Schlagwort: Leid

  • GOTT hört – hört GOTT?

    Predigt zu Hebräer 5, 7 – 9, gehalten am Sonntag Judika (26.03.2023) in der Unterensinger Michaelskirche

    Jesus hat in den Tagen seines irdischen Lebens sein Bitten und Flehen mit lautem Schreien und unter Tränen vor den gebracht, der ihn vom Tod erretten konnte, und er ist erhört worden, weil er es aus Ehrfurcht vor Gott tat. Obwohl er Sohn war, lernte er an dem, was er litt, den Gehorsam. Dadurch wurde er zur Vollendung gebracht und ist zum Urheber ewigen Heils geworden für alle, die ihm gehorsam sind.

    Lutherbibel 2017

    Gott hört.

    Gott hört die Klage seines Volkes in Leid und Unterdrückung in Ägypten. „der Herr hört mein Weinen“, spricht der Beter im Psalm (Ps 6,9). Gott hört das Seufzen der unerlösten Schöpfung. Gott hört uns, selbst, wenn wir nicht wissen, wie wir beten können. Gott hört.

    Aber was so selbstverständlich klingt, ist oft zutiefst fraglich.
    Hört Gott?
    Wie viele Gebete in und an Krankenbetten bleiben ohne Antwort.
    Wie viel Leid und Verzweiflung in der Welt bleibt unbemerkt.
    Von Gott und der Welt verlassen müssen sich die Menschen in der Ukraine fühlen.
    Wie kann das sein?

    Hört Gott?
    Immer wieder die Frage, ja, die Anklage:
    „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien! Schweige nicht zu meinen Tränen!“ (Ps 39,13)
    „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“ (Ps 22,3)
    „Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss auf meinen Gott.“ (Ps 69,4)

    Hört Gott?
    Manchmal ist kein Zeichen da, nicht die leiseste Antwort.
    Das Entsetzen ist groß, verlassen zu sein, vergessen, gleichgültig.
    Das Schlimmste wäre ein tauber Gott, kalt und beziehungslos.
    Es klingt in manchen der Psalmen, als wollten die Beter Gott verzweifelt wachrütteln und zu einer Antwort zwingen.
    Keineswegs sind wir immer gewiss, dass Gott uns hört.

    Menschen im Leid haben das Gefühl, dass Leere sie umgibt, Gleichgültigkeit, Nichts.
    Die Beter der Psalmen bedrängen Gott.
    Sie beten dennoch weiter.
    Sie schreien ihm noch ihr letztes verzweifeltes Warum ins Ohr.
    Sie sagen Gott, dass sie an ihm leiden, mit ihm nicht fertig werden, von ihm enttäuscht sind.
    Ihr Glaube ist zerrieben in schlimmen Erfahrungen.
    Aber sie warten trotz allem auf Antwort.
    Sie sind wie der Vater des kranken Kindes: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
    Oder wie Jakob, der mit Gott wie mit einer unheimlichen Macht kämpfen muss: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
    Unser Predigttext zeigt uns Jesus in einem solchen Ringen mit Gott.

    Jesus weint.

    Wir denken an sein Gebet am Abend vor seinem Tod.
    Da ist er nicht souverän und gelassen.
    Jesus hat Angst.
    Er sucht den Beistand seiner Freunde und steht allein da.

    Er fleht, er bittet, dass der Kelch des Leides an ihm vorübergehe.
    Immer wieder betet er und wird in diesem Fall nicht erhört.

    Wir meinen, irgendwann müsste Gott doch tun, was wir uns wünschen.
    Er muss doch unser Leid wenden, wenn wir ihn so inständig anflehen.
    Gott ist doch gnädig – er muss doch!
    Nein.
    Jesu Bitte um Verschonung vor dem Leid bleibt unerhört.

    Mancher meint:
    „Nun bin ich von Gott enttäuscht.
    Ich glaub nicht mehr an ihn.
    Er hat mir ja nicht geholfen, obwohl ich so sehr gebetet hab.“

    Hören Sie eines der „Gebete an unerträglichen Tagen“, geschrieben von der Theologin und Therapeutin Antje Naegeli:
    „Voller Entsetzen ist mein Herz angesichts der endlosen Schrecken, die du zulässt im Leben des Menschen, den ich liebe.
    Völlig hilflos zu sein vor so viel auswegloser Not bringt mich der Verzweiflung mehr als nahe.
    Ich bin wie gelähmt.
    Wo bist du, Gott?
    Warum lieferst du ihn so unermesslichem Leid aus?
    Du bist ein Gott, vor dem ich mich fürchte.
    Und doch kann ich vor dir nur zu dir flüchten.
    Bettlerin möchte ich sein vor dir, rufen und schreien, schreien und rufen, bis du dich erbarmst.“

    Jesus flüchtet vor Gott zu Gott.
    Er hört nicht auf zu rufen.
    Er schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
    Gott ist fern.
    Jesus ist gottverlassen.
    Und doch ruft er zu Gott.
    Jesus kennt unsere Angst.
    Er kennt alle Tiefen des Leides.
    In allem, was uns bedrängt, können wir auf ihn sehen, wissen wir: er versteht. Auf unseren Leidenswegen geht er mit uns.

    Dennoch hört Gott.

    Unser Predigttext spricht von Ostern, wenn er sagt:
    Gott hat Jesus erhört.

    Über unser Bitten und Verstehen hört Gott.
    Gott hört.
    Das sehen wir an Jesus.
    Das feiern wir an Ostern.
    Er beantwortet die Tränen, den Schrei, auch wenn Jesus den Kelch des Leids bis zum Ende trinken muss.

    Jesus „lernte an dem, was er litt, den Gehorsam.“

    Wir stellen uns Jesus oft als Lehrer vor.
    Er lernt auch.
    Er geht durch eine harte Schule des Leidens.
    Pädagogen sagen, wir lernen am besten in dem, was uns Freude macht.
    Aber wir wissen:
    Auch in Krisen und Leidenszeiten lernen wir.
    Das Leid zeichnet Spuren in unser Leben.

    Jesus lernt den Gehorsam.
    Er lernt hören, hören auf Gott, obwohl er Gottes Sohn ist.
    Er lernt auf seinem schweren Weg in der Kraft Gottes zu gehen.
    Er lernt: Gott gibt mir die Kraft, wenn es sein soll, was auch geschieht.
    Nie wendet Jesus sich ab und sucht eigene Wege.
    „Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst. Dein Wille, Gott, geschehe.

    Hilf mir doch, ihn zu sehen.
    Ich glaube, hilf meinem Unglauben!
    Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“

    Jesus wehrt sich gegen das Leid und nimmt es doch an.
    Er weicht nicht aus.
    Er lässt sich ein auf das, was er noch nicht versteht.

    Jesus lernt hören und Gott erhört ihn.

    Ein glückliches erlösendes gegenseitiges Hören.
    Gott hört auf Jesus.
    Jesus hört auf Gott.

    So kommt auch unsere Klage zu Gott.
    So sammelt Gott unsere Tränen in seinen Krug, wie es einmal wunderschön heißt.

    Kein Wort verhallt ungehört.
    Kein Mensch wird überhört und übersehen.
    Kein Leid eines Menschen ist ein unbedeutender Kollateralschaden im großen Spiel.
    So gleichgültig geht die Welt am Leid einzelner Menschen vorbei.
    Fast unberührt hören wir die Zahlen der Opfer von Krieg, Gewalt, Hunger und Erdbeben.
    Aber Gott bleibt nicht unberührt.
    Gott hört und Gott leidet mit jeder und jedem von ihnen.

    Für alle, die auf Jesus hören, erschließt sich ewiges Heil, so heißt es dann.
    Gott hört uns, und nun sollen wir hören.

    „Ihr seid schwerhörig!“

    beklagt sich der Briefschreiber zwei Verse später.
    Wir sind oft wie taub für den Ruf unserer Mitmenschen und damit für Gott.
    Wir wollen nicht hören, wir stellen uns taub.
    Wenn es eine politische Botschaft aus dem Predigttext zu sagen gibt, dann wohl, dass wir uns nicht taub stellen können und dass wir keinem vertrauen dürfen, der gleichgültig über das Leid anderer hinweggeht oder gar zu Hass und Gewalt aufruft.
    Menschen in Not klopfen an unsere Tür und wir dürfen nicht unsere Ohren, Augen und Herzen zumachen, so als gingen sie uns nicht an.
    Wir wissen noch lange nicht, wie wir ihnen gerecht werden können, aber wir sollen es versuchen.

    Gott sei Dank:

    Gott hört.

    Keine und keiner ist ihm gleichgültig.
    Lernen wir zu hören, aufmerksam für unsere Mitmenschen und für Gott.

    Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen

  • Leidenszeit – Predigt zu Hiob 2, 1-13

    Leidenszeit – Predigt zu Hiob 2, 1-13

    Gehalten am 26.02.2023 in Wolfenhausen und Nellingsheim

    I. »Auch der Satan« –
    Wenn unmoralische Angebote locken

    Jemand macht mir ein interessantes Angebot.

    Ich weiß:
    Ganz in Ordnung ist die Sache nicht, irgendjemand hat das Nachsehen.
    Aber es ist schwer zu widerstehen.
    Kleine oder größere Versuchungen.

    Fällt ihnen ein Moment im Leben ein, als ein ebenso zweifelhaftes wie attraktives Angebot im Raum stand?

    Wie haben Sie reagiert?

    Nicht immer bleiben wir in solchen Situationen standhaft.
    Das ist nicht gut. Aber menschlich.

    Bei Gott allerdings sollte es anders sein, oder?
    Jesus, das haben wir in der Schriftlesung (Matthäus 4, 1–11) gehört, hat dem Versucher widerstanden.
    Und Gott selbst?

    Kann er in Versuchung geraten? Anscheinend schon!

    Was steht da im Buch Hiob?

    21Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den Herrn traten, dass auch der Satan mit ihnen kam und vor den Herrn trat.
    2Da sprach der Herr zu dem Satan: Wo kommst du her? Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Ich habe die Erde hin und her durchzogen. 
    3Der Herr sprach zu dem Satan: Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen auf Erden nicht, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben.
    4Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Haut für Haut! Und alles, was ein Mann hat, lässt er für sein Leben. 
    5Aber strecke deine Hand aus und taste sein Gebein und Fleisch an:
    Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen! 
    6Der Herr sprach zu dem Satan: Siehe da, er sei in deiner Hand, doch schone sein Leben!

    Lutherbibel 2017 – Hiob 2, 1-6

    II. »Du aber hast mich bewogen« –
    Wenn Gott selbst sich verführen lässt

    Es ist eine ebenso berühmte wie verstörende Geschichte, die das Hiobbuch erzählt.

    Gott und der Satan verhandeln in aller Seelenruhe miteinander über das Schicksal eines unschuldigen Menschen – und stürzen ihn ins Verderben.

    Und das passiert nun schon zum zweiten Mal!
    Schon einmal, so wird zu Beginn des Buches Hiob erzählt, haben sich Gott und Satan getroffen.
    Und Gott hat schon einmal stolz von seinem vorbildlichen Diener Hiob erzählt.
    »Kein Wunder, dass er fromm ist«, hat Satan, der Versucher, erwidert.
    »Du hast ihm ja alles gegeben, was er sich wünscht. Wenn du ihm das alles nimmst, dann – du wirst sehen – wird es mit seiner Frömmigkeit vorbei sein.«

    Und Gott hat sich versuchen lassen.
    Er hat dem bösen Spiel zugestimmt.
    Und Hiob hat alles verloren:
    sein Vieh, seine Knechte und schließlich auch alle seine Kinder, sieben Söhne und drei Töchter.

    Ein unfassbares Leid.

    Jetzt ist Satan schon wieder bei Gott.
    Denn Hiob hat an Gott festgehalten, trotz allem.
    Gott wird jetzt klar, was er angerichtet hat:
    »Du, Satan, hast mich bewogen« – man könnte auch übersetzen: Du hast mich verführt –, »ihn ohne Grund zu verderben.«

    Das sagt Gott selbst. Eine grausame und sinnlose Aktion!

    Aber Satan wäre nicht Satan, wenn er jetzt locker lässt:
    »Wenn es Hiob selbst an den Kragen geht«, so legt der Versucher nach,
    »wenn Hiob krank wird und er Angst hat zu sterben, dann wird auch er den Glauben verlieren.«

    Und wieder lässt Gott sich hinreißen.
    Er lässt das Böse geschehen und wird so selbst zu einem, der vernichtet.

    Wie geht es weiter?

    7Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob 
    mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. 8Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche.

    Lutherbibel 2017 – Hiob 2, 7-8

    III. »In der Asche«
    – Wenn Menschen am Boden sind

    Was immer in Gott vorgegangen ist, warum auch immer es so weit kommen musste – das Ergebnis ist schrecklich.

    Hiob ist am Boden, sitzt in der Asche.
    Asche zu Asche, Staub zum Staube …
    – viel näher kann man dem Tod nicht kommen, als Hiob es nun ist.
    Hiobs Leiden ist extrem – aber viele von uns haben Erfahrungen gemacht, die daran erinnern:

    Der liebenswürdige, engagierte Nachbar bekommt Krebs und ist nur noch der Schatten seiner selbst. Die lebensfrohe, hilfsbereite Freundin wird von ihrem Mann verlassen und kämpft mit einer schweren Depression.

    Jemanden so zu sehen und nichts tun zu können, das ist schwer zu ertragen.
    Besonders unerträglich wird es, wenn einer der liebsten und nächsten Menschen so leidet und plötzlich nicht mehr der ist, der er einmal war.
    Wenn dann noch die Pflege Kraft kostet, das Geld knapp wird, Bekannte sich zurückziehen:
    Das macht hilflos – und auch wütend.

    So geht es auch Hiobs Frau.

    Lesen Sie weiter aus Hiob 2:

    9Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! 
    10Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? 
    In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.

    Lutherbibel 2017 – Hiob 2, 9-10

    IV. »Hältst du noch fest?« –
    Wenn Angehörige verzweifeln

    Traversi – Hiob von seiner Frau verspottet

    Hiobs Frau:
    Sie hat ihre sieben Kinder verloren, und nun auch noch den tatkräftigen, erfolgreichen Mann, den sie einmal hatte.

    Geblieben ist einer am Boden, ein Schwerkranker.

    Für Hiobs Frau ist das offenbar zu viel.
    Sie kann nicht mehr.
    Was hat das Leben so noch für einen Wert?
    Was hat der Glaube für einen Wert, wenn Gott in solchem Elend nicht hilft, sondern es immer schlimmer macht?

    Für Hiobs Frau ist die Antwort klar: Es hat keinen Wert.
    »Fluche Gott und stirb!«, sagt sie.
    Für mich ist ihr Satz ein Ausdruck der Verzweiflung.
    Der Text und erst recht seine spätere Auslegung deutet auf eine andere Spur.
    Hiobs Frau wurde nicht als trauernde Mutter, nicht als verzweifelte Angehörige wahrgenommen.
    Sie galt stattdessen als vermeintliches Beispiel für die Schwäche von Frauen allgemein – oder, noch schlimmer, wie schon Eva, als Gehilfin des Versuchers.

    Nur die griechische Übersetzung des Alten Testaments macht da eine Ausnahme.
    Da gibt es zusätzliche Verse, in denen Hiobs Frau ihr Leid klagt.
    Sie klagt über den Verlust ihrer Kinder.
    Sie klagt über die Krankheit ihres Mannes.
    Und sie klagt über ihr eigenes Schicksal als Frau:
    »Ich irre umher […] als Tagelöhnerin«, heißt es da, »von Ort zu Ort und von Haus zu Haus, und warte darauf, wann die Sonne untergehen wird, damit ich ausruhe von den Qualen und Beschwerden, die mich umfangen.«

    Hiobs Frau ist am Ende.
    Hiob selbst aber bleibt zunächst standhaft.
    Was er sagt, weckt jedenfalls den Eindruck, dass er innerlich noch Herr der Lage ist:
    »Wenn wir das Gute von Gott empfangen, sollten wir dann nicht auch das Böse annehmen?«

    Das ist ein weiser Satz – aber angesichts seines Leids ist eine solche Haltung übermenschlich.
    Seine Frau hat nicht die Kraft, seinen Weg weiter mitzugehen.
    Trotzdem bleibt Hiob nicht allein.

    11Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort:
    Elifas von Teman,
    Bildad von Schuach und
    Zofar von Naama.
    Denn sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. 
    12Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt 
    13und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.

    Lutherbibel 2017 – Hiob 2, 11-13

    V. »Sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war«
    – Wenn Freunde da sind

    Hiobs Freunde – sie kommen von weit her.
    Ja, oft ist es wichtig, Abstand zu haben, um jemandem beistehen zu können.
    Das, was seine Frau nicht schafft – die Freunde können es, weil sie nicht selbst betroffen sind.

    Eberhard von Wächter – Hiob und seine Freunde

    Was Elifas, Bildad und Zofar tun, ist bemerkenswert – und beispielhaft.
    Es fängt damit an, dass sie hören, was geschehen ist.
    Und dass sie sich das, was sie hören, zu Herzen nehmen.
    Hiobs Schicksal setzt sie gemeinsam in Bewegung.
    Als sie ankommen, schauen sie nicht weg, sondern sehen hin.
    Was sie sehen, macht sie betroffen – und sie zeigen ihre Gefühle.
    Und dann sind sie einfach da.
    Sie setzen sich zu Hiob hinunter auf die Erde und sagen nichts.

    VI. »Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt?«
    – Wenn wir gefragt sind

    Hiob, seine Frau und seine Freunde – drei Einsichten aus ihrer besonderen Geschichte sind mir wichtig geworden:

    Die erste ist:
    In Extremsituationen stoßen Menschen an Grenzen.
    An Grenzen ihrer Liebe.
    An Grenzen ihrer Hoffnung.
    Und auch an Grenzen ihres Glaubens.
    So wie Hiobs Frau.

    Und wie Hiobs Frau sagen und tun auch andere dann im Zweifelsfall Dinge, die ihnen selbst und ihrem Umfeld wehtun.

    Aber ich bin überzeugt: Wenn es so ist, dann ist das ein Verzweiflungsschrei.

    Und es bringt nichts, Menschen deswegen zu ermahnen oder gar zu verurteilen.
    Im Gegenteil, es ist wichtig, zu sehen, was wirklich los ist.
    Es ist im wahrsten Sinne des Wortes »Notwendig«, zu helfen, wenn es möglich ist.
    Und es ist wichtig, immer zu bedenken:
    Niemand macht es ganz und gar richtig.

    Wenn das Elend groß ist, kann jeder und jede von uns sich nur hilflos vortasten.
    Selbst die zunächst vorbildlichen Freunde Hiobs versuchen später in langatmigen Diskussionen, eine einleuchtende Begründung für Hiobs Lage zu finden.
    Hiob selbst tut das nicht gut.

    Die zweite Einsicht stammt von Hiobs Freunden.
    Die Freunde machen mir klar:
    Es ist wichtig, nicht wegzulaufen, wenn es einem Freund, einer Kollegin, einem Nachbarn richtig schlecht geht.
    Es ist wichtig, hinzugehen.
    Auch wenn ich das Gefühl habe, es nur falsch machen zu können.
    Auch wenn nichts, was ich sagen könnte, einen Sinn zu ergeben scheint.

    Meist braucht es keine großen Worte.
    Es genügt zu zeigen:
    Ich sehe, wie es dir geht.
    Ich höre dir zu, wenn du möchtest.
    Ich bin für dich da, so gut es eben geht.

    Und was ist mit Gott, mit dem Glauben?
    Ein Gott, der sich versuchen lässt, ein Gott, der zerstörerisch wirkt – das ist die größte Herausforderung für den Glauben.
    Auch Hiob hält seine übermenschliche Leidensbereitschaft nicht durch.
    Auch er bricht zusammen.
    Er stimmt eine herzzerreißende Klage an:
    »Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin.«
    So beginnt er.

    Die dritte Einsicht ist eine, die ich neben Hiob auch Martin Luther verdanke.

    Luther hat die Abgründe gesehen, die sich auftun können, wenn man sich zu sehr in das Grübeln über Gott und das Leid in der Welt verstrickt und überhaupt nicht mehr herausfindet.
    Er kannte die Versuchungen, die auch darin lauern:
    Man resigniert und hofft überhaupt nichts mehr.
    Oder man wird zynisch und redet abwertend von Gott und vom Glauben.
    Luther kam deshalb zu der Einsicht:
    Gottes verborgene, dunkle Seite, die muss man ruhen lassen.
    Man kann sie sowieso nie ergründen.

    Dagegen soll man sich ganz fest an den halten, in dem Gott uns nahe gekommen ist: an Jesus, an seine Liebe, an sein Mitleiden.
    Ja, in Jesus setzt sich Gott zu uns ganz unten in den Staub.
    So wie die Freunde Hiobs es gemacht haben.
    Und in Jesus bleibt Gott bei uns, wenn niemand anders es mehr bei uns und mit uns aushält.
    Er hört uns, wenn wir klagen – und auch, wenn wir ihn anklagen.
    Und er verspricht uns, dass das Leiden und der Tod nicht das letzte Wort haben.
    Sondern dass am Ende das Leben gewinnt.
    Trotz allem.
    Amen.

  • Das Ineinander von Leiden, Freude und dem Getröstet werden – Predigt zu 2. Korinther 1,3-7

    Das Ineinander von Leiden, Freude und dem Getröstet werden – Predigt zu 2. Korinther 1,3-7

    Predigt in Altenriet und Neckartailfingen

    Sie steht auf der Bühne.
    Eine schmale Frau mit einem ausdrucksstarken Gesicht.
    Ihr braunes Haar reicht ihr fast bis zur Hüfte.
    Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, wenn das Licht drauffällt, glitzert es.
    Die Geige liegt auf ihrer Schulter.
    Sie führt den Bogen konzentriert.
    Mit den Augen folgt sie den Noten aufmerksam.
    Nur manchmal, ganz kurz, schließt sie die Augen.
    Auf der Bühne kann sie alles vergessen.

    Die junge Frau heißt Vera.
    Seit zwei Wochen ist sie eine Geigerin internationalen Ranges.
    Ihre Bühne ist der Luftschutzkeller in Charkiw.
    Ihr Rampenlicht ist eine nackte Glühbirne.
    Sie spielt für Menschen, die mit ihr Zuflucht vor den Bomben gesucht haben.
    Mit ihrer Musik spendet Vera Trost.
    Mitten in einer Zeit schwerer Bedrängnis tröstet sie Menschen mit ihrem Geigenspiel.

    Sie sagt:
    „Wir sind hier im Luftschutzkeller zusammen als Brüder und Schwestern.
    Während des wollte ich, dass sie an etwas anderes denken als den Krieg – für eine kleine Weile.“

    Vera erhält viele Nachrichten von Menschen.
    Sie schreiben ihr:
    „Deine Videos unterstützen uns und machen uns Mut. Sie tragen uns durch die schwere Zeit.“

    Ortswechsel

    Ich stehe mit meinem Nachbarn am Gartenzaun.
    Schön ist es in der Frühlingssonne zu stehen.
    Wir reden über den Krieg in der Ukraine.
    Über unsere Angst, dass sich der Krieg ausbreiten könnte.
    Wir reden über die Schwere, die sich in den letzten Wochen über uns gelegt hat. Das Entsetzen über die Grausamkeit dieses Krieges.

    Plötzlich sagt mein Nachbar zu mir:
    „Ich beneide dich um deinen Glauben.
    Das gibt dir Halt.
    Ich weiß nicht wohin mit meiner Sorge um die Zukunft der Welt.“

    Ich schaue ihn an.
    Auf seiner Stirn stehen Sorgenfalten.
    Er versucht zu lächeln, aber es gelingt nur schwer.

    So stehen wir in der Sonne am Gartenzaun. Wir reden und schwiegen. Schweigen und reden.
    Als wir uns verabschieden bleibt für mich die bohrende Frage:
    Wie kann ich andere trösten, mitten in einer schweren Zeit, in Zeiten der Bedrängnis?
    Im Krieg.
    Oder in der Zeit einer schweren Krankheit.
    Oder wenn ein Kind verloren ist.
    Was schenkt da Trost?

    Da gibt es die Variante der Trostbüchlein.
    Die mit Rosen vorne drauf und der verschnörkelten Überschrift.
    Und drinnen Sprüche wie: „Zeit heilt alle Wunden“ oder „Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen“.
    Aber das tröstet nicht wirklich.
    Es ist eher ein Kleinreden des Leides.
    Es ist gut gemeint, Trost spendet es eher nicht.
    Es deckt die Wunde nur zu.
    Dann muss wieder alles funktionieren.

    Doch so schnell geht es nicht, das echte Trösten.
    Dafür braucht es Zeit und Hingabe.
    Dazu versuche ich mich in die andere Person hineinzuversetzen und leide mit ihr.
    Für eine Weile.

    Dafür gibt es ein wunderbares Wort: die com-passio – Das Mit-Leiden.
    Ich stelle meine Situation, meine eigenen Themen und Probleme zurück.
    Ich stelle mich ganz auf mein Gegenüber ein.
    Damit beginnt für mich das Trösten: hinsehen, hinhören, Leid miteinander aushalten.
    Das ist ein erster wichtiger Schritt.

    Das Geigenspiel von Vera im Luftschutzbunker in Charkiw spendet genau in dieser Hinsicht Trost.
    Es hilft uns innezuhalten, und wir schauen hin, wir hören hin, wir leiden mit.

    Als Christ weiß ich: Das ist ein wichtiger Teil des Trostes – aber nicht alles.
    Wir Menschen können uns nicht selbst trösten.
    Dazu sind die Schicksale zu hart.
    Die Bombenangriffe zu extrem.
    Wir Menschen sind auf Trost von außen angewiesen. Auf Trost von Gott, der das Leiden kennt, wie kein anderer.

    Wenn meine eigenen Worte zum Trost nicht ausreichen, dann leihe ich mir deshalb gerne Worte aus der Bibel, aus alten Liedern oder aus dem Schatz der christlichen Tradition.

    Auf meiner Suche nach Trost bin ich in diesen Tagen auf den Heidelberger Katechismus gestoßen.
    Das ist das Bekenntnisbuch der reformierten Kirche und in ihm werden die grundlegenden Fragen des christlichen Glaubens behandelt.
    Also alle Fragen rund um Gott, den Schöpfer, Jesus Christus und den Heiligen Geist.

    Die Frage nach dem Trost hat im Heidelberger Katechismus einen prominenten Platz. Sie steht gleich an erster Stelle.
    Dort heißt es:
    „Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben?“
    Und die Antwort lautet:
    „Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“

    Das sind – zugegeben – altertümliche Worte. Fast 560 Jahre ist der Heidelberger Katechismus schon alt. Und deswegen versuche ich sie für mich, für meinen Nachbarn und für sie ins Heute zu übersetzen.

    Mein Trost angesichts dieser Weltlage ist, dass ich als Christ nicht für mich selbst lebe.
    Trotzdem bin ich Gott dankbar für mein Leben – meinen Leib und Seele.
    Und ich weiß – egal was kommt: Ich bin und bleibe ein Kind Gottes.
    Meine Hoffnung und mein Trost ist:
    Gott wird nicht zulassen, dass die Welt im Atomkrieg versinkt.
    „Denn – so spricht Gott – ich weiß wohl was ich für Gedanken über euch habe:
    Gedanken des Friedens, dass ich Euch gebe Zukunft und Hoffnung (Jer 29,11)

    Heute am Sonntag Lätare,
    dem kleinen Osterfest mitten in der Passionszeit,
    da versuche ich, mich nicht vom Krieg in der Ukraine lähmen zu lassen.
    Sondern:
    Ich sehe Gottes Trost als Vorzeichen für unser Leben.

    Vorzeichen bestimmen die ganze Musik.
    Das weiß die Geigerin Vera Lytovchenko besser als jede andere Person im Luftschutzkeller in Charkiw.
    Mit ihrer Musik spendet sie Trost und wandelt die Herzen der Menschen.

    Jeder Ton ist eine Aufforderung nicht im Hass und Selbstmitleid zu versinken, sondern von mir abzusehen und mit anderen zu einer Gemeinschaft des Friedens und des Zusammenhaltens zu wachsen.

    Wenn ich als Christ den Trost als Vorzeichen meines Lebens sehe, dann heißt das für mich:
    Ich lege meine Angst vor der Zukunft ab.
    Ich übergebe sie Gott, der von den Toten auferstanden ist und von dem ich glaube, dass er uns vom Bösen erlöst.

    Getröstet und befreit kann ich dann einstimmen in das Loblied aus dem 2. Korintherbrief:
    Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.

    Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

    Amen.