Kategorie: Epheser

  • Kraft für den inneren Menschen

    Kraft für den inneren Menschen

    Predigt zu Epheser 3,14–21 am Sonntag Exaudi (01.06.2025) im Nürtinger Stephanushaus.

    Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

    Hören wir gemeinsam auf unseren Predigttext aus dem Brief an die Gemeinde in Ephesus 3,14-21

    Eine Stimme in der Stille – Paulus ringt um Worte

    Es ist Nacht.
    Paulus sitzt in einer römischen Gefängniszelle.
    Eine Öllampe flackert träge.
    Draußen Stille.
    Drinnen Gedanken.
    Viele Gedanken.

    Er hat lange gebetet.
    Hat gerungen.
    Mit den Worten.
    Mit sich. Mit Gott.

    Und jetzt, da der Brief fast fertig ist, bleibt ein letzter Gedanke offen.
    Keine Anweisung mehr.
    Kein Lehrtext. Kein Appell.
    Sondern ein Gebet. Ein letztes großes Gebet.

    Und er spürt:
    Es muss alles sagen.
    Alles enthalten.
    Alles tragen, was er der jungen Gemeinde mitgeben will – in einer Zeit voller Unsicherheit, voller Herausforderungen.

    „Was soll ich euch schreiben, ihr Brüder und Schwestern in Ephesus?“, denkt er.

    „Was kann ich euch wünschen – von Herzen, mit ganzer Kraft, mit allem Glauben?“

    Und so beugt er langsam seine Knie – obwohl er weiß, wie unüblich das ist – und beginnt zu beten.
    Nicht für sich.
    Für sie.
    Für uns.

    1. Kraft für den inneren Menschen

    „Er gebe euch Kraft nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen.“

    Paulus schließt die Augen.

    Er denkt an ihre Gesichter.

    Die Händler, die Witwen, die jungen Christen, die voller Fragen sind.

    Was brauchen sie?

    Schutz? Einfluss? Sichtbarkeit?

    Nein.

    Sie brauchen etwas Tieferes.

    Sie brauchen Kraft – innen.

    Nicht Macht, nicht Glanz, sondern Geisteskraft.

    Denn er weiß:

    Der äußere Mensch kann gesund sein, wohlhabend, gebildet – und doch kann innen Leere sein.

    Müdigkeit. Verzweiflung. Sehnsucht.

    „Herr“, denkt Paulus, „stärke sie dort, wo keine Hand mehr hinreicht. Im Herzen, in der Seele.“

    Diese Bitte bleibt auch heute aktuell.

    Wir leben in einer Welt, die an der Oberfläche lebt – mit Instagram-Glanz und Selbstoptimierungsratgebern.

    In dieser Welt klingt das fast fremd:

    Kraft für den inneren Menschen.

    Aber es ist genau das, was so viele brauchen:

    Kraft, die nicht blendet, sondern trägt.

    Die nicht antreibt, sondern beruhigt.

    Kraft, die nicht überfordert, sondern hält.

    2. Christus wohne in euren Herzen – dauerhaft

    Paulus hält inne.
    Seine Feder schwebt über dem Pergament.

    Wohnen – nicht besuchen.
    Das ist der Unterschied.
    „Dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne…“
    Ein Zuhause.
    Kein Hotel.
    Kein Feiertagsgast.
    Sondern bleibende Gegenwart.
    „Viele Menschen sind innerlich heimatlos“, denkt Paulus.
    „Sie haben kein geistliches Zuhause. Keine Beständigkeit. Kein Gegenüber, das bleibt, wenn alles andere geht.“

    Wenn Christus Wohnung nimmt im Herzen, dann beginnt ein anderes Leben.
    Dann ist immer jemand da, der morgens schon da ist – und abends bleibt.
    Einer, der zuhört, wenn niemand mehr fragt.
    Der trägt, wenn nichts mehr hält.
    Und der verwandelt – langsam, liebevoll, treu.

    Diese Wohnung kann nicht durch Pflicht entstehen.
    Sie beginnt mit Vertrauen.

    Mit Offenheit.
    Mit dem Mut, Christus Raum zu geben.
    Ihn hinein zu bitten – in unsere Fragen, in unsere Zweifel, in unseren Alltag.

    3. Verwurzelt und gegründet in der Liebe

    Paulus seufzt leise.
    In ihm reift der Gedanke von Wurzeln und Fundament.
    Dieses Bild hat Kraft.
    Er war viel unterwegs.
    Er hat Bäume gesehen, die sturmfest standen.
    Und Häuser, die auf Felsen ruhend, allen dem Wetter trotzten.

    „Verwurzelt und gegründet in der Liebe…“
    Es geht um Standfestigkeit.
    Nicht Starrheit. Um inneren Halt.
    Nicht um Abgrenzung.
    „Was hält einen Menschen, wenn alles ins Wanken gerät?“, fragt er sich.

    Beziehungen zerbrechen.
    Sicherheiten schwinden.
    Ideale verblassen.
    Und dann?

    Gottes Liebe ist kein flatterhaftes Gefühl.
    Sie ist Erde unter den Füßen.
    Fels unter dem Haus.
    Tiefe Wurzeln in der Erde.

    Diese Liebe urteilt nicht nach Leistung.
    Sie bleibt – auch in der Krise.
    Auch im Versagen.
    Auch im Glaubenszweifel.

    Heute ist das ein kraftvolles Gegenbild zu unserer Zeit.
    Wer verwurzelt ist, wächst anders.
    Tiefer. Freier. Stabiler.
    Es lohnt sich, das eigene Fundament zu hinterfragen.
    Und neu zu bauen – auf Christus.

    4. Die vier Dimensionen der Liebe Christi – erfassen mit allen Heiligen

    Jetzt wird das Gebet groß.
    Überwältigend groß.

    „… dass ihr begreifen möget… wie groß, wie weit, wie tief, wie hoch die Liebe Gottes ist“

    Die Liebe Christi kennt keine Maße.
    Kein Ende.
    Kein Maßband reicht zum Vermessen.

    Aber Paulus sagt nicht: „Versteht es gefälligst. Macht das mit euch aus.“
    Sondern:
    „mit allen Heiligen“.

    Glaube ist kein Solo.
    Kein Ego-Projekt.

    Glaube lebt in Gemeinschaft.
    In Dialog.
    Im Miteinander.

    Paulus denkt an Lydia, an Timotheus und an die namenlosen Glaubenden in Ephesus.
    Paulus glaubt an uns.
    An eine große, unsichtbare Gemeinschaft durch Raum und Zeit.

    Diese Liebe Christi – sie sprengt unsere Vorstellungen.
    Und doch können wir sie ein Stück weit erfassen. Im Abendmahl.
    In einem Lied. In der Stille.
    Im Trost eines Menschen.
    In einer Umarmung.
    Im Aufatmen nach dem Gebet.

    Und ja – gerade dann, wenn wir gemeinsam glauben.
    Wenn wir uns gegenseitig helfen zu sehen.
    Wenn wir gemeinsam spüren.
    Gemeinsam hoffen.

    5. Erfüllt werden mit Gottes ganzer Fülle

    Jetzt wird Paulus selbst klein – angesichts der Größe seiner Bitte.

    „Gottes ganze Fülle – in uns?“
    Wie soll das gehen?

    Er weiß: Eigentlich nicht.
    Und doch: Bei Gott ist nichts unmöglich.

    „Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen…“

    Gott handelt größer.
    Weiter. Tiefer. Liebevoller.
    Gerade darin liegt Hoffnung.

    Nicht alles muss ich verstehen.
    Aber ich darf bitten.
    Groß bitten.
    Voll Vertrauen.

    Auch wir dürfen das.
    Wir dürfen uns nach Fülle sehnen.
    Nach heilender Nähe.
    Nach einer Gegenwart, die unsere Leere füllt – und unsere Sehnsucht nicht enttäuscht.
    Wir dürfen darauf vertrauen.
    Das ist Hoffnung.
    Das ist Glaube in größter Tiefe.

    6. Schlussbild: Der letzte Satz in der Nacht

    Paulus legt die Feder zur Seite.
    Schließt die Augen.
    Die Worte stehen da.
    Fast wie ein Lied.
    Ein Lobpreis.
    Kein bloßes Gebet mehr.

    Er weiß nicht, ob er die Gemeinde je wiedersieht.
    Aber er weiß: Dieses Gebet bleibt.
    Es trägt. Es lebt.
    Und auch wir dürfen darin stehen.
    Darin leben. Darin beten.

    Exaudi – Höre, Herr!
    Das ist ein Ruf, der aus der Tiefe kommt.
    Ein Gebet, das ringt und zugleich ruht.
    Eine Bitte, die offen ist für Kraft.
    Für Nähe. Für Liebe.
    Für das, was trägt.
    Es ist ein Ruf getragen vom Vertrauen:
    Herr, Gott, Du hörst.
    Du bist da.
    Du wirkst.
    In uns. Mit uns. Über uns hinaus.

    Deshalb: Wir dürfen Beten.
    Groß. Weit. Tief.
    Auch als Schrei.

    Lassen wir uns dadurch stärken.
    Öffnen wir unser Herz.
    Lassen wir Christus darin wohnen.
    Damit wir – gemeinsam mit allen Glaubenden – etwas von dieser unfassbaren Liebe begreifen. Und durch sie verwandelt leben.

    Amen.