Langenecks Welt

Ein kleines Osterfest in der Passionszeit

Predigt zu Jesaja 54,7–10 gehalten am Sonntag Lätare (19.03.2023) in der Unterensinger Michaelskirche

I. Einen Moment die Ewigkeit spüren

Stellen Sie sich das vor:
Da steht eine Uroma auf ihrem Stock gestützt vor der Kirche.
Ihre Augen strahlen.
Gerade eben ist ihr Urenkel getauft worden. Und sie hatte sich so gefreut, wie der Täufling die Uroma angelächelt und mit seinen Händchen interessiert die Falten in ihrem Gesicht studiert hatte.
»In einem Augenblick kann die ganze Ewigkeit liegen«, sagt sie.

Ihren eigenen Taufspruch haben die Eltern ausgesucht. Das freut sie besonders:
»Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
spricht der Herr, dein Erbarmer!«

II. Im Schwung des Neuen: Jesaja 54,7–10

Heute hören wir als Predigttext den Abschnitt aus dem Jesajabuch, in dem dieser Vers steht.

Predigttextes: Jesaja 54,7–10

III. EINEM geht’s durch und durch

Das geht einem durch und durch.
Wo wir dachten: Das gibt’s doch nicht!
Und jetzt passiert es doch:

Berge weichen. Hügel fallen hin. Polkappen schmelzen ab. Gletscher verschwinden.
Menschen in Europa schießen wieder aufeinander.
Kinder morden Kinder.
Unsere Erde, unsere Welt ist aus dem Lot.

Dazu kommt noch, was Menschen persönlich zu tragen haben:
Die Nachricht: »Ja, es ist Krebs!«
Eltern bringen ihr Leben nicht mehr miteinander hin.
Schulden wachsen über den Kopf.
Ein Freund stirbt ganz plötzlich am Herzinfarkt.

Das geht einem durch und durch.

Auch wenn wir es nicht glauben. Das geht auch Gott durch und durch.
Gott selbst ist bis ins Mark erschüttert.
So sagt’s Jesaja.

Gleich dreimal malt er vor Augen:
Gott ist im Innersten bewegt.
Aus dem Innersten heraus »erbarmt sich« Gott, so übersetzt Luther.

Eine andere Übersetzung spricht von »tiefer Liebe«:
»Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen,
aber in tiefer Liebe will ich dich wieder sammeln.
Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen,
aber mit ewiger Gnade liebe ich dich, spricht der Herr, dein Erlöser …
Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
spricht der Herr, voll tiefer Liebe.«

Von ganz tief innen fließt da eine Kraft aus Gott heraus zu Menschen in Not.
Als leidenschaftlicher Liebhaber meldet er sich zu Wort.
Bis ins Mark erschüttert zeigt er sich.
Er ist außer sich im Zorn. Einen kleinen Augenblick nur – doch die Flut ist gewaltig.
Sie lässt sich mit den Wogen vergleichen, die zur Zeit Noahs über die Menschheit hereinbrachen.

Alle Sicherheiten brechen weg.
Es ist, als ob das Leben zu Bruchstücken zerfällt.
Bindungen brechen weg – in Familien, Nachbarschaften, Gesellschaften – und in der Kirche.
Ist auch sein Zorn Ausdruck seiner Liebe?

IV. Leidenschaftlicher Sammler

»In tiefer Liebe will ich dich wieder sammeln!«, sagt Gott.
Offenbar spricht er nicht nur als leidenschaftlicher Liebhaber, sondern auch als hingebungsvoller Sammler.
Er sammelt die Bruchstücke unseres Lebens auf.
Behutsam nimmt er sie in die Hände und fügt sie zu einem Ganzen zusammen.
Er sorgt dafür, dass das, was beklagt wird, nicht in tausend Stücke zersplittert und zerfällt.
Unter seinen Händen wird es auch im Bruch zusammengehalten.
Auch das, was zwischen Menschen in die Brüche geht oder gegangen ist, nimmt er in seine Hände. Verletzungen können heilen.
Vorsichtige Schritte aufeinander zu können gewagt werden.
Getrenntes kommt neu in Verbindung.

Das hebräische Wort »sammeln« steckt auch in »Kibbuz«.
Das ist jene Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, zu der sich in Israel seit Anfang des vorigen Jahrhunderts Menschen zusammengeschlossen haben.
Aus aller Herren Länder kamen sie zusammen und nahmen ihr Leben miteinander in die Hand.
Viele sind in den 30er-Jahren gekommen, geflüchtet vor der Naziherrschaft.
Da galt es Seelen und Menschen zusammenzubringen und miteinander Neues aufzubauen.

Die Worte Jesajas richten sich ursprünglich an eine Gemeinschaft.
Vor Augen stehen Menschen, die in der Fremde sitzen – angesprochen in der Einzahl als »Zion«.
Sie sind im Übergang.
Sie wissen nicht, was alles wird.

»Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Gnade soll nicht von dir weichen
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
spricht der Herr, voll tiefer Liebe.«

Was für eine Kraft liegt in diesem Wort!
In ganz verschiedenen Lebenssituationen leuchtet es hinein.
Es beschönigt das Leben nicht.
Doch gleichzeitig ist da ein Anker, der hält.
Ewig hält er.
Demgegenüber erscheint es im Rückblick wie ein winziger Augenblick, in dem von Gott nichts zu sehen war.

Doch kann nicht in einem Augenblick der ganze Schrecken liegen?

V. Im Zorn verlassen?

»Mein Gott, mein Gott, hast du mich verlassen?«
So schreit’s aus Krankenhäusern, Schützengräben und Folterkammern.
So ein Schrecken breitet sich aus an manchem Esstisch, an dem einer das Tischtuch zerschnitten hat: »Das war’s dann wohl mit uns!«
Ein kleiner Moment nur, die Miene kurz verfinstert – doch in ihm steckt das ganze Grauen.
Die Tür fällt ins Schloss.

Muss ich mir Gott so vorstellen, wenn es heißt:
»Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen!
Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.«

Gehört zum leidenschaftlichen Liebhaber Gott auch sein Zorn?

Geht er so weit, dass er uns verlässt?

Es gibt keine schwerere Stunde in der Welt als die Stunde, in der Gott uns verlässt.
So sagen es Menschen jüdischen Glaubens.
Sie erleben das als »Gottesfinsterns« und schreien ihren Schrecken hinaus:
»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!«

VI. Das Grauen ins Gebet nehmen

Wer so schreit, dem scheint die Verbindung zu Gott verloren gegangen zu sein.
Doch statt zu sagen: »Das war’s dann wohl!«, schreit er zu einem Gott, an den er gerade nicht mehr glauben kann.
Er schreit Grauen und Schmerz heraus – hinein ins Universum.
Ist da einer, der hört?

Wer so schreit, ringt um Verbindung.
Dabei befindet er sich in Gesellschaft mit den Beterinnen und Betern von Psalm 22.
»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Auch Jesus hat am Kreuz so geschrien, erzählen die Evangelien.
Ein Hoffnungsschimmer bahnt sich von daher seinen Weg zu uns.
Der Ostermorgen kündigt sich an.
Und somit auch Gottes: »Mit ewiger Gnade liebe ich dich!«

Freut euch, ruft uns dieser Sonntag zu.
Wir sind zwar noch mitten in der Passionszeit.
Doch Ostern schimmert schon durch diese Worte durch.
Das Kapitel, in dem unser Predigttext steht, beginnt mit:
»Juble! Mach den Raum deines Zeltes weit!«

Auch wenn meine Seele nicht immer in diesen Jubel einstimmen kann.
Trotzdem gilt:
»Meine Gnade soll nicht von dir weichen!«

Es sind gerade die angesprochen, die nichts mehr von Gott sehen können.
Die Verzagten und Verbitterten.
Gerade sie brauchen diese Aufmunterung.
Und so hören sie: »Juble! Gottes Friedensbund gilt dir!«

Jesaja lädt uns ein:
Nimm das Böse ins Gebet.
So bringst du das, was deine Lebensfreude zunichtemacht, mit Gott in Verbindung.
In dem Schrei: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, verbindet sich mein Leiden mit Jesus.
Ich stehe nicht mehr allein da.
Einer ist mit mir im Bunde.
Voll tiefer Liebe hat er gelebt und ist er gestorben.
Einen kleinen Augenblick hat sich die Sonne verfinstert.
Dann brach der Ostermorgen an.
Gott hat Frieden geschlossen mit dieser Welt.
Ewig ist seine Liebe.
Im gemeinsamen Schreien und Schweigen und Hören ist der »Bund«, das Eingebundensein zu spüren.
Auch wenn eben noch das Gefühl vorherrschte, verloren zu gehen.

Eindrücklich steht mir vor Augen, was von der Todesstunde der Malers Rembrandt erzählt wird.
Er wollte unbedingt die Erzählung aus der Bibel vorgelesen haben, in der Jakob mit dem Engel kämpft.
»Nur das und nichts anderes!«, sagt er.
Als die Stelle gefunden und vorgelesen wurde, wiederholte sie der Kranke.
»Und Jakob blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach …, aber er gab nicht nach und kämpfte weiter – oh ja, kämpfte weiter – denn das ist der Wille des Herrn, dass wir mit ihm bis zum Anbruch der Morgenröte kämpfen!«

VII. Ewigkeit im Moment

In einem Augenblick kann die ganze Ewigkeit liegen.
Und der ganze Schrecken.
Doch es gibt keinen Augenblick, über dem nicht Gottes Friedensbund leuchtet, wie der Regenbogen aufleuchtet, während die Tropfen noch fallen.

»Juble! Mache Herz und Haus weit!«, ruft Jesaja uns zu.
»Schenke dem Friedensbund Gottes deine Energie und lebe dem entgegen, was du ersehnst!«

Und wenn ich Gott so gar nicht sehen kann?
Dann mach’s wie jene Ehefrau, deren Mann auf Reisen ist, ermutigt eine jüdische Stimme.
Die Frau steht jeden Morgen vor dem Spiegel, schminkt sich und macht sich schön.
Ihre Nachbarinnen wundern sich über diese unnötige Arbeit, wo der Ehemann doch weg ist.
Sie aber meint: »Mein Mann ist ein Seemann. Wenn der Wind günstig ist, kann es sein, dass er sofort kommt und mir vor Augen steht.«

Gott kann sofort wieder da sein.
Im nächsten Moment.
Im Rückblick wird es mir wie ein kleiner Augenblick vorkommen, in dem er nicht zu finden war.
Dem gegenüber wiegt der Augenblick ewig, in dem die Liebe leuchtet.
Amen.

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