Das Ineinander von Leiden, Freude und dem Getröstet werden – Predigt zu 2. Korinther 1,3-7
Predigt in Altenriet und Neckartailfingen
Sie steht auf der Bühne.
Eine schmale Frau mit einem ausdrucksstarken Gesicht.
Ihr braunes Haar reicht ihr fast bis zur Hüfte.
Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, wenn das Licht drauffällt, glitzert es.
Die Geige liegt auf ihrer Schulter.
Sie führt den Bogen konzentriert.
Mit den Augen folgt sie den Noten aufmerksam.
Nur manchmal, ganz kurz, schließt sie die Augen.
Auf der Bühne kann sie alles vergessen.
Die junge Frau heißt Vera.
Seit zwei Wochen ist sie eine Geigerin internationalen Ranges.
Ihre Bühne ist der Luftschutzkeller in Charkiw.
Ihr Rampenlicht ist eine nackte Glühbirne.
Sie spielt für Menschen, die mit ihr Zuflucht vor den Bomben gesucht haben.
Mit ihrer Musik spendet Vera Trost.
Mitten in einer Zeit schwerer Bedrängnis tröstet sie Menschen mit ihrem Geigenspiel.
Sie sagt:
„Wir sind hier im Luftschutzkeller zusammen als Brüder und Schwestern.
Während des wollte ich, dass sie an etwas anderes denken als den Krieg – für eine kleine Weile.“
Vera erhält viele Nachrichten von Menschen.
Sie schreiben ihr:
„Deine Videos unterstützen uns und machen uns Mut. Sie tragen uns durch die schwere Zeit.“
Ortswechsel
Ich stehe mit meinem Nachbarn am Gartenzaun.
Schön ist es in der Frühlingssonne zu stehen.
Wir reden über den Krieg in der Ukraine.
Über unsere Angst, dass sich der Krieg ausbreiten könnte.
Wir reden über die Schwere, die sich in den letzten Wochen über uns gelegt hat. Das Entsetzen über die Grausamkeit dieses Krieges.
Plötzlich sagt mein Nachbar zu mir:
„Ich beneide dich um deinen Glauben.
Das gibt dir Halt.
Ich weiß nicht wohin mit meiner Sorge um die Zukunft der Welt.“
Ich schaue ihn an.
Auf seiner Stirn stehen Sorgenfalten.
Er versucht zu lächeln, aber es gelingt nur schwer.
So stehen wir in der Sonne am Gartenzaun. Wir reden und schwiegen. Schweigen und reden.
Als wir uns verabschieden bleibt für mich die bohrende Frage:
Wie kann ich andere trösten, mitten in einer schweren Zeit, in Zeiten der Bedrängnis?
Im Krieg.
Oder in der Zeit einer schweren Krankheit.
Oder wenn ein Kind verloren ist.
Was schenkt da Trost?
Da gibt es die Variante der Trostbüchlein.
Die mit Rosen vorne drauf und der verschnörkelten Überschrift.
Und drinnen Sprüche wie: „Zeit heilt alle Wunden“ oder „Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen“.
Aber das tröstet nicht wirklich.
Es ist eher ein Kleinreden des Leides.
Es ist gut gemeint, Trost spendet es eher nicht.
Es deckt die Wunde nur zu.
Dann muss wieder alles funktionieren.
Doch so schnell geht es nicht, das echte Trösten.
Dafür braucht es Zeit und Hingabe.
Dazu versuche ich mich in die andere Person hineinzuversetzen und leide mit ihr.
Für eine Weile.
Dafür gibt es ein wunderbares Wort: die com-passio – Das Mit-Leiden.
Ich stelle meine Situation, meine eigenen Themen und Probleme zurück.
Ich stelle mich ganz auf mein Gegenüber ein.
Damit beginnt für mich das Trösten: hinsehen, hinhören, Leid miteinander aushalten.
Das ist ein erster wichtiger Schritt.
Das Geigenspiel von Vera im Luftschutzbunker in Charkiw spendet genau in dieser Hinsicht Trost.
Es hilft uns innezuhalten, und wir schauen hin, wir hören hin, wir leiden mit.
Als Christ weiß ich: Das ist ein wichtiger Teil des Trostes – aber nicht alles.
Wir Menschen können uns nicht selbst trösten.
Dazu sind die Schicksale zu hart.
Die Bombenangriffe zu extrem.
Wir Menschen sind auf Trost von außen angewiesen. Auf Trost von Gott, der das Leiden kennt, wie kein anderer.
Wenn meine eigenen Worte zum Trost nicht ausreichen, dann leihe ich mir deshalb gerne Worte aus der Bibel, aus alten Liedern oder aus dem Schatz der christlichen Tradition.
Auf meiner Suche nach Trost bin ich in diesen Tagen auf den Heidelberger Katechismus gestoßen.
Das ist das Bekenntnisbuch der reformierten Kirche und in ihm werden die grundlegenden Fragen des christlichen Glaubens behandelt.
Also alle Fragen rund um Gott, den Schöpfer, Jesus Christus und den Heiligen Geist.
Die Frage nach dem Trost hat im Heidelberger Katechismus einen prominenten Platz. Sie steht gleich an erster Stelle.
Dort heißt es:
„Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben?“
Und die Antwort lautet:
„Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“
Das sind – zugegeben – altertümliche Worte. Fast 560 Jahre ist der Heidelberger Katechismus schon alt. Und deswegen versuche ich sie für mich, für meinen Nachbarn und für sie ins Heute zu übersetzen.
Mein Trost angesichts dieser Weltlage ist, dass ich als Christ nicht für mich selbst lebe.
Trotzdem bin ich Gott dankbar für mein Leben – meinen Leib und Seele.
Und ich weiß – egal was kommt: Ich bin und bleibe ein Kind Gottes.
Meine Hoffnung und mein Trost ist:
Gott wird nicht zulassen, dass die Welt im Atomkrieg versinkt.
„Denn – so spricht Gott – ich weiß wohl was ich für Gedanken über euch habe:
Gedanken des Friedens, dass ich Euch gebe Zukunft und Hoffnung (Jer 29,11)
Heute am Sonntag Lätare,
dem kleinen Osterfest mitten in der Passionszeit,
da versuche ich, mich nicht vom Krieg in der Ukraine lähmen zu lassen.
Sondern:
Ich sehe Gottes Trost als Vorzeichen für unser Leben.
Vorzeichen bestimmen die ganze Musik.
Das weiß die Geigerin Vera Lytovchenko besser als jede andere Person im Luftschutzkeller in Charkiw.
Mit ihrer Musik spendet sie Trost und wandelt die Herzen der Menschen.
Jeder Ton ist eine Aufforderung nicht im Hass und Selbstmitleid zu versinken, sondern von mir abzusehen und mit anderen zu einer Gemeinschaft des Friedens und des Zusammenhaltens zu wachsen.
Wenn ich als Christ den Trost als Vorzeichen meines Lebens sehe, dann heißt das für mich:
Ich lege meine Angst vor der Zukunft ab.
Ich übergebe sie Gott, der von den Toten auferstanden ist und von dem ich glaube, dass er uns vom Bösen erlöst.
Getröstet und befreit kann ich dann einstimmen in das Loblied aus dem 2. Korintherbrief:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
- Wo finde ich Gottes Gnade – Predigt zu 2. Korinther 6, 1-10
- Wer unter euch der Erste sein will, der soll euer Diener sein – Predigt zu Markus 10, 35-45