Kategorie: Mose

  • Der Bund im Regenbogen

    Der Bund im Regenbogen

    Predigt zum 20. Sonntag nach Trinitatis am 02.11.2025 in Neckartailfingen und Altdorf über 1. Mose 8,18–22.9,12–17,

    Vor langer Zeit lebten die Menschen, wie sie wollten.
    Ein jeder wollte nach seiner Fasson glücklich werden.
    Tagein tagaus lebten sie auf ihre Weise.
    Jeder schaute nach sich selbst.

    Unter ihnen lebte ein Mann, der einen anderen Weg wählte.
    Er lebte mit Gott.
    Die Bibel nennt ihn einen Gerechten.
    Entgegen allen Logiken folgte er Gottes Auftrag, als dieser ihn mit der größten nur denkbaren Rettungsaktion der Menschheitsgeschichte beauftragte.

    Um wen handelt es sich?


    Um Noah.
    Obwohl es weit und breit kein Meer gab, baute er ein großes Schiff.
    Im Vertrauen auf Gottes Auftrag machte er sich an dieses große Projekt.

    Als die Wasser der Sintflut kamen, vertraute er ein weiteres Mal auf Gottes Auftrag und stieg in die Arche.
    Wochen und Monate vergingen.
    Dann war die Katastrophe vorbei. Noah stieg aus der Arche …

    Hier beginnt unser Predigttext:
    Lesen des Predigttextes: 1. Mose 8,18–22; 9,12–17


    Neubeginn

    Stellen wir uns Noah vor.

    Wie er den Fuß auf den Boden setzt – zögernd, tastend.
    Die Erde ist noch feucht, weich wie eine Wunde.
    Kein Vogelruf. Keine Stimmen. Nur ein tastendes Schweigen.
    Ein Licht, das noch nicht warm ist. Wie der erste Tag nach einem langen Fieber.

    Was er sieht, kennen wir:
    Bilder nach Fluten – Ahrtal, Jamaika, Kuba, Haiti.

    Jedes Mal dieselbe Verwüstung.
    Häuser fortgerissen. Erinnerungen versunken.
    Eine Landschaft, die nicht mehr antwortet.

    Und doch – Noah bleibt nicht stehen.

    Er sammelt Holz. Reste von etwas, das einmal Leben war.
    Und er baut – keinen Schutzwall.
    Sondern einen Altar.

    Dort, wo andere sagen würden: „Hier ist kein Gott mehr.“
    beginnt er zu sagen: „Hier bete ich ihn an.“

    Nicht mit Worten.
    Mit Rauch.
    Mit Dank.

    Mitten im Ruin erhebt er nicht die Faust, sondern sein Herz.

    Vielleicht ist das der erste Satz nach der Katastrophe:
    Nicht „Warum?“ –
    sondern „Du warst da.“

    Noah dankt – bevor Gott antwortet.

    Noch kein Regenbogen.
    Noch kein gesprochenes Versprechen.
    Nur der nackte Boden einer entstellten Welt
    und das leise Aufsteigen von Rauch.

    Es ist, als ob dieser Rauch nicht nur zu Gott aufsteigt –
    sondern die Welt wieder mit dem Himmel verbindet.
    Eine dünne, zerbrechliche Linie zwischen Erde und Ewigkeit.

    Und dann geschieht es.

    Nicht mit Donner. Nicht mit Gericht.
    Sondern mit einem Satz, den niemand erwartet hätte:

    „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen.“

    Gott — sieht dieselbe Wirklichkeit wie Noah.
    Er verharmlost sie nicht.
    Er sagt nicht: „Die Menschen sind gut.“
    Er sagt: „Ich weiß, wie sie sind. Ich kenne den Abgrund in ihrem Herzen.“
    Und genau dort — wo der Mensch unzuverlässig bleibt —
    entscheidet Gott sich, verlässlich zu sein.

    Nicht, weil der Mensch sich gebessert hätte.
    Sondern weil Gott sich bindet.

    Und so spannt sich über diese Wunde der Welt ein Zeichen,
    ein niemals verdientes, nur geschenktes Zeichen:

    Ein Bogen.
    Kein Kriegsbogen nach vorn.
    Sondern ein umgedrehter, entwaffneter Bogen.
    Von Himmel zu Erde gespannt.
    Nicht auf uns gerichtet – sondern für uns gehalten.

    Es ist, als sähe man Gottes Herz sichtbar werden.
    Zart. Unbewaffnet.
    Nicht Forderung – sondern Verheißung.
    Nicht Misstrauen – sondern Treue.
    Nicht Angst – sondern Liebe.

    Der Regenbogen steht.
    Nicht als Dekoration.
    Sondern als göttliches Gegenwort gegen alles, was zerstört.

    Gott sagt nicht: „Ich hoffe, ihr macht’s diesmal besser.“
    Er sagt: „Ich bleibe — selbst wenn ihr Fehler macht.“

    Der Regenbogen ist kein moralisches Mahnzeichen.
    Der Regenbogen ist ein Gnadenzeichen.
    Kein Appell an uns, sondern eine Verpflichtung Gottes an sich selbst.

    „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken —
    und ich will daran denken.“

    Ein Bogen, der Brücken spannt, wo alles zerbrochen ist.
    Ein Bogen, der nicht uns erinnert, sondern Gott.
    Ein Zeichen nicht von Menschen nach oben,
    sondern von Gott nach unten.


    Unsere Welt ist nicht heil

    Unsere Welt ist nicht heil.
    Wir haben Bilder von überfluteten Dörfern,
    von brennenden Wäldern,
    von zerbrochenen Städten,
    von Menschen auf der Flucht – im Blick und im Herzen.

    Nicht weit weg.
    Nicht theoretisch.

    Angst liegt in der Luft.
    Eine Angst, die, wie ein feiner, giftiger Staub, jede Zukunftserzählung überzieht.

    Und genau in diesen Horizont hinein
    legt Gott uns — keinen Plan — sondern einen Bogen vor die Augen.
    Nicht als Garantie auf Leichtigkeit.
    Sondern als Verheißung seiner Gegenwart.
    Nicht: „Fürchtet euch nicht — es wird nichts passieren.“
    Sondern:
    „Fürchtet euch nicht — ich bin da, was auch geschieht.“


    Was bedeutet dieser Bund — für uns?

    Er bedeutet nicht, dass wir die Augen schließen vor dem, was kaputt ist.
    Im Gegenteil.
    Wer den Regenbogen sieht, sieht die Welt klarer.

    Aber nicht mehr ausgeliefert.
    Nicht mehr ohnmächtig.
    Nicht mehr getrieben von Angst.

    Sondern getragen von einem Grund, den wir nicht selbst legen müssen.

    Noah war nicht stark, weil er keine Angst hatte.
    Er war stark, weil er aus der Dankbarkeit heraus handelte, nicht aus der Panik.

    Vielleicht ist das der stille Ruf dieses Bundes:

    Erkenne das Heilige — mitten in der Zerstörung.
    Atme — bevor du handelst.
    Danke — bevor du begreifst.
    Vertraue — bevor du siehst.

    Gott wartet nicht, bis wir vollkommen sind.
    Er fängt bei uns an — da, wo wir gerade stehen.
    Zwischen Ruinen, Fragen, offenen Enden.

    Unser Auftrag?

    Nicht „Wir retten die Welt.“ ist der Auftrag an uns.
    Sondern:
    „Wir lassen uns rufen — in die Treue Gottes hinein.“

    Und Treue ist das Gegenteil von Resignation.
    Treue ist das Gegenteil von innerem Rückzug.
    Treue ist nicht Starrheit —
    sondern ein Herz, das bleibt, wo andere schon aufgegeben haben.

    Damit beginnt Bewahrung.
    Damit beginnt Heilung.
    Damit beginnt Hoffnung.
    Damit bleiben wir handlungsfähig.


    Vielleicht stehen Sie morgen oder übermorgen auf und spüren die Unsicherheit:
    Wie soll ich leben?
    Wie kann ich das Gute tun?
    Wie kann ich inmitten von Gewalt, Zerstörung, Klimakrise bestehen?

    Die Bibel hat eine Antwort:
    Schauen Sie auf den Regenbogen.
    Er ist ein Zeichen der Treue Gottes.
    Gott verlässt Sie nicht.
    Gott gibt die Erde nicht auf.

    Dann bitte ich Sie:
    Atmen Sie tief durch.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue stärker ist als Ihre Angst.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue stärker ist als die Gewalt dieser Welt.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue Ihnen Orientierung gibt:
    nicht durch starre Regeln, sondern durch die Freiheit, die aus der Liebe erwächst.

    Ich wünsche uns, dass wir in dieser Woche den Regenbogen sehen.
    Egal, ob im Himmel, im Mitmenschen oder im eigenen Herzen.
    Damit wir daran erinnert werden, dass Gottes Bund stärker ist als alles Leid,
    dass seine Treue uns trägt,
    dass sein Geist uns Orientierung schenkt.

    So segne Sie der Gott des Lebens,
    der alle Kreatur und alle Menschen liebt,
    der sein Wort hält, der seinen Bund nicht vergisst,
    der Ihnen Kraft, Weisheit und Hoffnung schenkt – heute und alle Tage Ihres Lebens. Amen

  • Gott sehen Predigt zu 2. Mose 33, 18-23

    Predigt vom 15.01.2023 in Frickenhausen

    Manchmal wünsche ich mir, dass Gott sich mir zeigen würde. 

    Natürlich weiß ich, dass man Gott nicht sehen kann. 
    Doch es gehört zu meinen größten Sehnsüchten:. 

    • Wenn ich in im Glauben wanke.
    • Wenn ich mich mit meinem Kollegen über Gott streite. 
    • Wenn ich denke, dass, wenn er sich nur zeigen würde, die Welt um einiges besser sein würde. 
    • Wenn ich Leid begegne. 
    • Wenn ich Angst habe. 
    • Wenn ich mir nicht sicher bin, ob mein von mir gemachtes Bild von Gott auch das richtige ist. 

    In der Bibel, im ersten Testament (2. Mose 33, 18-23), finden wir eine entsprechende Geschichte.

    Für mich ist diese Erzählung eine der intensivsten Geschichten in der Bibel und ich verstehe den Wunsch des Mose durchaus, dass er Gott sehen will. 

    Aber der Zeitpunkt ist wirklich ungünstig gewählt. 
    Gerade war ja erst die Sache mit dem goldenen Kalb passiert.  

    Ihr erinnert euch? 

    Die Sache mit dem goldenen Kalb

    Das Gottesvolk wandert durch die Wüste und erreicht den Heiligen Berg Sinai. Mose steigt auf diesen Berg, um sich von Gott die Gebotstafeln abzuholen. Mose bleibt lange, zu lange auf dem Berg.  Da beginnt das Volk zu meutern. Sie fühlen sich verlassen von ihrem Führer und von Gott. Weder Mose noch Gott sind zu sehen. Darum machen sie sich jetzt selber wieder ihre Götter – allen voran das bekannte Goldene Kalb. 

    Mose war ziemlich sauer, als er vom Berg herunterkam. Deshalb zerschmetterte er die Tafeln mit den Zehn Geboten am nächstbesten Felsen. Und Gott war auch ziemlich sauer und sagte: „Für euren weiteren Weg durch die Wüste sende ich meinen Engel vor euch her. Aber ich selber komme nicht mehr mit. Es könnte sonst sein, dass ich mich unterwegs vor Zorn vergesse.“ 
    Mose hatte es dann aber irgendwie doch geschafft, Gott zu besänftigen. Er schaffte es sogar ihn zu überzeugen, dass er doch mitkommt. 

    Kehrt Gott der Welt den Rücken zu?

    Und kaum sagt Gott: Ja, ich komme mit, da kommt Mose mit dieser dreisten Bitte: „Aber ich will dich sehen. Ich will deine Herrlichkeit sehen. Zeig mir dein Gesicht. Ich will endlich wissen, mit wem ich es zu tun habe.“ Und was antwortet Gott? „Kein Mensch kann mich sehen und dabei am Leben bleiben. Mose, du kannst mich mal … von hinten… sehen, wenn ich an dir vorübergehe.“ Hat Gott ein Hinten? 

    Manchmal habe ich den Eindruck, dass Gott dieser Welt den Rücken zukehrt. Als ging es ihn einen feuchten Kehricht an, was in dieser Welt so passiert. 

    Ich höre ja so manches aus Familien, und das gibt es ja wirklich alles: Hass, Gewalt, Missbrauch, Mord. 

    Ich sehe diese ganzen selbstgerechten Diktatoren. Ich sehe den Krieg in der Ukraine. Den Hunger in der Welt. Und nicht zuletzt und immer noch diese bekloppte Pandemie. Dreht Gott dieser Welt den Rücken zu? 

    Gottes unbegreifliche Seite

    Ich glaube:
    Gott hat eine unbegreifliche Seite. Er ist eben nicht nur der liebe Gott, dieses zahnlose Großväterchen auf der Wolke. Gott ist immer auch unbegreiflich. 

    Ein Theologe sagte,
    Gott ist der ganze Andere, immer. Wir werden ihn nie ganz erfassen können. 

    Sieht Mose also die unbegreifliche Seite Gottes? Oder was meint das, wenn er Gott von hinten sieht, obwohl wo er doch Gottes Herrlichkeit sehen wollte? 

    Die Raum Zeit Koordinate

    Diese Geschichte ist, wie das ganze Alte Testament, in Hebräisch geschrieben. Und mit dem Hinten ist das im Hebräischen so eine Sache.  Die Raum-Zeit-Koordinate ist sprachlich nämlich genau umgekehrt zur unseren. 

    Also wir sagen: Das alte Jahr liegt hinter uns, ein neues Jahr liegt vor uns. Die Vergangenheit ist hinten, die Zukunft ist vorne. 
    Das ist für uns sprachlich vollkommen klar. Und genau das ist im Hebräischen genau umgekehrt. 

    Die Vergangenheit kennen wir, die liegt uns vor Augen, die sehen wir vor uns. Aber die Zukunft, die können wir noch nicht sehen, die ist hinter uns und schaut uns vielleicht schon über die Schulter. 

    Die Ankündigung: „Du wirst mein Hinten sehen“, könnte also bedeuten. Du wirst mich in Zukunft sehen. Du wirst hinterher erkennen, im Rückblick, wo ich gewesen bin, wo meine Herrlichkeit war. 

    Feiert das Leben

    „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“, so schreibt Johannes am Anfang seines Evangeliums. In Jesus, sagt er, hat Gott seine Herrlichkeit gezeigt, hat er sein Gesicht gezeigt, und wir haben es erst hinterher richtig verstanden. 
    Und dann erzählt er das erste Wunder, das Jesus tat. Auf der Hochzeit zu Kanaa verwandelt er Wasser in Wein. Wo Jesus ist, da wird das Leben zum Fest. Und dieses Fest endet nicht. Das Leben ist wunderbar. Feiert es, sagt Jesus. 
    Und dann geht er zu denen mit den kleinen Herzen und den dunklen Geheimnissen. Zu den Zöllnern und den anderen Außenseitern. Er geht zu allen. Und er lädt sie zum Essen ein und feiert mit ihnen. Er macht ihr Leben für einen Moment zu einem Fest. 
    Deshalb können die Menschen hinterher sagen: „Ich glaube, ich habe Gottes Herrlichkeit gesehen“.
    Und genau so war es schon bei Mose. Gott sagt dort: „Ich werde meinen Namen ausrufen. Und dieser Name lautet: Ich bin barmherzig, auch zu dir.“ 

    Und dann sagt er zu Mose: 
    Da ist ein Ort bei mir. Eine Felsspalte. Birg dich dort. Und wenn ich an dir vorübergehe, halte ich meine Hand über dir. 

    Ich mag diesen Gott.

    Ich mag diesen Gott. Ja, er ist unbegreiflich und manchmal scheint er wirklich dieser Welt seinen Rücken zuzuwenden. Aber dann kommt er plötzlich in unser Leben, und sagt zu mir, sagt zu dir: Hej, da ist ein Ort bei mir, ein Zufluchtsort. Birg dich bei mir, kuschle dich ein. Und ich halte meine Hand über dir, Und ich pass auf dich auf, komme was wolle. 

    Mensch vergiss nicht:  
    Du bist wertvoll, so wie du bist. 
    Und das Leben ist ein Fest. 
    Feier es. 
    Und leuchte und strahle. 
    Und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über uns. 
    Amen. 

  • Predigt Unterensingen – 08.05.2022

    Predigt Unterensingen – 08.05.2022

    über 1. Mose 1-4a.26–31; 2, 1–4a

    Der Schöpfungsteppich, 11 – 12. Jahrhundert, Wandteppich, 365 × 470 cm, Kathedrale von Girona, Girona.
    Lizenz: Creative Commons license
    Quelle: Wikimedia Commons

    I. Das Gewebe des Lebens

    Im spanischen Girona ist aus dem 11. Jahrhundert einer der ältesten Teppiche Europas erhalten. Er zeigt die Schöpfungsgeschichte, wie sie die Bibel erzählt.
    Alle Geschöpfe sind eingewoben ein ein großes Rad.
    Erdige Rot-, Braun- und Grüntöne herrschen auf dem fein gewebten Tuch vor. Daneben ein tiefes Blau für den Himmel und darauf mit seidenen Fäden gestickt ein paar Tupfen, Funken von Gold für das strahlende Licht.

    Wie das Licht ist die Finsternis Teil von Gottes Schöpfung. Denn das Dunkle gehört in den Kreis des Lebens hinein.
    Der blühende, fruchtbare Garten hat seinen Platz darin und der reißende Strom.
    Das Unbekannte, das in der Tiefe wohnt, und das Leichte, Beflügelnde, für das die Vögel stehen mögen. Der wilde Löwe gehört dazu und das scheue Reh. Und schließlich auch Mann und Frau. Sie alle sind in dem Rad einander zugeordnet. Jedes hat sein Gegenüber. Keines steht für sich. Feine Fäden, sichtbare und unsichtbare, sind zwischen ihnen gesponnen.

    In der Mitte des Rades ist der Schöpfer angedeutet. Von ihm her strömt die Kraft zu, die alles belebt. Wer sich von dem Bild ansprechen lässt, wird in eine Bewegung hineingenommen, die zur Mitte führt. Von der Mitte her erst wird sichtbar, woher wir kommen und wohin wir gehen, was uns gegeben ist und was werden kann.

    Das ist die Bewegung, die auch die Schöpfungsgeschichte in 1. Mose 1 mit uns vollzieht. Sie führt uns von der Mitte her zur Mitte hin. So zeigt sie uns mit dem Ursprung auch das Ziel und im Ende den Anfang.

    Der Schöpfungsteppich, 11 – 12. Jahrhundert, Wandteppich, 365 × 470 cm, Kathedrale von Girona, Girona.

    Wie einen Teppich rollt die Geschichte die Schöpfung vor unseren Augen aus.  
    Sie macht das Gewebe des Lebens sichtbar. 
    Ein Gefüge unzähliger miteinander verknüpfter Fäden. 

    Die Erzählung fragt nicht, wie alles entstanden ist.  

    Das ist die Frage der Wissenschaft, und die hat ihr Recht!  

    Die Schöpfungsgeschichte verbietet diesen wissenschaftlichen Zugang nicht. Sie selbst wählt einen anderen.  

    Sie fragt:
    Was ist der Sinn des Ganzen?  

    Die Bibel beschreibt keine Naturgeschichte und liefert kein Entstehungsprotokoll ab, sondern sie bezeugt uns die Liebe Gottes zur Erde als seiner Schöpfung.  
    Sie will uns aufmerksam machen auf das, was unsere Erde und unser Menschsein bestimmt und auszeichnet.  
    Der Sinn der Schöpfung liegt darin, dass Gott sich seiner Welt zuwendet und ihr in Liebe zugewandt bleibt. 

    Diese bleibende Zuwendung kommt in dem kurzen Gotteswort zum Ausdruck: »Es werde Licht«!  
    Das Wort »Licht« meint nicht das Licht, das Sonne, Mond und Sterne ausstrahlen. 
    Die Gestirne werden nach der Erzählung erst am vierten Tag geschaffen. 

    Mit dem Licht des ersten Tages spricht Gott der Welt die grund-legende Lebensgrundlage zu. Es geht um das Licht seiner Liebe, das auf die Erde strahlt.  Das unterstreicht der Satz: »Gott sah das Licht, dass es gut ist« Es ist lebensvoll und lebensförderlich, wärmend und erleuchtend. 

    Gott sieht, was er geschaffen hat, als »gut«, am Ende sogar als »sehr gut« an.  
    In diesem liebenden Blick hat alles, was lebt, Ansehen bei Gott.
    In jedes Leben hat er den Glanz seiner Liebe hineingewoben. 

    Doch der Glanz scheint der Welt mehr und mehr verlorenzugehen. Wer Augen hat zu sehen und nicht wegschaut, sieht vieles, was nicht gut ist.

    Unsere Erde und das Leben auf ihr sind vom Tod bedroht. Die größte Gefahr sind wir Menschen selbst. Ein Riss geht mitten durch das fein gewebte Gefüge des Lebens hindurch.  

    Aus dem Miteinander von Mensch und Erde, von Mensch und Tier, von Mensch und Mensch ist ein Gegeneinander geworden. 

    Statt die Grenzen des anderen zu achten, überschreiten wir sie immer mehr.

    Wir haben die Erde rücksichtslos ausgebeutet und große Gebiete als Lebensraum vernichtet.  

    Die Gier der reichen Völker dieser Erde macht die armen Länder immer noch ärmer.  

    Wir zerstören die Ozonschicht und verändern das Klima mit schrecklichen Folgen.  

    Wir quälen die Tiere und rotten viele Arten aus.  

    Wir Menschen haben die Herrschaft über die Erde übernommen.  

    Was anfänglich ein Segen schien, ist für die Erde und das Leben auf ihr zum Fluch geworden.  

    Die Kreatur seufzt.  

    Nicht allein mit, sondern oft genug unter uns.

    Wir brauchen eine ernste Umkehr, einen veränderten Blick auf die Erde und einen neuen Lebensstil.  

    Wir brauchen es, dass wir mit den Augen Gottes auf die Erde und unseren Auftrag schauen lernen.  

    Die ersten Verse der Bibel wollen uns das Herz öffnen für solch eine neue Sicht. 

    In das Gefüge der Schöpfung werden die Menschen mit einem besonderen Auftrag eingewiesen.  

    Der Mensch ist darin das einzige Lebewesen, das Verantwortung übernehmen kann und soll.

    »Vom Herrschen« und »untertan Machen« spricht Luthers Übersetzung.  

    Das kann man leicht missverstehen.  
    Und es wurde oft unheilvoll angewendet.  
    Als solle und dürfe sich der Mensch der Erde gegenüber wie ein kriegerischer Feldherr verhalten oder gar gegen die Erde kämpfen.  

    Als gäbe der Schöpfergott zur Zerstörung und Ausplünderung unseres Planten sogar noch seinen Segen!  

    Doch ein Unterwerfen der Erde unter die Menschen oder gar ein Niedertrampeln von Tieren und Pflanzen ist hier nicht gemeint.  

    Es gibt Bilder aus dem Alten Orient, die zeigen den König, wie er einen Fuß sachte auf ein vor ihm lagerndes Tier setzt. Währenddessen wehrt er mit der Hand einen anstürmenden Löwen ab. Damit schützt er das schwächere Tier und erweist sich als sein Hüter. 

    Hirten und Hüterinnen der Welt zu sein, ist uns also aufgetragen, nicht sie auszubeuten.  

    Das Schwache in Schutz zu nehmen, die Erde gegen alle Mächte des Chaos zu verteidigen die gute Ordnung der Schöpfung zu bewahren, dazu hat Gott uns Menschen beauftragt.  

    Wir sollen stellvertretend für ihn, als seine königlichen Repräsentanten, uns um das Leben in seiner Schöpfung sorgen.  

    Das ist eine hohe Würde und eine große Verantwortung, die Gott seinen Menschen zumutet – und zutraut.  

    Solange sie nicht vergessen: »Der sogenannte »Herrschaftsauftrag« ist […] eigentlich ein »Hüteauftrag«!

    So hoch wir Menschen auch angesehen sind, wir sind nicht die Krone der Schöpfung.  

    Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat.  

    Nicht mit der Erschaffung der Tiere und der Menschen am sechsten Tag vollendete Gott die Schöpfung, sondern mit dem Sabbat. 

    Sabbat heißt »Aufhören«, »Ruhen«.  

    In der Ruhe vollendet sich die Welt und aus der Ruhe schöpft sie die Kraft für ihre Erneuerung. In die Ruhe ist Segen gelegt.  

    Nicht nur für uns, sondern für die ganze Schöpfung.  

    Sie bewahren, Hüterinnen und Hirten zu sein für sie, heißt nicht zuletzt: sie in Ruhe lassen! 

    Können wir das:  

    uns selbst, uns einander, unserer Welt die Ruhe gönnen?  

    Wir haben alle gelernt, vieles zu tun.  

    Wir haben es vielleicht sogar geschafft, manches gleichzeitig tun zu können.  

    Es ist uns gelungen, immer höher, schneller, weiterzukommen.  

    Doch noch mehr zu lernen haben wir, wie es geht, vieles nicht zu tun, auf manches zu verzichten.  

    Nach meiner Erfahrung ist die Ruhe für unsere körperliche und seelische Gesundheit lebenswichtig.  

    Sie gehört zum Grundrhythmus des Lebens. Es ist der uns von unserem Ursprung her gewährte Wechsel von Arbeit und Ruhe, von Tun und Lassen, von Einsatz und Erholung, der unser Lebensrad in Schwung und unsere Arbeitsfreude am Leben hält.

    Die ersten sechs Schöpfungstage werden jeweils abgeschlossen mit der Formel: »Und es ward Abend und Morgen …«  

    Beim siebten Tag fehlt der Abschluss. Deshalb nennt der Kirchenvater Augustin ihn den »Tag ohne Abend«.

    Der Sabbat öffnet die Schöpfung über die Grenzen der Zeit hinaus für Gottes Ewigkeit und uns Menschen für das Lob des Schöpfers.  

    Ich werde erinnert: Die Welt und ich selbst – wir sind nicht nur von ihm geschaffen, sondern wir sind auch zu ihm hin (3) geschaffen.  

    Ich erkenne im Ursprung auch das Ziel meines Lebens und glaube, wo ich das Ende wähne, an einen neuen Anfang.  

    An diesem »zu ihm hin« aber werde ich mein Leben lang zu üben haben. 

    Wie die Fäden eines Teppichs miteinander verknüpft sind, so sind wir mit Gott verwoben.  

    In ihm leben, weben und sind wir.  

    Und zu ihm hin hat er uns geschaffen.   Amen.

  • Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a

    Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a

    13. Sonntag nach Trinitatis – Wolfschlugen 29.08.2021

    Unser Predigttext steht im 1. Buch Mose 4, 1-16

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Kain redet nicht mit Abel. 

    Dabei gäbe es viel zu reden:  
    Über Eva, die Mutter, die bei Kains Geburt jubelt und bei Abels nicht.  
    Über die Namen, die ihnen die Eltern gegeben haben:
    Kain lässt sich vermutlich „von erwerben/erschaffen“ ableiten,  
    Kain, der Erschaffene/Erworbene.  
    Der Name könnte auch von „Lanze“ kommen.  
    Abel dagegen heißt übersetzt „Windhauch“ oder auch „Nichts“. 

    Es sind schicksalhafte Namen, die für jedes Kind zu schwer wären.

     Was haben sich die Eltern dabei gedacht?  
    Wie können Eltern ein Kind „Nichts“ nennen?  
    Das wäre doch schon Gesprächsstoff für die Brüder genug, oder?  
    Und müsste nicht eigentlich Abel der Zornige sein?  

    Aber sie sprechen nicht miteinander. 

    Sie könnten über noch mehr reden:  
    Kain wird Ackerbauer, und Abel Viehzüchter.  
    Sie gehen verschiedene Wege – schon die ersten Menschenkinder sind verschieden, und wir sind es nach ihnen.  
    Wir haben verschiedene Berufe, verschiedene Lebensentwürfe, verschiedene Vorlieben, wir mögen verschiedene Musik, wir wählen verschieden, wir lieben verschieden…  

    Wir hätten uns so viel zu erzählen:  
    Wie siehst Du das? 
    Wie verstehst Du das? 
    Wovon träumst Du? 
    Was würdest Du heute anders machen? 

    Aber sie reden nicht miteinander, die ersten Menschenkinder.

    Das Schweigen ist das Schlimmste. 

    Und dann kommt der Tag, an dem Kain und Abel Gott opfern.
    Sie ehren ihn beide.
    Kain opfert Früchte des Feldes, Abel opfert ein Lamm. 
    Beide opfern, was sie haben.

    Aber Gott sieht nur Abel, den „Windhauch“, und sein Opfer gnädig an. 
    Kain und sein Opfer sieht er nicht gnädig an.
    Er ignoriert Kain.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Kain redet nicht mit Abel.
    Dabei gäbe es jetzt so vieles zu fragen:  
    „Warum du und ich nicht? Verstehst du das?“ 

    Kain redet auch nicht mit Gott.  
    Dabei ist gerade das das Naheliegendste:  
    „Warum, mein Gott, ignorierst du mich?  
    Ich bin doch wie Abel dein Menschenkind!  
    Sag mir, Gott, was das soll!  
    Sag mir, Gott, warum die einen leben, als würdest du sie bevorzugen – und die anderen leben, als sähest du sie gar nicht?  
    Wie soll ich mir diese Ungleichheiten erklären?  
    Was hast du, Gott, damit zu tun?“ 

    Aber Kain redet nicht mit Gott.  
    Er hätte schreien und toben können. 
    Gott zur Rechenschaft ziehen.  

    Er hätte mit Gott in einen heiligen Streit eintreten können.
    Manchmal gibt Gott ja nach.
    Manchmal lässt er sich überreden.

    Wie er sich von Mose nach der Geschichte mit dem Goldenen Kalb überreden lässt, sein Volk doch nicht zu vernichten. (2. Mose 32)  

    Oder so wie Jesus sich von der kanaanäischen Frau überreden lässt, ihre Tochter zu heilen, obwohl er zu Beginn gesagt hat: „Sie gehört nicht zu Israel. Ich bin nicht zuständig.“ (Matthäus 15, 21-28)  

    Manchmal bereut Gott sogar, was er getan hat:  
    Im Buch des Propheten Hosea stürzt Gott deswegen in eine tiefe Krise.  
    Er müsste, aber er kann sein Volk nicht verlassen; er leidet unter seinem eigenen Beschluss, und nimmt ihn am Ende zurück.
    30 x ist immerhin von der Reue Gottes in der Bibel die Rede!  

    Aber Kain versucht es erst gar nicht.  
    Er redet nicht mit Gott.
    Kein einziges Wort.
    „Du ignorierst mich?! Ich ignoriere dich.“
    So staut sich in Kain der wortlose Zorn an.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Darum ergreift nun Gott das Wort.  
    Er stellt Kain Fragen.
    Fragen, die Kain zum Reden bringen und damit Schlimmeres verhindern wollen:  

    „Warum ergrimmst du?
    Warum guckst du nach unten und schaust niemanden an?
    Wenn du Gutes tust, kannst du allen frei ins Gesicht sehen. Ist es nicht so?
    Und wenn du nicht Gutes tust, dann lauert die Sünde vor der Tür.
    Du aber herrsche über sie, damit sie nicht über dich herrscht.“ 

    Kain antwortet nicht.  
    Von Gott zur Rede gestellt verhält er sich wie ein bockiges Kind, das die Arme verschränkt und die Lippen zusammenpresst.  

    Gott hat Fragen an uns.  
    Gott ist in Sorge, dass unser bockiges Schweigen zur Brutstätte des Bösen wird.  
    Er ruft:  
    „Rede doch, Menschenkind!  
    Rede mit mir!  
    Rede dir deinen Grimm von der Seele, deinen Frust, deinen Hass, deinen Neid, dein Nichtverstehen, deine Wut – rede dir das von der Seele, bevor du dich nicht mehr selbst beherrschen kannst und deinen Verstand verlierst!“  
    Aber Kain redet nicht mit Gott.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Stattdessen geht er mit Abel auf das Feld.  
    Die Lutherbibel lässt Kain hier das erste Mal reden: „Lass uns, Abel, aufs Feld gehen.“  
    Aber das gibt der Originaltext nicht her.  
    Da steht einfach nur:  
    Sie gehen aufs Feld.  
    Vielleicht hat es Luther auch nicht ertragen, dass Kain nicht spricht. 

    Sie gehen schweigend aufs Feld.  
    Die Brüder hätten sich so viel zu sagen, aber sie reden nicht miteinander.  
    Aus dem schrecklichen Schweigen entsteht die furchtbare Tat.  
    Kain erhebt sich gegen Abel, er macht sich groß, the greatest, und schlägt Abel tot.  

    Jetzt ist Abel, was sein Name immer vorhergesagt hat: Er ist ein Nichts.  

    Ob Kain hofft, dass mit Abels Beseitigung in seinem Herzen jetzt Ruhe einkehrt?  

    Vermutlich.  
    Kain hat das Ventil in seinem Innern gelöst.  
    Sein aufgestauter Zorn, sein Neid – jetzt sind sie raus, sind in der Welt.  
    Und wer soll es schon gesehen haben?  
    Es gibt ja nur diesen einen Bruder.  
    Kain braucht fortan keinen Vergleich mehr mit irgendjemandem zu fürchten.  
    Sein Opfer wird in Zukunft das einzige sein.  
    Er muss mit niemandem mehr teilen.  
    Er hat alles für sich allein.  
    Jetzt muss er nicht mehr reden.  
    Jetzt – kann er nicht mehr mit Abel reden… „ 

    Da ergreift Gott ein zweites Mal das Wort.  
    Wieder stellt er Kain eine Frage: „ 
    Wo ist dein Bruder Abel?“  
    Vielleicht ist es Gottes drängendste Frage überhaupt: 
    „Wo ist dein Bruder Abel?“  

    Was antworten wir, wenn Gott uns heute diese Frage stellt: „Wo ist dein Bruder Abel?“  
    Sagen wir die bittere Wahrheit oder schieben wir die Verantwortung so lange von A nach B und B nach C und C nach D, bis sie sich verflüchtigt und niemand mehr weiß, wie die Frage eigentlich lautete:
    „Wo ist dein Bruder Abel?“ 

    Ich schau mich um in der Welt. 
    Ich sage nur: Afghanistan. 
    Die Bundestagsmehrheit hat im Mai den Antrag abgelehnt, viele gefährdete Menschen schnell zu retten. 
    Und nun ist das Desaster da. 
    Wir hätten viele rechtzeitig retten können. 
    Nun werden viele davon sterben. 

    Und aus vielen Ecken höre ich es raunen: 
    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 
    »Mir doch egal, geht mich nichts an, keine Ahnung, 
    interessiert mich auch nicht. 
    Wir können ja nicht die ganze Welt retten.« 

    Ich schaue aufs Mittelmeer. 
    Da ertrinken nach wie vor tausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. 

    »Wo ist dein Bruder Abel?« 

    Und aus vielen Ecken höre ich es rufen: 
    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 
    »Ist mir doch egal, wir können nicht noch mehr aufnehmen,  das sind doch alles nur Wirtschaftsflüchtlinge. 
    Geht mich nichts an, interessiert mich auch nicht. 
    Hauptsache, die bleiben weg.« 

    Ich sehe im Fernsehen die Bilder von »Fridays for Future«. 
    Kinder und Jugendliche gehen auf die Straße. 
    Für ihre Zukunft. 
    Das ist komisch. 

    Als ich ziemlich jung war, also vor 30, 40 Jahren, da habe ich ganz oft gehört, wie Erwachsene gesagt haben: 
    »Ich will, daß es meinen Kindern mal besser geht«. 
    Diesen Satz höre ich heute nirgendwo mehr. 
    Ganz im Gegenteil. 
    Die jungen Leute werden lächerlich gemacht: 
    »Die sollen lieber zur Schule gehen.« 
    Und sie werden gedemütigt, verspottet, in den Dreck gezogen, und in den finsteren rechten Ecken des Internets wünscht man den jungen Frauen Vergewaltigungen an den Leib. 
    Sie gehen ja nicht auf die Straße, weil sie irgendwas mehr haben wollen. 
    Sondern weil sie überhaupt noch leben wollen auf diesem geschundenen Planeten. 
    Sie wünschen sich nichts weiter als Zukunft. 
    Und die Wissenschaft bestätigt das, was sie sich wünschen. 

    »Wo ist dein Bruder Abel?« 

    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 

    Das tönt aus vielen finsteren Ecken. 
    Es tönt von den Verspottern und Egoisten und denen, die einfach nur alles lassen wollen, wie es ist – 
    »nach mir die Sintflut«. 
    »Ist mir doch egal, was geht’s mich an, interessiert mich nicht, laßt mich in Ruhe, was gehen mich die kommenden Generationen an. 

    Was gehen mich die Leute in Afghanistan an? 
    Was kümmern mich die Menschen auf dem Mittelmeer? 
    Was kümmert mich fremdes Elend?« 

    „Ich weiß nicht“, sagt Kain, „soll ich meines Bruders Hüter sein?“  

    Eine handfeste Lüge gepaart mit einer frechen Gegenfrage.  
    Wir wissen, wo unser Bruder Abel ist.  
    Er ist tot.  

    Erschlagen, geköpft, zertrampelt vor den Toren eines Flughafens, aus Versehen von der sicheren Liste gestrichen, ohne bürokratisches Reisevisum stehengelassen, im Mittelmeer ertrunken, weil wir die rechten Wähler nicht verlieren und unseren Wohlstand nicht teilen wollen.  

    „Wo ist dein Bruder Abel?“  

    Gottes Stimme gellt über diesen Planeten.  
    „Was hast du getan?“  

    Das Schweigen auf diese Frage ist das Schlimmste. 

    Kain aber hat sich geirrt.  
    Von wegen „niemand hat es gesehen“!  
    Gott hat gesehen.  
    Gott hat gehört.  
    Der Mensch, der Kain ein Nichts war, ist Gott alles. 
    Der Mensch, den Kain beseitigt hat, ist bei Gott präsent.  

    Am Tag der Toten, dem Allerseelen, sprechen die Menschen in Mexiko ihre Toten mit Namen an und dann rufen sie „El esta presente“:  
    Er/Sie ist hier, gegenwärtig. 

    Kain kann Abel töten, er kann Abels Blut vergießen, aber er kann nicht verhindern, dass das Schreien des Blutes von der Erde bis zum Himmel dringt – bis an Gottes Ohren.  
    Und ehrlich, ist das in diesen Tagen auch mein Trost. 
    Gott hört das Schreien des vergossenen Blutes, es wird sich nicht in eine schnell vergessene Radiomeldung verwandeln, es bleibt Gott im Ohr, gegenwärtig, „el presente“.

    Kain hat sich geirrt, und er irrt sich ein zweites Mal: 
    Sein Bruder ist zwar tot,  
    er muss das Feld nicht mehr mit ihm teilen,  
    aber das Blut seines Bruders hat die Erde erschöpft. 
    Sie gibt ihren Ertrag nicht mehr her.  
    Das ist mehr Konsequenz als dass es Strafe ist.  
    Kain muss erkennen, dass alles zusammenhängt, der Brudermord hängt mit der Ernte zusammen, unser Umgang miteinander mit der Natur.  
    Das Netz, das Gott in der Schöpfung geknüpft hatte, ist zerrissen. 

    Am Ende spürt Kain die Schwere seiner Tat.
    Er hatte sich mit der Beseitigung seines Bruders Erleichterung verschaffen wollen, aber jetzt erkennt er: „Die Strafe ist zu schwer“, sagt er, „ich kann sie nicht tragen.“ 

    Hört Ihr es?  

    Kain bricht sein Schweigen.  
    Jetzt, wo er Angst hat, dass sich an ihm wiederholt, was er seinem Bruder angetan hat (dass er zum „Abel“ wird), da redet er mit Gott.  
    Aufrichtig.  
    Keine Lüge kommt mehr aus seinem Mund, kein frecher Spruch mehr, kein Verantwortung von sich schieben.  
    Das macht ja auch keinen Sinn mehr.  
    Kain klagt Gott: „Siehe, ich muss jetzt fort von hier. Der Acker gibt den Ertrag nicht mehr her. Darum muss ich fortgehen, unstet und flüchtig über die Erde ziehen. Wer mich findet, wird mich totschlagen.“ 

    Aber Kain irrt sich noch ein drittes, letztes Mal:  
    Gott greift dem Rad der Gewalt in die Speichen.  
    Er macht an Kain ein Zeichen, ein Tattoo, dass Menschen davon abhält, ihn, den Mörder, zu töten. 
    Kain hat ein schweres Leben vor sich, aber die Gnade Gottes geht mit ihm. 

    Die Geschichte von Kain und Abel ist unserer aller Geschichte.  
    Sie wiederholt sich jeden Tag.  
    Aber sie muss sie nicht jeden Tag wiederholen.  

    Sie wird uns erzählt, damit sie sich nicht wiederholt. 
    Schon das ist Gnade.  
    Das Schlimmste in der Geschichte ist das Schweigen. 

    Mit Gott und miteinander reden, zuhören, fragen, in die Schuhe der anderen steigen, streiten um das, was wichtig ist – ändert Geschichte.  

    Amen.