Klagen erlaubt
Predigt über Klagelieder 3,22‑32
Manche Christen denken, sie dürfen nicht klagen.
Außer über die Schlechtigkeit der gottlosen Welt.
Sie meinen, ein Christ muss immer fröhlich sein.
Das ist ein Irrtum, wenn auch weit verbreitet.
Wir Kinder Gottes dürfen durchaus klagen.
Selbst ein ganzes Buch der Bibel steht unter der Überschrift „Klagelieder“:
Es sind Klagegebete des Propheten Jeremia, der in seinem Leben unheimlich viel Leid erleben musste.
Unser Predigttext ist ein Stück aus so einem Klagelied.
Auch viele Psalmen sind Klagelieder.
Christen dürfen also klagen – vorausgesetzt, sie haben Grund dazu.
Und sie wenden sich mit ihrem Klagen an die richtige Adresse.
Unter Klagen verstehe ich nicht das das alltägliche Gejammere, das oft zu einer schlechten Angewohnheit geworden ist.
Da wird geklagt, wenn im Supermarkt die Schlange an der Kasse zu lang ist.
Da wird geklagt, wenn das Essen nicht schmeckt.
Da wird geklagt, wenn das Geld nicht reicht, sich alles alles leisten zu können, was gerade in den Sinn kommt.
Da wird geklagt, dass sich jemand ungerecht behandelt fühlt.
Ja, in Deutschland hören wir einen nicht enden wollenden Chor von Klageliedern, obwohl wir doch mit unserem Lebensstandard weitaus mehr Grund zum Loben und Danken haben als zum Klagen.
Aber wer wirklich Grund zum Klagen hat, der darf auch klagen.
Besonders dann, wenn sein normales bisheriges Leben zerstört wird.
Wenn sich seine Träume und Hoffnungen zerschlagen.
Wenn kaputt geht, was er sich mühevoll aufgebaut hat.
Die Familie aus Arweiler darf klagen. Sie haben sich ein Haus gebaut, einen Garten anlegt und ein Auto zusammengespart.
Und nun ist alles weg.
Garten, Auto und Haus mit allem, was sich darin befand.
Sie besitzen nur noch, was sie am Leibe getragen haben, als die Flut kam.
Oder die Frau in ihrer Lebensmitte darf klagen, die plötzlich die Diagnose „Krebs“ erhält und hört, dass medizinisch keine Hoffnung besteht.
Sie weiß, sie wird noch dringend gebraucht.
Auch hatte sie noch so viele Pläne und Hoffnungen für ihr Leben, und nun muss sie damit rechnen, dass es in kurzer Zeit zu Ende geht.
Der Geschäftsmann darf klagen, der mühsam eine Existenz gegründet hat, der Kredite aushandelte, der von früh bis spät hart arbeitete und nun durch Corona bankrott gegangen ist.
Auch Jeremia durfte klagen und das Volk der Juden.
Die Babylonier hatten die ganze Stadt Jerusalem verbrannt und vom heiligen Tempel war nur noch ein trostloser Trümmerhaufen übrig geblieben.
Die Elite des Landes, Anführer, Handwerker, Adel, Geistliche sind in die Sklaverei nach Babylon geführt worden. Die Toten sind begraben.
Nur das einfache Volk durfte, musste bleiben. Damit das Land bestellt werden kann.
Dieses entsetzliche Geschehen der Babylonischen Gefangenschaft ist Gegenstand vieler Klagepsalmen in der Bibel und auch der Klagelieder Jeremias.
Ja, wir dürfen klagen, wenn die Stadt zerstört ist.
Ja, wir dürfen klagen, wenn das Haus zerstört ist
Ja, wir dürfen klagen, wenn die Gesundheit zerstört ist.
Ja, wir dürfen klagen, wenn die berufliche Existenz zerstört ist.
Ja, wir dürfen klagen, wenn die menschliche Hoffnung zerstört ist.
Ja, wir dürfen klagen, wenn das irdische Lebensglück zerstört ist.
Wer wirklich Grund dazu hat, darf klagen, vorausgesetzt, er wendet sich an die richtige Adresse.
Das wird oft ein lieber, verständnisvoller Mensch sein, bei dem das Herz ausgeschüttet werden kann.
Vor allem aber ist es unser Vater im Himmel, denn wer hätte mehr Liebe und Verständnis als er?
Deshalb sind die Klagepsalmen und Klagelieder der Bibel allesamt nach oben gerichtet, an Gottes Adresse.
Ja, es tut gut, sich mit allem Jammer, aller Klage und allem, was das Herz bedrückt an Gott zu wenden.
Verhängnisvoll wäre es, sich in so einer Lage von ihm abzuwenden, den Glauben aufgeben und sich von Gott im Stich gelassen fühlen.
Wer sich mit seiner Klage an Gott wendet, der kann die Erfahrung machen, dass Gott ihn dann tröstet.
Von diesem Trost handelt der Abschnitt aus Jeremias Klagelied, den wir als Predigttext gehört haben.
Es ist kein ungewisser Trost, keine nebulöse Hoffnung.
Es ist auch kein leeres Gerede.
Gottes Trost ist verlässlich, klar und wunderbar.
„Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind.“
Wir leben noch – dank der Güte Gottes.
Und wir werden weiterleben, komme, was da wolle.
Jesus ist gestorben, damit wir ewig leben können:
Und dieses Versprechen Gottes gilt für uns alle, ohne Einschränkung.
Gott mag uns viel Schweres zumuten, aber verstoßen will er uns nicht.
Leben bedeutet, dass Gott bei uns bleibt und wir bei ihm.
Gott garantiert uns nicht, dass sich von uns erwünschte Lebensverhältnisse einstellen.
Auch nicht, dass ich Besitz und Gesundheit wieder in vollem Umfang zurückerlange.
Aber Gott garantiert uns, dass er zu uns hält. Dass er bei uns ist und er es immer gut mit uns meint.
„Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.“
„Teil“ bedeutet „Erbteil“ oder „Besitz“:
Wenn ich auch alles verliere, was Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen oder Pandemien mir rauben können, Gott werde ich nicht verlieren.
Gott kann ich nicht verlieren, er bleibt mein Teil.
„Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“
Wenn wir mit dieser Einstellung Gott unser Leid klagen und zugleich diesen Trost erfahren, dann stellt sich die Erkenntnis ein:
„Der Herr verstößt nicht ewig.“
Das verstehe ich so:
Gott mutet uns nicht andauernd und in Ewigkeit leidvolle Erfahrungen zu.
Es sind vielmehr vorübergehende Verluste, die zwar im Augenblick sehr weh tun aber kein endgültiger Untergang sind.
Mit anderen Worten:
Wer Gott sein Leid klagt, der schöpft wieder Hoffnung.
Ohne Gott kann das Klagen zur Verzweiflung führen.
Ohne Gott muss der Mensch annehmen, er wäre nur ein Staubkorn im Universum.
Ein Staubkorn, das vom Zufall beliebig hin und her geweht wird und am Ende vergeht.
Mit Gott aber kann mitten im Klagelied plötzlich ein Loblied aufkeimen – wie bei Jeremia:
„Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“
Das ist dann auch echt. Und es muss vom Leidtragenden kommen. Nicht von außen.
Von Außenstehenden wirkt das wie ein falscher Kalenderspruch.
Aber wenn diese Erkenntnis von innen kommt, dann hilft diese Erkenntnis dem Klagenden ihn zu trösten.
Sie zeigt ihm, dass Gott ihn nicht verstoßen hat.
Sie bewahrt ihn vor der Verzweiflung.
Diese Hoffnung gibt ungeheuer viel Kraft, das Schwere zu tragen.
Sie beflügelt den Menschen, ganz anders mit seiner Situation umzugehen und viel mehr Geduld zu haben, als wenn die Hoffnung nicht da wäre.
Darum glaube ich, dass wir auch dann, wenn wir berechtigten Grund zur Klage haben, unsere Klagelieder und Klagegebete mit Lob und Dank vermischen sollten:
„Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“
Amen.
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