann verlässt, wenn du sie am meisten brauchst“ (Enno Bunger).

    „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
    Das sind seine letzten Worte an sie.
    Es ist nicht schwer, sie sich zu merken.
    Denn sie sind wahr, jedenfalls der erste Teil.

    Und dann wendet Jesus sich von ihnen ab und sieht nach oben, so als sei da irgendetwas anderes als die Balken der Decke.
    Und er sagt:

    „Vater, die Stunde ist gekommen:
    Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche.
    Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.“

    Johannes 17,1.4f – Luther Bibel 2017

    Die Zeit kommt zum Erliegen, schon wieder, noch gründlicher.
    Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, das ist alles eins.
    Und alles ist Herrlichkeit.

    Dass sie sich die Sandalen nach dem Füße waschen, noch nicht wieder angezogen haben, erweist sich als äußerst angemessen.
    Sonst hätten sie die Schuhe gleich wieder ausziehen müssen.
    Denn der staubige Boden unter dem Tisch zu ihren Füßen ist auf einmal heiliger Boden.
    Die Zimmerdecke öffnet sich zum Himmel.
    Und auf dem Gesicht Jesu liegt ein Glanz von woanders her.

    Manchmal ist das so, beim Abschied.
    Da wird die Welt herrlich durchsichtig für einen Moment.
    Gestern, heute und morgen werden eins, für jetzt und für immer.
    Und dann ist es egal, wo man gerade ist und ob die Füße schon wieder schmutzig sind oder das Herz voller Angst.

    Da ist die Welt auf einmal doch zu überwinden.

    Wenn jemand geht, ist die Welt nicht mehr so wie sie war.
    Es ist still und leer.
    Und es ist laut und voll, mit allem, was diesen Menschen ausgemacht hat.
    Wir sind gewohnt, dann immer nur auf alles Unfertige zu schauen, auf das, was nicht oder nicht mehr getan worden ist.
    Oder auf das, was noch alles hätte getan werden können.
    Das quält uns so beim Abschied.

    Wie kann Jesus sagen, dass er das Werk vollendet hat, das ihm sein Vater gegeben hat?
    Was ist denn vollendet an diesem lockeren Freundeskreis aus ängstlichen Menschen mit schmutzigen Füßen?
    Die meisten überlegen doch schon, wo sie hingehen können, wenn es ernst wird.
    „Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das seine und mich allein lasst.“ (Joh 16,32).

    Sie spüren die schäbige Erleichterung darüber, dass Jesus gar nicht mehr mit ihnen rechnet.
    Und am Ende stehen dann auch nur noch die unter seinem Kreuz, die wirklich keine Entschuldigung haben:
    Die Mutter, die Tante, die Freundin und der beste Freund.
    Und trotzdem wird Jesus sagen: „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30)

    Es ist vollbracht.

    Im Abschied vollendet sich jedes Leben.
    Die Welt ist auf einmal still und leer.
    Und laut und voll von all dem, was einen Menschen ausgemacht hat.
    Weil vollendet etwas anderes heißt als fertig.

    Die Welt hat nicht angenommen, was Jesus gesagt hat.
    Selbst seine engsten Freunde haben ihn meistens nicht verstanden.
    Und es sieht nicht so aus, als würde irgendjemand sein Gebot ernst nehmen, dass wir einander lieben sollen.
    Die Welt war schon lange nicht mehr so unfertig wie jetzt gerade.
    Ein Krieg, schmutzige Füße, schmutzige Hände und die Herzen so voller Angst.

    Und gerade jetzt wird uns deutlich, was Jesus ausgemacht hat.
    Wie er auf einem Esel in die Stadt geritten ist.
    Und damit genauso sanft und genauso störrisch wie ein Esel die Bilder von Macht und Herrschaft in Frage stellt.
    Wie er auf den Knien vor seinen Freunden auf dem Boden herumrutscht und sich zu ihrem Diener macht.
    Wie er dann ganz allein mit den Soldaten geht.

    Diese letzten Bilder von Jesus, still und leer, laut und voll zugleich.
    „Nun ist die Botschaft verkündet und wird nicht mehr verstummen. Bis zum letzten Tage wird sie an die Herzen pochen. Die Welt ist anders geworden.“ (Romano Guardini)

    „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.“

    Johannes 17, 6-8 – Lutherbibel 2017

    Wenn jemand geht, ist die Welt laut und voll mit dem, was ihn oder sie ausgemacht hat.
    Und nichts ist dann dringender als der Wunsch, damit verbunden zu bleiben, weiter dazu zu gehören.

    Wie macht man das, mit Jesus verbunden bleiben?

    Denn die Welt ist die Welt.

    Sie ist der staubige und schmutzige Boden, auf dem wir gehen, manchmal ganz wüst und leer.
    Die Welt, das sind die Menschen um uns und wir selbst.
    Ängstlich, inkonsequent, furchtbar schwach, gerade dann, wenn es darauf ankommt.
    Die Welt ist die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein wird.

    Wer sich an Jesus erinnert, erinnert sich daran, dass die Welt trotzdem nicht an der Zimmerdecke aufhört.
    Es gibt einen Glanz in dieser Welt.
    Und Momente, die einem die Schuhe ausziehen, in denen die Zeit zum Erliegen kommt und die Welt herrlich durchsichtig ist.

    Und die Welt ist zu überwinden.
    Nicht, indem man sich aus ihr zurückzieht.
    Sondern indem man in sie hineingeht, genauso wie Jesus es gemacht hat.
    Sich seine Leute sucht und all ihre Unzulänglichkeiten in Kauf nimmt.
    Auf Eseln reitet, wann immer sich die Gelegenheit ergibt.
    Auf dem Boden herumrutscht, schmutzige Füße wäscht, ängstliche Herzen tröstet.
    Sich manchmal sehr allein fühlt.

    Das ist die Herrlichkeit, die diese Welt zu bieten hat.
    Denn sie ist doch gut gemacht.
    Es gibt so viel Gelegenheiten, die Welt, andere Menschen und nicht zuletzt sich selbst zu lieben, so zärtlich und praktisch zugleich.
    Das ist die Herrlichkeit, die wir haben.

    Amen

  • Wer unter euch der Erste sein will, der soll euer Diener sein – Predigt zu Markus 10, 35-45

    Wer unter euch der Erste sein will, der soll euer Diener sein – Predigt zu Markus 10, 35-45

    I. Immer erster sein

    Erster!  

    Triumphschrei in der Küche.  
    Zwei wilde Jungs kämpfen um den ersten Platz am Tisch.  
    Heute gibt es Pfannkuchen.  
    Ihr Lieblingsessen. 

    Erster sein.  

    Es steckt den Menschen in den Knochen:  
    Selbst im Dorf von Asterix und Obelix wird der Erste, der Chef Majestix auf einem Schild getragen und überragt dadurch – sofern er nicht, wie so oft, herunterfällt – alle anderen.  

    Erster sein – darin vermuten Menschen seit jeher Segen: 
    Jakob erlangt mit einer List und mütterlicher Hilfe das Recht des Ersten auf den väterlichen Segen.  

    Eltern nehmen viel Mühen auf sich, damit ihre Kinder zu den »Ersten« gehören:
    Damit sie auf die angeblich »höhere« Schule gehen können.
    Denn später werden nur die »Ersten« eines Jahrgangs die beliebtesten Studienplätze, die besten Ausbildungsplätze bekommen. 

    Die Ersten auf dieser Welt haben meine Anerkennung für ihren Einsatz und ich möchte nicht mit ihnen tauschen.  
    Regierungschefinnen und Regierungschefs sind zwar die »Ersten« ihres Landes, aber ihre Freude über die Erst-Platzierung wird nach der Wahl schon bald vergessen sein angesichts der Verantwortung und der Belastungen. 

    Dennoch – und angesichts unserer Demokratie sage ich »Gottseidank« – gibt es Menschen, die auf die ersten Plätze wollen und Verantwortung übernehmen in der Leitung von Schulen oder Firmen oder eben in der Politik. 

    II. Wer hat Führungsqualitäten

    Welche Charaktereigenschaften man dafür haben sollte, darüber gibt es eine Erzählung in der Bibel:  
    (Lesung des Predigttextes: Mk 10,35-45

    Führungsqualitäten hat, wer dienen kann – in den Augen Jesu. 

    Darum heißen Minister übersetzt nichts anderes als »Diener«, Staatsdiener: sie dienen den Menschen in diesem Land.  
    Wenn die »Ersten« in der Politik, die gewählten Ersten beim »Händeaufhalten« erwischt werden, leidet die Demokratie:
    Das Vertrauen der Menschen in ihre politischen Vertreter und Vertreterinnen verschwindet. 

    Wer unter euch der Erste sein will, der soll euer Diener sein.  

    In der Kirche Jesu Christi hat das Dienen Tradition: 
    Nicht nur in der katholischen Kirche gibt es Mönche und Nonnen im Dienst der Nächstenliebe.  
    Auch in der evangelischen Kirche gab und gibt es Menschen, die um »Gotteslohn« arbeiten:  
    Ehrenamtlich. Aber auch hauptberuflich:  

    »Mein Lohn ist, dass ich dienen darf« – das ist der Leitspruch der Diakonissen.  
    Bei ihrer Einsegnung erklären die Frauen im schwarzen Kleid und weißer Haube: »Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, dass ich dienen darf.«  
    Die Hand haben sie nur aufgehalten, damit ein anderer die seine hineinlegen konnte. 

    Sichern solche Lebensmodelle den besten Platz im Himmel?
    Die Diakonissen und die vielen in der Kirche in pflegerischen Berufen würden das – glaube ich – weit von sich weisen.  

    Wieso steht dann dieser seltsame Streit um die besten Plätze neben Jesus in der Bibel? 

    III. Links und Rechts von Jesus

    Schauen wir noch einmal genau hin:  

    Zwei Brüder beim Kampf um die ersten Plätze im Himmel.  
    Wie Kinder fragen sie Jesus heimlich, ob er ihnen etwas versprechen könnte.  
    Und wie Eltern, die solche Fragen von ihren Kindern kennen, fragt Jesus erst einmal zurück, was sie denn wollten. – 
    »Neben dir sitzen!«
    Ich finde, das ist doch eine ganz normale Frage für Kinder.  
    Das drückt doch ihre Zuneigung und Liebe aus. Und Platz wäre da für jeden der beiden Brüder:  
    Links und rechts von Jesus. 

    Sie malen sich das bestimmt schön aus:  
    Wie sie da am Tisch im Reich Gottes sitzen, an der Längsseite, dort wo immer der Ehrengast sitzt.  
    Und rechts und links schmiegen sie sich an Jesus, schauen zu ihm auf und – manchmal auf die anderen am Tisch mit diesem leisen Triumph in den Augen:  

    Erster bei Jesus, ihm ganz nah.
    Sie wären auch bereit, sagen sie, etwas dafür zu tun:  
    In die Nachfolge,  
    in die Leidensnachfolge Jesu einzutreten,  
    den Kelch zu trinken, den er zu trinken hat und  
    sich taufen zu lassen mit der Taufe, mit der Jesus getauft wird.  

    Sozusagen die Feuertaufe zu bestehen, den Test, ob sie es wirklich ernst meinen mit ihrer Liebe. 

    Das ist viel.  

    Mehr als wir uns wahrscheinlich zutrauen würden, wenn wir wählen müssten zwischen Christusbekenntnis und Leben.

    IV. Geschichte des Christentums

    Ich stelle mir vor, wie man sich in den ersten christlichen Gemeinden Gedanken darüber gemacht hat: 
    Was passiert, wenn man wegen seines Glaubens sterben muss, wenn man den gleichen Kelch trinken muss wie Jesus?
    Ob man so standhaft sein wird, so glaubensstark? 

    Und ich stelle mir vor, wie sich nach den ersten Verfolgungen die Christen gefragt haben:  
    Wo sind die Verstorbenen, die Märtyrer um Christi willen jetzt?
    Ob der oder die jetzt einen Platz an der Sonne haben, nach der Finsternis der grausamen Todesstunden?
    Wer von ihnen bekommt den Platz neben dem Herrn?

    In der Geschichte des Christentums hat sich dann daraus die Heiligenverehrung entwickelt und später die Vorstellung, dass man zu Gott, zu Jesus nur vordringen könne durch die Fürbitte dieser Heiligen.  

    Die Reformatoren lehnen – biblisch begründet – diese Vorstellung ab.  
    So ist es nachzulesen im Augsburger Bekenntnis.

    Schon Jesus weist die Bitte ab:  
    Zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben, steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.  
    Die Sitzordnung im Reich Gottes bestimmt ein anderer, sie wird auch erst noch erstellt. 

    V. Ein Witz

    Weil das so ist, gibt es so viele gute Witze, die sich am Eingangstor zum Himmel abspielen:  
    Ein Pfarrer und ein Busfahrer kommen nach ihrem Tod gleichzeitig an die Himmelspforte.
    Petrus öffnet ihnen, schaut sich die beiden genau an.
    Dann lässt er den Busfahrer eintreten, der Pfarrer muss draußen warten.  
    »Ich hör’ wohl nicht recht”,  
    beschwert sich der Pfarrer:  
    »Jetzt habe ich mein ganzes Leben in der Kirche verbracht und lange Predigten gehalten und komm noch nicht mal als Erster in den Himmel?«  
    »Tja, weißt du«, sagt Petrus: »bei deinen Gottesdiensten haben die Leute geschlafen, aber bei ihm im Bus haben alle gebetet!« 

    Die Kirchenmitgliedschaft allein ist kein Reservierungsticket für den besten Platz im Himmel. 
    Und ein kirchliches Amt ist sicherlich kein Freifahrschein in den Himmel.

    VI. Fazit

    Dreihundert Jahre nach der kindlichen Frage der beiden Jünger wurde das ganze römische Reich zum christlichen Abendland.  
    Aus den verfolgten Nachfolgern Jesu wurden Fürsten und Fürstbischöfe.  
    Aus Jüngern Jesu wurden Machthaber mit Unterdrückungsmethoden, und auch in der Kirche gab und gibt es bis heute Täter und Dulder von Missbrauch an Leib und Seele.

    Die Mahnung Jesu gilt bis heute.  

    Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.  

    Jesus holt die beiden Jünger von ihren Himmelsträumereien zurück in die Gegenwart.  
    Statt über Plätze im Himmelreich zu spekulieren, sollen sie sich einen Platz in der Welt, in der Nachfolge Jesu suchen. 

    Und das heißt:  
    Schluss mit den Rangeleien um die ersten Plätze.  
    Wer nach oben will, muss sich um die unten kümmern; 
    und wer oben ist, soll nicht nach unten treten:  
    Sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.  

    Amen.

  • Wo finde ich Gottes Gnade – Predigt zu 2. Korinther 6, 1-10

    Wo finde ich Gottes Gnade – Predigt zu 2. Korinther 6, 1-10

    Wo ist Gottes Gnade?
    Wo kann ich sie entdecken?

    Ich höre die Bundestagsdebatte und Worte wie:
    Zeitwende, Paradigmenwechsel, Aufstockung des Verteidigungshaushalts.
    100 Milliarden werden eben mal zur Verfügung gestellt.
    Für Waffen!
    Um wehrhaft zu sein. Verteidigungsbereit. Gnade?

    Ich höre aber auch nachdenkliche Worte.

    Das unsere Hände nicht sauber bleiben können.
    Dass wir nicht wissen, ob das, was jetzt richtig ist, auch morgen gut ist.
    Ich höre, wie die Abgeordneten miteinander ringen, miteinander suchen.
    Ja, die Tage davor haben auch an ihnen gezerrt.
    Ich sehe sie als Menschen, die wissen, wie groß ihre Verantwortung ist. Und ich bitte für sie um Gottes Gnade.

    Wo ist Gottes Gnade?
    Wo kann ich sie entdecken?

    Ich sehe diesen gnadenlosen Machthaber im Kreml.
    Ich höre seine Lügen, seine Sätze voller Demagogie.
    Das Netz flutet mich mit Bildern, wie er mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd reitet.
    Wie er am übergroßen Tisch sitzt – allein.
    Am anderen Ende irgendwelche Berater, wenn sie denn Berater sind. Gnade?

    Und ich denke:
    Wie einsam musst du, Vladimir, sein?
    Was hat deine Seele so vergiftet?
    Warum hast du nur Berater und dich herum, die dir immer zustimmen?
    Sie wollen weder dein Bestes noch das Beste des Landes.
    Und du offenbar auch nicht.

    Wie können wir dich bewegen, dein Herz zu spüren?
    Dein Mitgefühl nicht wegzudrücken? Und auch, wenn ich dich in die Hölle wünsche, bitte ich für dich um Gnade, Vladimir Putin.

    Und was sagt Paulus im 2. Brief an die Korinther 6, 1-10

    Nehmt die Gnade Gottes an, dass sie nicht ohne Wirkung bleiben soll, sagst du, Paulus.

    Es ist, als ob du mir einen riesigen Container hinstellst.
    Ein Container mit lauter Müll drin und ganz unten oder irgendwo dazwischen ist die Gnade versteckt.

    Kram sie hervor, sagst du.
    Sie ist da, sagst du.
    Sie ist auf jeden Fall da, die Gnade. „Siehst du sie etwa nicht?“, fragst du.

    Nein, sie ist untergegangen im Feuer im Atomkraftwerk.
    Sie ist verschwunden durch die Schüsse auf die Hochhäuser von Kiew. Sie ist versteckt im Wimmern der Alten, die sich in den U-Bahn-Schächten verstecken müssen und nicht wissen, ob sie in ihre Wohnungen zurückkönnen.

    Mit den Waffen der Gerechtigkeit kommen wir nicht mehr weiter.
    „Keine Gewalt, nur das Wort!“, hat einst Luther gesagt.
    Aber das zählt gerade nicht.

    Ja, jetzt ist von einer Zeitwende die Rede.
    Es ist die Zeit der Eskalation, der militärischen Stärke. Es ist nicht die Zeitwende, die der Gnade Raum gibt.

    Trotzdem ist die Gnade da

    Und doch ist die Gnade da, sagst du, Paulus
    Die Gnade.
    Die Menschenfreundlichkeit Gottes.
    Seine Liebe.
    Seine bedingungslose Liebe zu allem, das lebt und atmet und liebt, lacht und weint.
    Vielleicht ist sie verschüttet, aber sie ist da. Suche nach ihr, sagst du.

    Und ich denke an den Propheten, der sich Jesaja nennt.
    Er lebt im Exil, weit weg von seinem Zuhause.
    Seinen Leuten geht es dreckig.
    Er selbst wird verhöhnt.

    Trotzdem hört er Hoffnungsworte von seinem Gott und die gibt er weiter: „
    Sagt den Gefangenen:
    Geht hinaus!
    Sagt zu denen in der Finsternis: Kommt heraus!
    Ihr Erbarmer wird sie führen und sie an die Wasserquellen leiten.
    Ich will alle meine Berge zu ebenen Wegen machen und meine Pfade sollen gebahnt sein.“

    Er sagt es, obwohl er weiß, dass das außer ihm niemand sonst sieht und hört.
    Er klammert sich an Gott,
    an Gottes Wort.
    Er klammert sich an das, was Gott versprochen hat:

    Ich bin für euch da. Gerade für euch- und gerade jetzt.

    Es ist unser Auftrag, diese Gnade zu verkünden.

    Entgegen allem Augenschein.
    Entgegen allem Pessimismus.
    Entgegen jedem Frust.

    Wir Christen und Christinnen klammern uns an diesen Jesus, der in die Wüste ging und mit dem Teufel kämpfte.
    Und als dieser ihm anbot ihm die total Macht zu geben, da lehnte er ab.
    Weil er wusste:
    Ich gehöre nach ganz unten.
    Dort wo die Menschen sind.
    Wo sie lachen und weinen, klagen und schreien.

    Dort im U-Bahn-Tunnel in Kiew und in den Flüchtlingslagern Griechenlands.
    Dort am polnischen Grenzzaun, wo nur weiße Flüchtlinge durchgelassen werden.
    Dort gehöre ich nicht hin und nicht an den riesigen Tisch der Befehlshaber.

    An diesen Jesus klammere ich mich.
    An diesen Jesus, der mit Spucke und Lehm den Blinden beschmiert, damit dieser wieder sehen kann.
    Der um seinen Freund Lazarus weint und sich im Jordan taufen lässt, wie alle anderen Sünder auch.

    Ich klammere mich an diesen Jesus,
    der in einer Krippe geboren wird von einer jungen Frau, die nichts zählt.
    An diesen Jesus klammere ich mich, der seine Feinde liebt und mich auch und vermutlich sogar Putin.

    Ich bin froh, dass er es tut, denn ich kann es gerade nicht:
    Putin lieben und die Menschenverächter dieser Welt.

    Aber ich kann auf ihn zeigen, auf diesen Jesus. Der kann das, was ich gerade nicht kann.
    Und vielleicht genügt das.
    Jedenfalls im Moment.

    Ich suche nach der Gnade.
    Und vielleicht finde ich sie gerade nur bei diesem Jesus, der alles Furchtbare aushält.
    Der ans Kreuz geht.
    Der die Armen und Traurigen seligpreist und mir ein Senfkorn hinhält.
    Hier sagt er, ist das Reich Gottes.
    Das ist die große Liebe Gottes. Sie macht sich klein und ist doch unendlich groß.

    Ich suche nach der Gnade,
    nach der unendlichen Liebe Gottes,
    die sich so klein macht,
    dass ich sie übersehen und überhören könnte.

    Ich finde sie in den Worten von Annette Kurschus, der EKD-Ratsvorsitzenden, die sie in Berlin vor zigtausend Menschen gesprochen hat:

    „Lasst uns präzise bleiben in unserem Denken und Reden.
    In aller Empörung – wir bleiben dabei:
    Wir verweigern uns der Verführung zum Hass.
    Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt.
    Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen.“

    Und weiter: „Wo der Friede werden soll, da kommt es auf uns an.
    Es kommt auf uns an, die Worte zu wägen, Unrecht beim Namen zu nennen und doch nicht zu hassen.
    Es kommt auf uns an, den leidenden Menschen in der Ukraine, den verängstigten Menschen in unseren Nachbarländern unsere Solidarität zu zeigen.
    Keine billige, sondern eine, die uns etwas kostet.
    Es kommt auf uns an, den Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg stellen, unsere Achtung zu bezeugen.
    Es kommt auf uns an, den Menschen, die flüchten, zu helfen, ihren Weg zu öffnen, damit sie ihr Leben retten können, und sie aufzunehmen.“

    Gnadenworte.
    Und ich suche weiter nach der Gnade.

    Ich finde sie bei Anna und Ramon, die in Russland auf die Straße gehen und gegen Putin demonstrieren.
    Ich finde sie bei Liane, die für 5 Frauen mit 13 Kinder aus der Ukraine Unterkünfte gefunden hat.
    Ich finde die so große und so kleine Gnade bei Männern und Frauen in ukrainischen Dörfern, die sich mit bloßen Händen den russischen Panzern entgegenstellen und den Russischen Soldaten zu essen geben.
    Ich finde die Gnade in den Friedenslichtern, die überall entzündet werden.

    Ist das die Gnade, die du, Paulus meinst?

    Ist das die Gnade, die ich annehmen soll, damit sie nicht ohne Wirkung bleibt?
    Die Gnade in den Gegensätzen meines Lebens?

    Paulus, du sagst:
    „Wir sind von Tod bedroht, und seht doch: Wir leben!
    Wir werden ausgepeitscht und kommen doch nicht um.
    Wir geraten in Trauer und bleiben doch fröhlich.
    Wir sind arm und machen doch viele reich.
    Wir haben nichts und besitzen doch alles!“

    Und ich stimme ein: Ich bin erschöpft und trotzdem wach.
    Ich habe Angst und klammere mich trotzdem an die kleinen Hoffnungszeichen.
    Ich erlebe Krieg und glaube trotzdem an den Frieden.

    Ich habe nichts vorzuweisen und habe doch alles –

    Denn sie ist da, die Gnade, die unendliche Liebe Gottes.
    Sie ist da und ich suche weiter nach ihr.
    Gerade jetzt.
    Zusammen mit Jesus.

    Amen.