Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a
13. Sonntag nach Trinitatis – Wolfschlugen 29.08.2021
Unser Predigttext steht im 1. Buch Mose 4, 1-16
Das Schlimmste ist das Schweigen.
Kain redet nicht mit Abel.
Dabei gäbe es viel zu reden:
Über Eva, die Mutter, die bei Kains Geburt jubelt und bei Abels nicht.
Über die Namen, die ihnen die Eltern gegeben haben:
Kain lässt sich vermutlich „von erwerben/erschaffen“ ableiten,
Kain, der Erschaffene/Erworbene.
Der Name könnte auch von „Lanze“ kommen.
Abel dagegen heißt übersetzt „Windhauch“ oder auch „Nichts“.
Es sind schicksalhafte Namen, die für jedes Kind zu schwer wären.
Was haben sich die Eltern dabei gedacht?
Wie können Eltern ein Kind „Nichts“ nennen?
Das wäre doch schon Gesprächsstoff für die Brüder genug, oder?
Und müsste nicht eigentlich Abel der Zornige sein?
Aber sie sprechen nicht miteinander.
Sie könnten über noch mehr reden:
Kain wird Ackerbauer, und Abel Viehzüchter.
Sie gehen verschiedene Wege – schon die ersten Menschenkinder sind verschieden, und wir sind es nach ihnen.
Wir haben verschiedene Berufe, verschiedene Lebensentwürfe, verschiedene Vorlieben, wir mögen verschiedene Musik, wir wählen verschieden, wir lieben verschieden…
Wir hätten uns so viel zu erzählen:
Wie siehst Du das?
Wie verstehst Du das?
Wovon träumst Du?
Was würdest Du heute anders machen?
Aber sie reden nicht miteinander, die ersten Menschenkinder.
Das Schweigen ist das Schlimmste.
Und dann kommt der Tag, an dem Kain und Abel Gott opfern.
Sie ehren ihn beide.
Kain opfert Früchte des Feldes, Abel opfert ein Lamm.
Beide opfern, was sie haben.
Aber Gott sieht nur Abel, den „Windhauch“, und sein Opfer gnädig an.
Kain und sein Opfer sieht er nicht gnädig an.
Er ignoriert Kain.
Das Schlimmste ist das Schweigen.
Kain redet nicht mit Abel.
Dabei gäbe es jetzt so vieles zu fragen:
„Warum du und ich nicht? Verstehst du das?“
Kain redet auch nicht mit Gott.
Dabei ist gerade das das Naheliegendste:
„Warum, mein Gott, ignorierst du mich?
Ich bin doch wie Abel dein Menschenkind!
Sag mir, Gott, was das soll!
Sag mir, Gott, warum die einen leben, als würdest du sie bevorzugen – und die anderen leben, als sähest du sie gar nicht?
Wie soll ich mir diese Ungleichheiten erklären?
Was hast du, Gott, damit zu tun?“
Aber Kain redet nicht mit Gott.
Er hätte schreien und toben können.
Gott zur Rechenschaft ziehen.
Er hätte mit Gott in einen heiligen Streit eintreten können.
Manchmal gibt Gott ja nach.
Manchmal lässt er sich überreden.
Wie er sich von Mose nach der Geschichte mit dem Goldenen Kalb überreden lässt, sein Volk doch nicht zu vernichten. (2. Mose 32)
Oder so wie Jesus sich von der kanaanäischen Frau überreden lässt, ihre Tochter zu heilen, obwohl er zu Beginn gesagt hat: „Sie gehört nicht zu Israel. Ich bin nicht zuständig.“ (Matthäus 15, 21-28)
Manchmal bereut Gott sogar, was er getan hat:
Im Buch des Propheten Hosea stürzt Gott deswegen in eine tiefe Krise.
Er müsste, aber er kann sein Volk nicht verlassen; er leidet unter seinem eigenen Beschluss, und nimmt ihn am Ende zurück.
30 x ist immerhin von der Reue Gottes in der Bibel die Rede!
Aber Kain versucht es erst gar nicht.
Er redet nicht mit Gott.
Kein einziges Wort.
„Du ignorierst mich?! Ich ignoriere dich.“
So staut sich in Kain der wortlose Zorn an.
Das Schlimmste ist das Schweigen.
Darum ergreift nun Gott das Wort.
Er stellt Kain Fragen.
Fragen, die Kain zum Reden bringen und damit Schlimmeres verhindern wollen:
„Warum ergrimmst du?
Warum guckst du nach unten und schaust niemanden an?
Wenn du Gutes tust, kannst du allen frei ins Gesicht sehen. Ist es nicht so?
Und wenn du nicht Gutes tust, dann lauert die Sünde vor der Tür.
Du aber herrsche über sie, damit sie nicht über dich herrscht.“
Kain antwortet nicht.
Von Gott zur Rede gestellt verhält er sich wie ein bockiges Kind, das die Arme verschränkt und die Lippen zusammenpresst.
Gott hat Fragen an uns.
Gott ist in Sorge, dass unser bockiges Schweigen zur Brutstätte des Bösen wird.
Er ruft:
„Rede doch, Menschenkind!
Rede mit mir!
Rede dir deinen Grimm von der Seele, deinen Frust, deinen Hass, deinen Neid, dein Nichtverstehen, deine Wut – rede dir das von der Seele, bevor du dich nicht mehr selbst beherrschen kannst und deinen Verstand verlierst!“
Aber Kain redet nicht mit Gott.
Das Schlimmste ist das Schweigen.
Stattdessen geht er mit Abel auf das Feld.
Die Lutherbibel lässt Kain hier das erste Mal reden: „Lass uns, Abel, aufs Feld gehen.“
Aber das gibt der Originaltext nicht her.
Da steht einfach nur:
Sie gehen aufs Feld.
Vielleicht hat es Luther auch nicht ertragen, dass Kain nicht spricht.
Sie gehen schweigend aufs Feld.
Die Brüder hätten sich so viel zu sagen, aber sie reden nicht miteinander.
Aus dem schrecklichen Schweigen entsteht die furchtbare Tat.
Kain erhebt sich gegen Abel, er macht sich groß, the greatest, und schlägt Abel tot.
Jetzt ist Abel, was sein Name immer vorhergesagt hat: Er ist ein Nichts.
Ob Kain hofft, dass mit Abels Beseitigung in seinem Herzen jetzt Ruhe einkehrt?
Vermutlich.
Kain hat das Ventil in seinem Innern gelöst.
Sein aufgestauter Zorn, sein Neid – jetzt sind sie raus, sind in der Welt.
Und wer soll es schon gesehen haben?
Es gibt ja nur diesen einen Bruder.
Kain braucht fortan keinen Vergleich mehr mit irgendjemandem zu fürchten.
Sein Opfer wird in Zukunft das einzige sein.
Er muss mit niemandem mehr teilen.
Er hat alles für sich allein.
Jetzt muss er nicht mehr reden.
Jetzt – kann er nicht mehr mit Abel reden… „
Da ergreift Gott ein zweites Mal das Wort.
Wieder stellt er Kain eine Frage: „
Wo ist dein Bruder Abel?“
Vielleicht ist es Gottes drängendste Frage überhaupt:
„Wo ist dein Bruder Abel?“
Was antworten wir, wenn Gott uns heute diese Frage stellt: „Wo ist dein Bruder Abel?“
Sagen wir die bittere Wahrheit oder schieben wir die Verantwortung so lange von A nach B und B nach C und C nach D, bis sie sich verflüchtigt und niemand mehr weiß, wie die Frage eigentlich lautete:
„Wo ist dein Bruder Abel?“
Ich schau mich um in der Welt.
Ich sage nur: Afghanistan.
Die Bundestagsmehrheit hat im Mai den Antrag abgelehnt, viele gefährdete Menschen schnell zu retten.
Und nun ist das Desaster da.
Wir hätten viele rechtzeitig retten können.
Nun werden viele davon sterben.
Und aus vielen Ecken höre ich es raunen:
»Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?«
»Mir doch egal, geht mich nichts an, keine Ahnung,
interessiert mich auch nicht.
Wir können ja nicht die ganze Welt retten.«
Ich schaue aufs Mittelmeer.
Da ertrinken nach wie vor tausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben.
»Wo ist dein Bruder Abel?«
Und aus vielen Ecken höre ich es rufen:
»Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?«
»Ist mir doch egal, wir können nicht noch mehr aufnehmen, das sind doch alles nur Wirtschaftsflüchtlinge.
Geht mich nichts an, interessiert mich auch nicht.
Hauptsache, die bleiben weg.«
Ich sehe im Fernsehen die Bilder von »Fridays for Future«.
Kinder und Jugendliche gehen auf die Straße.
Für ihre Zukunft.
Das ist komisch.
Als ich ziemlich jung war, also vor 30, 40 Jahren, da habe ich ganz oft gehört, wie Erwachsene gesagt haben:
»Ich will, daß es meinen Kindern mal besser geht«.
Diesen Satz höre ich heute nirgendwo mehr.
Ganz im Gegenteil.
Die jungen Leute werden lächerlich gemacht:
»Die sollen lieber zur Schule gehen.«
Und sie werden gedemütigt, verspottet, in den Dreck gezogen, und in den finsteren rechten Ecken des Internets wünscht man den jungen Frauen Vergewaltigungen an den Leib.
Sie gehen ja nicht auf die Straße, weil sie irgendwas mehr haben wollen.
Sondern weil sie überhaupt noch leben wollen auf diesem geschundenen Planeten.
Sie wünschen sich nichts weiter als Zukunft.
Und die Wissenschaft bestätigt das, was sie sich wünschen.
»Wo ist dein Bruder Abel?«
»Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?«
Das tönt aus vielen finsteren Ecken.
Es tönt von den Verspottern und Egoisten und denen, die einfach nur alles lassen wollen, wie es ist –
»nach mir die Sintflut«.
»Ist mir doch egal, was geht’s mich an, interessiert mich nicht, laßt mich in Ruhe, was gehen mich die kommenden Generationen an.
Was gehen mich die Leute in Afghanistan an?
Was kümmern mich die Menschen auf dem Mittelmeer?
Was kümmert mich fremdes Elend?«
„Ich weiß nicht“, sagt Kain, „soll ich meines Bruders Hüter sein?“
Eine handfeste Lüge gepaart mit einer frechen Gegenfrage.
Wir wissen, wo unser Bruder Abel ist.
Er ist tot.
Erschlagen, geköpft, zertrampelt vor den Toren eines Flughafens, aus Versehen von der sicheren Liste gestrichen, ohne bürokratisches Reisevisum stehengelassen, im Mittelmeer ertrunken, weil wir die rechten Wähler nicht verlieren und unseren Wohlstand nicht teilen wollen.
„Wo ist dein Bruder Abel?“
Gottes Stimme gellt über diesen Planeten.
„Was hast du getan?“
Das Schweigen auf diese Frage ist das Schlimmste.
Kain aber hat sich geirrt.
Von wegen „niemand hat es gesehen“!
Gott hat gesehen.
Gott hat gehört.
Der Mensch, der Kain ein Nichts war, ist Gott alles.
Der Mensch, den Kain beseitigt hat, ist bei Gott präsent.
Am Tag der Toten, dem Allerseelen, sprechen die Menschen in Mexiko ihre Toten mit Namen an und dann rufen sie „El esta presente“:
Er/Sie ist hier, gegenwärtig.
Kain kann Abel töten, er kann Abels Blut vergießen, aber er kann nicht verhindern, dass das Schreien des Blutes von der Erde bis zum Himmel dringt – bis an Gottes Ohren.
Und ehrlich, ist das in diesen Tagen auch mein Trost.
Gott hört das Schreien des vergossenen Blutes, es wird sich nicht in eine schnell vergessene Radiomeldung verwandeln, es bleibt Gott im Ohr, gegenwärtig, „el presente“.
Kain hat sich geirrt, und er irrt sich ein zweites Mal:
Sein Bruder ist zwar tot,
er muss das Feld nicht mehr mit ihm teilen,
aber das Blut seines Bruders hat die Erde erschöpft.
Sie gibt ihren Ertrag nicht mehr her.
Das ist mehr Konsequenz als dass es Strafe ist.
Kain muss erkennen, dass alles zusammenhängt, der Brudermord hängt mit der Ernte zusammen, unser Umgang miteinander mit der Natur.
Das Netz, das Gott in der Schöpfung geknüpft hatte, ist zerrissen.
Am Ende spürt Kain die Schwere seiner Tat.
Er hatte sich mit der Beseitigung seines Bruders Erleichterung verschaffen wollen, aber jetzt erkennt er: „Die Strafe ist zu schwer“, sagt er, „ich kann sie nicht tragen.“
Hört Ihr es?
Kain bricht sein Schweigen.
Jetzt, wo er Angst hat, dass sich an ihm wiederholt, was er seinem Bruder angetan hat (dass er zum „Abel“ wird), da redet er mit Gott.
Aufrichtig.
Keine Lüge kommt mehr aus seinem Mund, kein frecher Spruch mehr, kein Verantwortung von sich schieben.
Das macht ja auch keinen Sinn mehr.
Kain klagt Gott: „Siehe, ich muss jetzt fort von hier. Der Acker gibt den Ertrag nicht mehr her. Darum muss ich fortgehen, unstet und flüchtig über die Erde ziehen. Wer mich findet, wird mich totschlagen.“
Aber Kain irrt sich noch ein drittes, letztes Mal:
Gott greift dem Rad der Gewalt in die Speichen.
Er macht an Kain ein Zeichen, ein Tattoo, dass Menschen davon abhält, ihn, den Mörder, zu töten.
Kain hat ein schweres Leben vor sich, aber die Gnade Gottes geht mit ihm.
Die Geschichte von Kain und Abel ist unserer aller Geschichte.
Sie wiederholt sich jeden Tag.
Aber sie muss sie nicht jeden Tag wiederholen.
Sie wird uns erzählt, damit sie sich nicht wiederholt.
Schon das ist Gnade.
Das Schlimmste in der Geschichte ist das Schweigen.
Mit Gott und miteinander reden, zuhören, fragen, in die Schuhe der anderen steigen, streiten um das, was wichtig ist – ändert Geschichte.
Amen.
- Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten. – Predigt zu 1. Korinther 6,9-14.19-20
- Klagen erlaubt