Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

Aufgeschlagene Bibel mit Notizblock und Stift

Predigt zu Johannes 5,39–47 am 1. Sonntag nach Trinitatis in der Nürtinger Lutherkirche am 22.06.2025

Liebe Geschwister,
es ist eine irritierende Szene, die Johannes uns überliefert:
Menschen, die in den Schriften nach dem ewigen Leben suchen und dabei an dem vorbeigehen, der das Leben selbst ist.
Der, der Leben schenkt, steht vor ihnen
und sie schlagen die Tür zu.

1. Gutes Tun – Verfolgung erfahren

Dieser Text ist 2000 Jahre alt.
Er beschreibt die Reaktion Jesu auf den Vorwurf, dass er Gottes Wille mißachte, weil er am Sabbat einen Menschen geheitl hat.
Ich bin mir sicher:
Die Szene, die Johannes beschreibt, ist bis heute aktuell.
Wie oft eckt gutes Tun an bestehenden Traditionen an.
Dann rückt das Gute in den Hintergrund und der Verstoß gegen die guten Sitten in den Vordergrund.

Das ist kein rein biblisches Phänomen.
Victor Hugo hat das im 19. Jahrhundert eindrücklich beschrieben:
In seinem Roman Les Misérables stiehlt Jean Valjean ein Brot –
nicht aus Gier, sondern um seine hungernde Familie zu retten.
Doch dieser Akt der Fürsorge wird als Verbrechen verurteilt.
Er wird gebrandmarkt, weggesperrt, lebenslang verfolgt –
nicht weil er böse war, sondern weil er gegen die Ordnung handelte.

Was zählt mehr: Das Leben eines Kindes – oder das Gesetz?
Was zählt mehr: Gerechtigkeit – oder das Einhalten der Form?

Diese Frage stellt sich bis heute.

Auch heute geraten Menschen in Verruf,
weil sie das Richtige tun – aber nicht so, wie es vorgesehen ist.
Man denke an die Seenotretterinnen und -retter im Mittelmeer:
Sie retten Ertrinkende vor dem Tod.
Und doch werden sie angeklagt, verurteilt, kriminalisiert.
Warum?
Weil sie gegen bürokratische Vorgaben oder politische Interessen handeln.
Weil sie nicht wegschauen – sondern handeln.
Weil sie Leben retten, wo andere sich abschotten.

So wird das Gute verdächtig.
Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
Die Wahrheit wird unbequem.

Jesus sagt:
„Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt.“
Aber er weiß auch:
Das Leben ist nicht immer konform.
Die Liebe geht manchmal Umwege.
Die Wahrheit sprengt oft unsere Normen.

So wird das Gute verdächtig.
Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
Die Wahrheit wird unbequem.

Und genau das zeigt Jesus in unserer Bibelstelle:
Er heilt – und wird dafür verurteilt.
Er rettet – und wird dafür abgelehnt.
Weil er nicht ins Schema passt.
Weil seine Wahrheit nicht mit der gewohnten Ordnung übereinstimmt.

Ich finde:
Diese Stelle im Johannesevangelium ist keine historische Fußnote.
Sie ist ein Spiegel.
Ein Spiegel in unserer Zeit.
Ein Spiegel für uns.
Für unseren Umgang mit der Wahrheit.
Für unsere Gottesbeziehung.

2. Wahrheit erkennen – oder bestätigen wollen?

„Ihr meint, in den Schriften habt ihr das ewige Leben – und sie sind es, die von mir zeugen“, sagt Jesus.
Das klingt zunächst gar nicht falsch.
Wer in der Bibel liest, sucht doch nach dem, was trägt.
Sucht nach Orientierung, nach Leben.

Aber Jesus macht deutlich:
Suchen reicht nicht!
Jesus stellt uns entscheidente Frage:
Bin ich bereit, der Wahrheit zu begegnen? Auch wenn sie mich in Frage stellt?

Und diese Wahrheit ist nicht ungefährlich.
Sie legt offen, wo wir versagt haben.
Wo wir uns selbst genug waren.
Wo wir uns lieber bestätigen als verändern lassen wollen.

Jesus macht deutlich:
Die Wahrheit Gottes hat ein Ziel: Das ewige Leben, die lebendige Beziehung.
Es geht nicht um Wissen – sondern um Wandlung.
Es geht nicht um Argumente – sondern um Begegnung.
Begegnung nicht nur mit Gott, sondern auch mit den Mitmenschen.
„Was ihr dem geringsten meiner Brüder/Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“
Auch das stammt von Jesus

3. Ehre suchen – aber wo?

Jesus sagt:
„Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die vom einzigen Gott kommt, nicht sucht?“

Das ist entlarvend.
Denn es trifft einen wunden Punkt – auch noch heute.
Wir richten uns oft nach dem, was andere von uns denken.
Wir suchen Anerkennung.
Wir suchen Zustimmung.
Wir suchen Klickzahlen.
Selbst im Glauben kann es geschehen, dass wir nur das hören wollen, was uns bestätigt.
Was in unserer Blase, unserer Umgebung, unserer Gemeinde als Wahr angesehen wird, wird schnell zur einzigen Wahrheit.
Und alles andere?
Wird aussortiert.

Das macht es einfach.
Wir blenden das Unpassende aus.
Wir sortieren das für uns Passende als Wahr ein und verteufeln das Unpassende als fake news.
Aber echte Wahrheit.
Die göttliche Wahrheit.
Die ist oft unbequem.
Denn sie fragt: Wem willst du gefallen – Menschen oder Gott?

Gottes Wahrheit ist keine Waffe.
Sie ist keine Waffe in Debatten, sondern eine Kraft, die verwandelt.
Sie will nicht verletzen, sondern heilen.
Sie zeigt uns wer wir wirklich sind.
Sie zeigt uns unsere Unvollkommenheit.
Unsere Fehler.
Unseren Unglauben.
Unsere Zweifel.
Aber sie zeigt uns auch:
Du bist ein von Gott geliebtes Gotteskind

Das ist die Kraft, die aus der Wahrheit Leben macht: Gottes Liebe.
Eine Liebe die sagt: „Ich bin da. Bei dir. Ich bin unverrückbar in meiner Treue zu dir!“

4. Gottes Wahrheit verändert – aber sie zwingt nicht

Jesus sagt: „Ich nehme keine Ehre von Menschen. Ich bin gekommen im Namen meines Vaters, und ihr nehmt mich nicht an.“

Gott zwingt sich niemanden auf.
Seine Wahrheit will nicht niederdrücken.
Seine Wahrheit will aufrichten.

Sie ist nicht laut.
Sie ist beharrlich.
Sie klagt an – um zu befreien.

Mose wird zum Ankläger, durch die Gebote Gottes.
Wer kann alle Gebote immer halten.
Wie schnell geraten wir in Schuld.
Jesus klagt nicht an.
Er hat unsere Schuld auf sich genommen.
So wird die Schrift zum Spiegel.
Nicht um zu verdammen, sondern um zu erinnern:
Du bist mehr als dein Scheitern.
Darum frage dich:
**Woran hängt mein Herz?
Wo suche ich Leben?
Aber ich finde nur Leistung, Meinung, Bestätigung.

5. Wahrhaftig leben – geistlich wachsen

Wer in Wahrheit leben will, muss lernen, vor Gott zu bestehen – nicht vor den Menschen.
Und das bedeutet oft:
Kritik annehmen.
Sich korrigieren lassen.
Neu anfangen.
Das ist ein aktiver Prozess.
Es reicht nicht, dass wir einmal bei der Konfirmation oder der Taufe ja gesagt haben.
Es geht darum, dieses Ja täglich zu leben.
In Wahrheit.
In Wahrhaftigkeit.
Im Ringen mit uns selbst,
mit Gott,
mit unserer Berufung als Christinnen und Christen.

6. Die Gemeinde: Ort der Wahrheit und der Gnade

Eine Gemeinde, die sich an Jesus orientiert, ist keine Gemeinschaft der Perfekten.
Sie ist Raum für Suchende, für Verletzte, für Lernende.
Jesus ist nicht sauer.
Jesus ist nicht enttäuscht, weil wir Fehler machen.
Er ist traurig, wenn wir nicht zu ihm kommen.
Wenn wir ihn ignorieren, weil wir glauben, es allein schaffen zu müssen.

Wir brauchen eine Gemeinschaft, die Mut macht, uns dem Spiegel zu stellen.
Wir brauchen eine Gemeinschaft, die zugleich bezeugt:
„Du bist geliebt.
Du bist wertvoller als alles Gold der Welt.“

Dann wird die Wahrheit nicht hart sein, sondern heilend.

7. Was bleibt?

Was bleibt – nach dieser Begegnung mit Jesu Worten?

Vielleicht keine schnelle Antwort.
Vielleicht eher ein leises Innehalten.
Ein Staunen.
Oder auch ein Schmerz.

Denn Jesu Wahrheit ist keine These.
Sie ist eine Stimme.
Eine Stimme, die ruft: „Komm. Ich sehe dich. Ich will dir Leben schenken.“

Und diese Stimme fragt nicht zuerst:
„Was hast du geglaubt?“
Sondern: „Wem bist du begegnet?“

Nicht: „Was hast du richtig gemacht?“
Sondern: „Wo hast du dich lieben lassen?“

Was bleibt?

Ein Gott, der nicht fordert, sondern einlädt.
Ein Gott, der nicht anklagt, sondern aufrichtet.
Ein Gott, der nicht fern ist – sondern an deiner Seite.

Er sagt nicht:
„Du bist falsch.“
Sondern:
„Du bist mein. Ich will, dass du lebst.“

Und vielleicht reicht das – für heute:
Zu wissen,
dass ich mit meiner Sehnsucht nicht allein bin.
Dass Gottes Wahrheit nicht trennt, sondern verbindet.
Dass ich nicht perfekt sein muss,
um geliebt zu sein.

Amen.

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