Maria und der Engel – Predigt in Neuenhaus und Aich
Predigttext: Lukas 1, 26-38
I. Es muss an einem Morgen gewesen sein
Es muss an einem Morgen gewesen sein.
Wenn der Tag noch frisch ist und unverbraucht,
Wenn die Welt allmählich aufwacht und das Leben wieder in die Gänge kommt.
Mit der Tasse Kaffee in der Hand.
Noch ein Moment Zeit am Küchentisch den eigenen Gedanken nachzuhängen.
Das Fenster ist geöffnet.
Frische Morgenluft kommt in den Raum und weht die abgestandene Luft der Nacht hinaus.
Die Träume der Nacht hallen noch nach.
Erst allmählich dringen die Vorhaben und Aufgaben des Tages ins Bewustsein.
Das ist die Zeit zwischen Nacht und Tag, zwischen Ruhen und Tun.
II. Ein Fremder im Raum
Plötzlich stand er im Raum. Ungebeten und ungefragt.
Noch in ihren Gedanken versunken, hatte Maria ihn kommen hören.
Seine Schritte klangen wie aus einer anderen Welt.
Er hatte nicht angeklopft. Oder hatte sie es überhört?
Er steht. Sie sitzt.
Sie muss zu ihm aufschauen, um zu sehen, wer es ist.
Sie kennt ihn nicht. Ein Fremder. Ihr Puls schlägt schneller.
Ein fremder Mann und ein Mädchen in einem Zimmer. Die Eltern sind nicht da.
Was kann er nur wollen?
Wäre doch nur Josef da. Die beiden sind verlobt, aber noch nicht verheiratet. Jeder lebt noch bei seinen Eltern. Darum übernachtet Josef seinen Eltern zu Hause. Wie es die Tradition will. Und Traditionen halten sich hartnäckig.
Was will der Fremde?
Maria beginnt zu zittern.
Wenn er sich mir nähert, schreie ich, wehre mich.
Wenn es sein muss, mit Händen und Fäusten.
Der kommt mir nicht zu nahe.
Doch er bleibt stehen, wo er steht.
Er schaut sie nur an. Mit Respekt und Wohlwollen im Blick.
Sie spürt: Der tut mir nichts Böses.
Da beruhigt sich ihr Atem und sie lockert die geballten Hände.
Er meint es gut mit mir. Dann spricht er sie an.
III. Keine Angst, du bist von Gott begnadet!
»Sei gegrüßt, du Begnadete!« So hatte sie noch niemand genannt.
Nicht die Eltern. Nicht die Großeltern. Nicht einmal ihr Verlobter und er hat viele Kosenamen für sie.
»Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!«
In diesem Moment ahnt Maria, dass die Begegnung mit diesem Fremden ihr Leben verändern wird.
Nichts wird mehr sein wie vorher. Sie weiß nicht, wie es sein wird. Aber es wird anders sein.
Und das macht ihr Angst.
Das spürt der Fremde.
»Fürchte dich nicht, Maria! Hab keine Angst! Du hast Gnade bei Gott gefunden.«
Was bedeutet das? Das sind große Worte.
- Maria kommen all die Namen der großen Frauen in den Sinn, die Gnade vor Gott gefunden hatten:
- Sara, die in hohem Alter noch ein Kind bekam und so zur Urmutter Israels wurde.
- Rahab aus Jericho, die den Kundschaftern mutig zur Flucht verhalf.
- Esther, die ihr Leben aufs Spiel setzte und mit ihrer Klugheit ihr Volk vor dem Tod rettete.
- Nicht zuletzt die Frau, deren Namen sie selbst trägt: Mirjam, die Schwester von Mose. Weitsichtig und beherzt rettete sie ihren kleinen Bruder.
Was sollte sie mit diesen großen Frauen gemein haben?
Sie, ein Mädchen, aus einfachen Verhältnissen.
Jung verlobt und wie ihre Altersgenossinnen dazu bestimmt, den Haushalt ihres Mannes zu führen. Kinder zu bekommen und sie großzuziehen?
»Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.«
Zu viel, um auf Anhieb alles zu begreifen.
Zu groß für diesen kleinen Raum, diese kleine Stadt, dieses kleine Volk.
Zu überwältigend für das Mädchen auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Hätte sie etwas mehr Zeit gehabt, um nachzudenken, dann wäre sie etwas forscher gewesen.
Dann hätte sie eingehakt:
»Hör mal, Fremder, wenn ich ein Kind bekomme, entscheide ich noch immer selbst, wie es heißt.«
Oder: »Du musst mich verwechselt haben. Ich bin keine Königsmutter. Und dass mein Kind einmal ›Sohn des Höchsten‹ genannt werden soll, ist völlig abwegig.«
Und überhaupt: »Wie kommst du darauf, mir so etwas in Aussicht zu stellen. Wer hat dich das angewiesen?«
Stattdessen stammelt sie: »Das ist völlig unmöglich. Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?
Wenn ich doch nicht schwanger bin, stürzt die ganze Verheißung wie ein Kartenhaus in sich zusammen.«
»Gott selbst wird dafür sorgen, durch seinen Heiligen Geist«, hört sie.
Das soll ein Mensch begreifen?
Maria begreift es nicht. Was sie aber weiß:
Ihre Cousine Elisabeth ist schwanger, im sechsten Monat, und das in hohem Alter.
Kein Arzt hatte ihnen helfen können. Keine Kur. Kein Gebet.
Kein Mensch hätte mehr damit gerechnet, dass Elisabeth und Zacharias noch Nachwuchs bekommen sollten.
Und dann war es doch wie bei Sara und bei Hanna, viele Jahrhunderte vorher. Elisabeth war mit einem Mal schwanger.
Daran erinnert sie der Fremde.
Woher weiß er das alles? Er redet, als wäre er selbst dabei gewesen.
Wer ist er?
IV. So soll es sein!
»Bei Gott ist kein Ding unmöglich«, sagt der Fremde.
Und Maria hält den Atem an.
Sie hört innerlich noch einmal, was er alles zu ihr gesagt hatte.
Sie kann es weder einordnen noch begreifen.
Sie spürt aber, dass es, wenn es so ist, richtig ist.
Wenn Gott das so will, dann muss das gut sein.
Dann kann er es auch möglich machen.
Und wenn er mich dafür braucht, dann bin ich dazu bereit:
»Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.«
Mehr Worte findet sie nicht.
Für den Moment sind es auch genug.
Der Fremde geht, wie er gekommen ist.
Seine Schritte verhallen.
Nur ein Luftzug erinnert noch an ihn.
Maria bleibt allein zurück.
Doch sie wird aufbrechen, ihre Cousine Elisabeth besuchen.
Sie wird erzählen, was sie erlebt hat.
Erst dann wird sie allmählich begreifen, was sie gerade gehört hat:
»Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes. Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen …«
So war das an jenem Morgen in Nazareth, jedenfalls stelle ich es mir so vor…
V. Das würde ich tun!
Ich bin nicht Maria.
Doch manchmal wünsche ich mir auch, dass ein Engel zu mir käme.
Der morgens den Kaffee mit mir teilt und abends ein Glas Wein.
Manchmal wünsche ich mir, dass mir ein Engel sagen würde, ich sei begnadet und stark,
dass die Welt brauchten würde, was ich zu geben habe.
Ein Engel, der mir Mut zuspricht, wenn ich anfange zu zweifeln.
Der mich festhält, wenn ich falle.
Der groß an die Wände schreibt: »Fürchte dich nicht. Der Herr ist mit dir.«
Der zu mir sagt:
»Es wird vollendet werden, was verheißen ist. Hab keine Angst. Es geht gut aus. Es wird.«
Wenn er kommt und das sagt, dann werde ich antworten:
»Kein Ding ist unmöglich bei Gott. Mir geschehe, wie du gesagt hast.«
Und ich werde mutig aufbrechen in den neuen Tag, in eine neue Zeit.
Amen
- Ein Rätsel – Predigt zu Prediger 12, 1-8
- Weihnachten, das ist eine Sache des Herzens.