Schlagwort: Predigt

  • Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

    Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

    Predigt zu Johannes 5,39–47 am 1. Sonntag nach Trinitatis in der Nürtinger Lutherkirche am 22.06.2025

    Liebe Geschwister,
    es ist eine irritierende Szene, die Johannes uns überliefert:
    Menschen, die in den Schriften nach dem ewigen Leben suchen und dabei an dem vorbeigehen, der das Leben selbst ist.
    Der, der Leben schenkt, steht vor ihnen
    und sie schlagen die Tür zu.

    1. Gutes Tun – Verfolgung erfahren

    Dieser Text ist 2000 Jahre alt.
    Er beschreibt die Reaktion Jesu auf den Vorwurf, dass er Gottes Wille mißachte, weil er am Sabbat einen Menschen geheitl hat.
    Ich bin mir sicher:
    Die Szene, die Johannes beschreibt, ist bis heute aktuell.
    Wie oft eckt gutes Tun an bestehenden Traditionen an.
    Dann rückt das Gute in den Hintergrund und der Verstoß gegen die guten Sitten in den Vordergrund.

    Das ist kein rein biblisches Phänomen.
    Victor Hugo hat das im 19. Jahrhundert eindrücklich beschrieben:
    In seinem Roman Les Misérables stiehlt Jean Valjean ein Brot –
    nicht aus Gier, sondern um seine hungernde Familie zu retten.
    Doch dieser Akt der Fürsorge wird als Verbrechen verurteilt.
    Er wird gebrandmarkt, weggesperrt, lebenslang verfolgt –
    nicht weil er böse war, sondern weil er gegen die Ordnung handelte.

    Was zählt mehr: Das Leben eines Kindes – oder das Gesetz?
    Was zählt mehr: Gerechtigkeit – oder das Einhalten der Form?

    Diese Frage stellt sich bis heute.

    Auch heute geraten Menschen in Verruf,
    weil sie das Richtige tun – aber nicht so, wie es vorgesehen ist.
    Man denke an die Seenotretterinnen und -retter im Mittelmeer:
    Sie retten Ertrinkende vor dem Tod.
    Und doch werden sie angeklagt, verurteilt, kriminalisiert.
    Warum?
    Weil sie gegen bürokratische Vorgaben oder politische Interessen handeln.
    Weil sie nicht wegschauen – sondern handeln.
    Weil sie Leben retten, wo andere sich abschotten.

    So wird das Gute verdächtig.
    Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
    Die Wahrheit wird unbequem.

    Jesus sagt:
    „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt.“
    Aber er weiß auch:
    Das Leben ist nicht immer konform.
    Die Liebe geht manchmal Umwege.
    Die Wahrheit sprengt oft unsere Normen.

    So wird das Gute verdächtig.
    Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
    Die Wahrheit wird unbequem.

    Und genau das zeigt Jesus in unserer Bibelstelle:
    Er heilt – und wird dafür verurteilt.
    Er rettet – und wird dafür abgelehnt.
    Weil er nicht ins Schema passt.
    Weil seine Wahrheit nicht mit der gewohnten Ordnung übereinstimmt.

    Ich finde:
    Diese Stelle im Johannesevangelium ist keine historische Fußnote.
    Sie ist ein Spiegel.
    Ein Spiegel in unserer Zeit.
    Ein Spiegel für uns.
    Für unseren Umgang mit der Wahrheit.
    Für unsere Gottesbeziehung.

    2. Wahrheit erkennen – oder bestätigen wollen?

    „Ihr meint, in den Schriften habt ihr das ewige Leben – und sie sind es, die von mir zeugen“, sagt Jesus.
    Das klingt zunächst gar nicht falsch.
    Wer in der Bibel liest, sucht doch nach dem, was trägt.
    Sucht nach Orientierung, nach Leben.

    Aber Jesus macht deutlich:
    Suchen reicht nicht!
    Jesus stellt uns entscheidente Frage:
    Bin ich bereit, der Wahrheit zu begegnen? Auch wenn sie mich in Frage stellt?

    Und diese Wahrheit ist nicht ungefährlich.
    Sie legt offen, wo wir versagt haben.
    Wo wir uns selbst genug waren.
    Wo wir uns lieber bestätigen als verändern lassen wollen.

    Jesus macht deutlich:
    Die Wahrheit Gottes hat ein Ziel: Das ewige Leben, die lebendige Beziehung.
    Es geht nicht um Wissen – sondern um Wandlung.
    Es geht nicht um Argumente – sondern um Begegnung.
    Begegnung nicht nur mit Gott, sondern auch mit den Mitmenschen.
    „Was ihr dem geringsten meiner Brüder/Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“
    Auch das stammt von Jesus

    3. Ehre suchen – aber wo?

    Jesus sagt:
    „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die vom einzigen Gott kommt, nicht sucht?“

    Das ist entlarvend.
    Denn es trifft einen wunden Punkt – auch noch heute.
    Wir richten uns oft nach dem, was andere von uns denken.
    Wir suchen Anerkennung.
    Wir suchen Zustimmung.
    Wir suchen Klickzahlen.
    Selbst im Glauben kann es geschehen, dass wir nur das hören wollen, was uns bestätigt.
    Was in unserer Blase, unserer Umgebung, unserer Gemeinde als Wahr angesehen wird, wird schnell zur einzigen Wahrheit.
    Und alles andere?
    Wird aussortiert.

    Das macht es einfach.
    Wir blenden das Unpassende aus.
    Wir sortieren das für uns Passende als Wahr ein und verteufeln das Unpassende als fake news.
    Aber echte Wahrheit.
    Die göttliche Wahrheit.
    Die ist oft unbequem.
    Denn sie fragt: Wem willst du gefallen – Menschen oder Gott?

    Gottes Wahrheit ist keine Waffe.
    Sie ist keine Waffe in Debatten, sondern eine Kraft, die verwandelt.
    Sie will nicht verletzen, sondern heilen.
    Sie zeigt uns wer wir wirklich sind.
    Sie zeigt uns unsere Unvollkommenheit.
    Unsere Fehler.
    Unseren Unglauben.
    Unsere Zweifel.
    Aber sie zeigt uns auch:
    Du bist ein von Gott geliebtes Gotteskind

    Das ist die Kraft, die aus der Wahrheit Leben macht: Gottes Liebe.
    Eine Liebe die sagt: „Ich bin da. Bei dir. Ich bin unverrückbar in meiner Treue zu dir!“

    4. Gottes Wahrheit verändert – aber sie zwingt nicht

    Jesus sagt: „Ich nehme keine Ehre von Menschen. Ich bin gekommen im Namen meines Vaters, und ihr nehmt mich nicht an.“

    Gott zwingt sich niemanden auf.
    Seine Wahrheit will nicht niederdrücken.
    Seine Wahrheit will aufrichten.

    Sie ist nicht laut.
    Sie ist beharrlich.
    Sie klagt an – um zu befreien.

    Mose wird zum Ankläger, durch die Gebote Gottes.
    Wer kann alle Gebote immer halten.
    Wie schnell geraten wir in Schuld.
    Jesus klagt nicht an.
    Er hat unsere Schuld auf sich genommen.
    So wird die Schrift zum Spiegel.
    Nicht um zu verdammen, sondern um zu erinnern:
    Du bist mehr als dein Scheitern.
    Darum frage dich:
    **Woran hängt mein Herz?
    Wo suche ich Leben?
    Aber ich finde nur Leistung, Meinung, Bestätigung.

    5. Wahrhaftig leben – geistlich wachsen

    Wer in Wahrheit leben will, muss lernen, vor Gott zu bestehen – nicht vor den Menschen.
    Und das bedeutet oft:
    Kritik annehmen.
    Sich korrigieren lassen.
    Neu anfangen.
    Das ist ein aktiver Prozess.
    Es reicht nicht, dass wir einmal bei der Konfirmation oder der Taufe ja gesagt haben.
    Es geht darum, dieses Ja täglich zu leben.
    In Wahrheit.
    In Wahrhaftigkeit.
    Im Ringen mit uns selbst,
    mit Gott,
    mit unserer Berufung als Christinnen und Christen.

    6. Die Gemeinde: Ort der Wahrheit und der Gnade

    Eine Gemeinde, die sich an Jesus orientiert, ist keine Gemeinschaft der Perfekten.
    Sie ist Raum für Suchende, für Verletzte, für Lernende.
    Jesus ist nicht sauer.
    Jesus ist nicht enttäuscht, weil wir Fehler machen.
    Er ist traurig, wenn wir nicht zu ihm kommen.
    Wenn wir ihn ignorieren, weil wir glauben, es allein schaffen zu müssen.

    Wir brauchen eine Gemeinschaft, die Mut macht, uns dem Spiegel zu stellen.
    Wir brauchen eine Gemeinschaft, die zugleich bezeugt:
    „Du bist geliebt.
    Du bist wertvoller als alles Gold der Welt.“

    Dann wird die Wahrheit nicht hart sein, sondern heilend.

    7. Was bleibt?

    Was bleibt – nach dieser Begegnung mit Jesu Worten?

    Vielleicht keine schnelle Antwort.
    Vielleicht eher ein leises Innehalten.
    Ein Staunen.
    Oder auch ein Schmerz.

    Denn Jesu Wahrheit ist keine These.
    Sie ist eine Stimme.
    Eine Stimme, die ruft: „Komm. Ich sehe dich. Ich will dir Leben schenken.“

    Und diese Stimme fragt nicht zuerst:
    „Was hast du geglaubt?“
    Sondern: „Wem bist du begegnet?“

    Nicht: „Was hast du richtig gemacht?“
    Sondern: „Wo hast du dich lieben lassen?“

    Was bleibt?

    Ein Gott, der nicht fordert, sondern einlädt.
    Ein Gott, der nicht anklagt, sondern aufrichtet.
    Ein Gott, der nicht fern ist – sondern an deiner Seite.

    Er sagt nicht:
    „Du bist falsch.“
    Sondern:
    „Du bist mein. Ich will, dass du lebst.“

    Und vielleicht reicht das – für heute:
    Zu wissen,
    dass ich mit meiner Sehnsucht nicht allein bin.
    Dass Gottes Wahrheit nicht trennt, sondern verbindet.
    Dass ich nicht perfekt sein muss,
    um geliebt zu sein.

    Amen.

  • So schön kaputt

    Predigt in der evangelischen Kirche in Raidwangen zu Offenbarung 15,2-4 und „So schön kaputt“ von sdp

    Den heutigen Predigttext finden wir in der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel.
    Viele Bilder der Offenbarung sind auch Menschen bekannt, die nie in die Bibel geschaut haben.
    Jeder kennt das Buch mit den sieben Siegeln und die apokalyptischen Reiter, die beim Brechen der sieben Siegel auftauchen.
    Sie zerstören mit Feuer, Gift und Gewalt ganze Landstriche.
    Ein Untier aus der Tiefe erscheint, mit der eintätowierten, unheiligen Zahl: 666. Es ist eine Macht, die alles zerstört.
    Es werden Schalen des Zorns ausgeleert.
    Die Hure Babylon wird entkleidet, geschlachtet und verbrannt. Und erst ganz zum Schluss erscheint das neue Jerusalem, wo alle Tränen abgewischt werden und kein Leid und kein Hilfegeschrei mehr sein wird.
    In vielen Romanen und Filme, die sich mit dem Weltuntergang befassen, finden wir Anspielungen auf die Offenbarung des Johannes.
    Das ganze Genre der apokalyptischen Literatur wird von der Offenbarung beeinflusst.
    Entstanden ist sie etwa 100 Jahre n. Chr. im Osten des römischen Reiches, auf dem Gebiet der heutigen Türkei.
    Diese Gemeinden grenzten sich gegen den römischen Staatskult und die griechisch-römische Gesellschaft ab.
    Deshalb waren sie sowohl durch Verfolgung als auch durch mancherlei Verlockungen gefährdet.
    Hier setzt Johannes an und beschreibt die christliche Existenz als Entscheidung zwischen Gut und böse, christlich und heidnisch.
    Es gibt nur schwarz oder weiß.

    Leider sind uns heute viele der in der Offenbarung gebrauchten Bilder fremd und unverständlich.
    So auch die berühmte 666 als Zeichen des Teufels oder eines römischen Kaisers?
    Ich werde heute unseren Predigttext weder in einen historischen Zusammenhang stellen, noch werde ich versuchen ihn im Sinne der Offenbarung zu erklären.
    Der Vers 15 steht zwischen den apokalyptischen Reitern und dem Ausgießen der sieben Schalen.
    Wie in einem Auge eines Hurrikans. Rund herum tobt der vernichtende Sturm und im Auge ist es Windstill.
    Neugierig geworden?

    Hier kommt der Predigttext: Offenbarung 15,2-4

    Lied der Miriam

    Ich sehe Menschen, die überlebt haben. Sie stehen am Rande eines Meeres und sie erinnern sich an eine uralte Geschichte über Flucht.
    Die Geschichte vom Auszug aus Ägypten.
    Der Pharao ließ die Israeliten erst nach 7 Plagen aus der Sklaverei gehen und doch schickte er seine Armee hinterher.
    Durch Gottes Hilfe wurde das Meer geteilt und die Israeliten konnten ihren Verfolgern entkommen.
    Am rettenden Ufer des Meeres, in Sicherheit, hat Mose ein Lied angestimmt und Miriam hat es mit den Frauen aufgenommen.
    Ein Lied zur Ehre und Lob Gottes.

    Wir wollen nun auch ein Lied anstimmen.
    „Im Lande der Knechtschaft, da lebten sie traurig“ EG 604, 1-3

    Das Lied vom Lamm

    In unserem Predigttext singen die Überlebenden nicht nur das Lied des Mose sondern auch das Lied des Knechtes Gottes und das Lied des Lammes.
    „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr allmächtiger Gott!
    Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege,
    du König der Völker.
    Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?
    Denn du allein bist heilig!
    Ja, alle Völker werken kommen und anbeten vor dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden.“

    Auch wir haben unsere Lieder vom Lamm.
    Er ist erstanden, Haleluja EG 116,1+5

    So schön kaputt

    Und dann habe ich Ihnen/Euch noch ein drittes Lied mitgebracht.
    Keine Angst jetzt müsst Ihr nicht schon wieder singen.
    Es ist ein Lied über das Leben, über unser Leben.
    Ein Lied, nicht am Rand des Meeres. Sondern mitten im Leben.

    sdp – So schön kaputt
    Wir sind vom Leben gezeichnet in den buntesten Farben.
    Und wir tragen sie mit Stoz, unsere Wunden und Narben.
    Wir sind vom Leben gezeichnet mit Dreck und mit Schmutz
    Doch es glänzt wie Perlmutt, wir sind so schön kaputt
    So schön kaputt

    Nicht schwarz – nicht weiß

    Das ist das Bild, das ich eher von unserem Leben habe.
    Da sind keine apokalyptischen Reiter,
    kein Meer aus Glas und Feuer,
    kein Gut oder Böse,
    kein Weiß oder Schwarz.

    Sondern da ist irgend etwas mittendrin.
    Irgendetwas zwischen Gut und Böse – hoffentlich mehr Gut als Böse.
    Irgendetwas zwischen Weiß und Schwarz – hoffentlich ein freundliches Grau.

    Mir gefällt an dem Lied das Bild: So schön kaputt!

    Schön Kaputt ist auch nicht eindeutig.
    Ist es nun Kaputt aber trotzdem schön.
    Oder ist es nicht mehr ganz und trotzdem nicht völlig zerstört.
    Schön Kaputt kann ich mich fühlen wenn ich mich körperlich verausgabt habe und trotzdem oder gar deswegen glücklich bin.

    Schön Kaputt hat Potential.
    Mit schön Kaputt kann ich noch etwas anfangen.
    Schön kaputtes kann ich renovieren und dann in einer Vitrine ausstellen.
    Ich brauche Zeit, eine Idee und richtiges Werkzeug.
    Ein kaputtes Leben kann ich richten.
    Ich brauche Geduld, Menschen, die mich tragen, und Vergebung.

    Und dann kann ich immer wieder neu anfangen, egal wie kaputt mein Leben ist.

    Zuerst muss ich mir selbst vergeben.
    Dann die Gemeinschaft: Familie, Freunde, Gemeinde.
    Und einer, der immer an meiner Seite steht, egal wie kaputt ich bin, das ist Jesus.
    Der meine Schuld auf sich genommen hat, der am Kreuz für meine Sünden gestorben ist und der Auferstanden ist um den Tod zu überwinden.
    Auch den Tod, den wir mitten im Leben erleiden können.
    Da kann ich mir sicher sein, er wird mir vergeben.
    Er sieht auch in meinem kaputten Leben den verborgenen Schatz, der mich rechtfertigt.

    Mit Jesus kann ich, vom Leben gezeichnet, meine Wunden und Narben mit Stolz tragen.
    Und durch den selbst verschuldeten Dreck und Schmutz hindurch mich aufmachen und mein Leben neu ordnen, neu beginnen.
    Zusammen mit Jesus und den Menschen um mich herum, denen es nicht anders geht.
    Amen

    Du bist der Weg und die Wahrheit und das Leben EG 619,1-4

  • Christus ein Auge hat auf die Seinen

    Christus ein Auge hat auf die Seinen

    Predigt am 30.04.2023 zu Johannes 16, 16-23a in der Frickenhäuser Kirche „zu unserer lieben Frau“

    Wir alle erleben Abschiede und freudiges Wiedersehen.

    Manche Abschiede sind wir gewohnt.
    Beim täglichen Weggehen zur Arbeit. Große Gefühle kommen dabei nicht mehr auf.
    Die Wiedersehensfreude beim Heimkommen ist trotzdem da: „Schön, dass du wieder heimkommst.“

    Kinder müssen erst lernen, dass dem täglichen Abschied in den Kindergarten oder in die Grundschule ein Wiedersehen folgt.
    Manche können die Tränen noch nicht zurückhalten, weil sie das, wohin sie gehen, noch nicht wirklich kennen. Es ist ihnen noch fremd und etwas unheimlich.
    Oder weil die Mutter oder der große Bruder nicht dabei sein können.
    Umso größer und ausgelassener ist die Freude beim Wieder-nach-Hause-Kommen.

    Auch als Erwachsene erleben wir immer wieder Abschiede, die uns rühren.

    Der Mensch, mit dem wir Tag für Tag unser Leben teilen, tritt eine große Reise an, mit dem Flugzeug.
    Er wird Tage oder Wochen weit weg sein.
    Da können bei der Abfahrt zum Flughafen schon ein paar Tränen kommen und der Gedanke: „Es wird doch alles gut gehen. Hoffentlich passiert nichts.“
    Und wie wunderschön ist es bei der Rückkehr.
    Freudiges Zuwinken von weitem schon. Umarmungen. Freude pur. Es soll Menschen geben, die nur wegfahren, weil das Heimkommen und Wiedersehen so schön ist.

    Und wir erleben Abschiede, denen kein Wiedersehen folgen wird.
    Nur noch eine kurze Zeit können wir zusammen sein.
    Eine kleine Weile.
    Große Traurigkeit erfüllt uns, wenn wir sehen, dass ein geliebter Mensch für immer geht.
    Und auch die Angst davor steigt auf, wie das eigene Leben sein wird, wenn der geliebte Mensch gegangen ist und nie mehr wiederkommen wird.

    Im Verstand können wir umgehen mit Abschied. Unsere Gefühle brauchen Zeit, manchmal sehr lange Zeit.

    Eine kleine Weile noch

    Jesus sagte seinen Jüngern zwei Sätze zu Abschied und Wiedersehen.
    Diese konnten sie mit ihrem Verstand nicht fassen.
    „Was redet er da!“, fragten sie einander.
    „Wir wissen nicht, was das bedeutet:
    „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen;
    und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“

    Wollte er sie etwas trösten mit dieser Aussicht auf ein Wiedersehen?

    Sie konnten mit diesem Trost noch nichts anfangen.
    Da war kein Erschrecken und kein Entsetzen zu sehen.
    Da war kein Heulen und Wehklagen zu hören.

    Sie waren ganz damit beschäftigt, was er da so Rätselhaftes gesagt hatte.
    Ein großes Palaver war am Tisch. Alle redeten durcheinander: Was will er denn damit sagen?

    Jesus hört sich das eine Zeit lang schweigend an.
    Dann erklärt er:
    Ihr werdet heulen und jammern und klagen – während die Welt um euch herum sich freut.
    Ja, ihr werdet tieftraurig sein.
    Aber ganz bestimmt wird sich eure Traurigkeit in Freude verwandeln.
    Es wird eine unbeschreibliche Freude sein.
    Niemand wird sie euch zerstören können.
    Sie wird tief in eurem Herzen wurzeln.
    Denn ich werde euch wiedersehen und ihr werdet mich wiedersehen.
    Und dann braucht ihr mich nichts mehr fragen.
    Ihr werdet nicht mehr sagen: Was redest du?
    Es wird einfach alles klar sein.
    Ihr werdet nur noch strahlen vor Freude.
    Eine kleine Weile wird euch die Traurigkeit gefangen nehmen, bis euch Freude erfüllt.

    Jesus redet die Freude, die kommt, ganz groß. Er lässt die Trauer dagegen klein erscheinen.

    Da verstummte das Hin und Her und Durcheinanderfragen.

    Obwohl doch jetzt erst recht Grund genug da war, zu fragen:
    Wie soll das zugehen?

    Ich will euch wiedersehen

    Bekommen wir heute auch etwas ab von jenem Versprechen:
    Ihr werdet mich wiedersehen?

    Wir haben ihn ja nicht so gesehen wie seine Jünger nach dem Ostermorgen.

    Wir haben ihn nicht berührt.

    Wir haben seine Stimme nicht gehört, als er am Ufer stand und rief: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“

    Also wenn wir ihn sehen, dann wird es nicht wirklich ein Wiedersehen sein.

    Zwar haben wir Bilder von ihm im Kopf.
    Wir haben sie gesehen in unseren Kinderbibeln oder wir sehen sie auf Fresken in alten Kirchen oder auf Ikonen.
    Und wir glauben, ihn ein bisschen zu kennen, weil wir vielleicht unser Leben lang mit seinen Gedanken und seinen Worten umgehen.
    Manche können wir auswendig sagen.

    Aber würden wir ihn erkennen?

    Versprochen ist es, dass wir ihn sehen.
    Doch es wird überraschend anders sein.

    Am Ende sagt er: „Auch ihr habt nun Traurigkeit. Aber ich will euch wiedersehen. Und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“

    Ist das nicht wunderbar?

    Es gibt in unser aller Leben Abschnitte, in denen wir tieftraurig sind und uns verloren und von aller Welt vergessen vorkommen.
    Verlassen und unglücklich, weil uns nichts mehr gelingt und wir mit nichts unsere Lebensfreude wieder herbeischaffen können.

    Er aber sagt: „Ich will euch wiedersehen!“

    Werden wir ihn erkennen?

    Wenn das geschehen würde, dann wären wir zunächst einmal völlig durcheinander.
    Das Wiedersehen würde uns irritieren, wie es den Jüngern nach Ostern geschah.

    Sie kennen das vielleicht.
    Sie sind irgendwo unterwegs.
    Und plötzlich sehen sie einen Menschen vor sich, von dem Sie denken: Den kenn ich doch?
    Aber woher und wer ist es?
    Es will Ihnen nicht einfallen.

    Das Rätsel liegt darin, dass Sie den Menschen an einem ganz anderen Ort und in einem ganz anderen Zusammenhang erlebt haben.
    Nie hätten Sie ihn hier erwartet:

    Den Postboten auf einem Wanderparkplatz im Allgäu.
    Die Krankenschwester bei einem Konzert.
    Den früheren Kollegen, den Sie seit Jahrzehnten aus Ihrem Gesichtskreis verloren haben, im Freibad.

    Es braucht eine ganze Weile, bis Sie aus Ihrem Gedächtnis die Erinnerungen und Zusammenhänge wieder zusammengekramt haben und Sie sagen können: „Ich hätte Sie gar nicht wiedererkannt.“

    Du siehst mich

    Mit so etwas müssen wir rechnen, wenn Jesus sein Versprechen einlöst.

    Also dass wir ihn verwechseln und gar nicht erkennen, so wie Maria Magdalena den Gärtner ansprach, als Jesus vor ihr stand.
    Wenn es ein Wiedersehen gibt, dann sicher nicht in der Gestalt, die wir uns vorstellen.
    Also nicht so, wie Jesus in Kinderbibeln gemalt ist oder auf Fresken in alten Kirchen.

    Das Wiedersehen geht ganz und allein von ihm aus.
    Er will es.
    Und er wird es zuwege bringen, wann und wo und wie es ihm gefällt.

    Er sieht uns.
    Er sieht uns, wenn wir in tiefer Traurigkeit sind und der Verzweiflung nahe.
    Er sieht uns, wenn uns die Angst überwältigt angesichts der Macht des Bösen, das die Welt gerade beherrscht und uns alle Hoffnung nimmt.
    Er sieht uns, wenn wir uns ein Herz fassen, und uns über einen Menschen, der im Elend ist, erbarmen.

    Vielleicht nehmen wir seinen Blick nicht wahr und sehen ihn nicht, wenn er uns ansieht.
    Doch er hat Geduld mit unserem langsamen Erkennen.
    Und wenn uns dann endlich die Augen geöffnet sind, wird die Freude überwältigend sein.

    Er sieht uns.
    Amen.

  • Ein kleines Osterfest in der Passionszeit

    Predigt zu Jesaja 54,7–10 gehalten am Sonntag Lätare (19.03.2023) in der Unterensinger Michaelskirche

    I. Einen Moment die Ewigkeit spüren

    Stellen Sie sich das vor:
    Da steht eine Uroma auf ihrem Stock gestützt vor der Kirche.
    Ihre Augen strahlen.
    Gerade eben ist ihr Urenkel getauft worden. Und sie hatte sich so gefreut, wie der Täufling die Uroma angelächelt und mit seinen Händchen interessiert die Falten in ihrem Gesicht studiert hatte.
    »In einem Augenblick kann die ganze Ewigkeit liegen«, sagt sie.

    Ihren eigenen Taufspruch haben die Eltern ausgesucht. Das freut sie besonders:
    »Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
    aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
    und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
    spricht der Herr, dein Erbarmer!«

    II. Im Schwung des Neuen: Jesaja 54,7–10

    Heute hören wir als Predigttext den Abschnitt aus dem Jesajabuch, in dem dieser Vers steht.

    Predigttextes: Jesaja 54,7–10

    III. EINEM geht’s durch und durch

    Das geht einem durch und durch.
    Wo wir dachten: Das gibt’s doch nicht!
    Und jetzt passiert es doch:

    Berge weichen. Hügel fallen hin. Polkappen schmelzen ab. Gletscher verschwinden.
    Menschen in Europa schießen wieder aufeinander.
    Kinder morden Kinder.
    Unsere Erde, unsere Welt ist aus dem Lot.

    Dazu kommt noch, was Menschen persönlich zu tragen haben:
    Die Nachricht: »Ja, es ist Krebs!«
    Eltern bringen ihr Leben nicht mehr miteinander hin.
    Schulden wachsen über den Kopf.
    Ein Freund stirbt ganz plötzlich am Herzinfarkt.

    Das geht einem durch und durch.

    Auch wenn wir es nicht glauben. Das geht auch Gott durch und durch.
    Gott selbst ist bis ins Mark erschüttert.
    So sagt’s Jesaja.

    Gleich dreimal malt er vor Augen:
    Gott ist im Innersten bewegt.
    Aus dem Innersten heraus »erbarmt sich« Gott, so übersetzt Luther.

    Eine andere Übersetzung spricht von »tiefer Liebe«:
    »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen,
    aber in tiefer Liebe will ich dich wieder sammeln.
    Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen,
    aber mit ewiger Gnade liebe ich dich, spricht der Herr, dein Erlöser …
    Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
    aber meine Gnade soll nicht von dir weichen
    und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
    spricht der Herr, voll tiefer Liebe.«

    Von ganz tief innen fließt da eine Kraft aus Gott heraus zu Menschen in Not.
    Als leidenschaftlicher Liebhaber meldet er sich zu Wort.
    Bis ins Mark erschüttert zeigt er sich.
    Er ist außer sich im Zorn. Einen kleinen Augenblick nur – doch die Flut ist gewaltig.
    Sie lässt sich mit den Wogen vergleichen, die zur Zeit Noahs über die Menschheit hereinbrachen.

    Alle Sicherheiten brechen weg.
    Es ist, als ob das Leben zu Bruchstücken zerfällt.
    Bindungen brechen weg – in Familien, Nachbarschaften, Gesellschaften – und in der Kirche.
    Ist auch sein Zorn Ausdruck seiner Liebe?

    IV. Leidenschaftlicher Sammler

    »In tiefer Liebe will ich dich wieder sammeln!«, sagt Gott.
    Offenbar spricht er nicht nur als leidenschaftlicher Liebhaber, sondern auch als hingebungsvoller Sammler.
    Er sammelt die Bruchstücke unseres Lebens auf.
    Behutsam nimmt er sie in die Hände und fügt sie zu einem Ganzen zusammen.
    Er sorgt dafür, dass das, was beklagt wird, nicht in tausend Stücke zersplittert und zerfällt.
    Unter seinen Händen wird es auch im Bruch zusammengehalten.
    Auch das, was zwischen Menschen in die Brüche geht oder gegangen ist, nimmt er in seine Hände. Verletzungen können heilen.
    Vorsichtige Schritte aufeinander zu können gewagt werden.
    Getrenntes kommt neu in Verbindung.

    Das hebräische Wort »sammeln« steckt auch in »Kibbuz«.
    Das ist jene Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, zu der sich in Israel seit Anfang des vorigen Jahrhunderts Menschen zusammengeschlossen haben.
    Aus aller Herren Länder kamen sie zusammen und nahmen ihr Leben miteinander in die Hand.
    Viele sind in den 30er-Jahren gekommen, geflüchtet vor der Naziherrschaft.
    Da galt es Seelen und Menschen zusammenzubringen und miteinander Neues aufzubauen.

    Die Worte Jesajas richten sich ursprünglich an eine Gemeinschaft.
    Vor Augen stehen Menschen, die in der Fremde sitzen – angesprochen in der Einzahl als »Zion«.
    Sie sind im Übergang.
    Sie wissen nicht, was alles wird.

    »Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
    aber meine Gnade soll nicht von dir weichen
    und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
    spricht der Herr, voll tiefer Liebe.«

    Was für eine Kraft liegt in diesem Wort!
    In ganz verschiedenen Lebenssituationen leuchtet es hinein.
    Es beschönigt das Leben nicht.
    Doch gleichzeitig ist da ein Anker, der hält.
    Ewig hält er.
    Demgegenüber erscheint es im Rückblick wie ein winziger Augenblick, in dem von Gott nichts zu sehen war.

    Doch kann nicht in einem Augenblick der ganze Schrecken liegen?

    V. Im Zorn verlassen?

    »Mein Gott, mein Gott, hast du mich verlassen?«
    So schreit’s aus Krankenhäusern, Schützengräben und Folterkammern.
    So ein Schrecken breitet sich aus an manchem Esstisch, an dem einer das Tischtuch zerschnitten hat: »Das war’s dann wohl mit uns!«
    Ein kleiner Moment nur, die Miene kurz verfinstert – doch in ihm steckt das ganze Grauen.
    Die Tür fällt ins Schloss.

    Muss ich mir Gott so vorstellen, wenn es heißt:
    »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen!
    Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.«

    Gehört zum leidenschaftlichen Liebhaber Gott auch sein Zorn?

    Geht er so weit, dass er uns verlässt?

    Es gibt keine schwerere Stunde in der Welt als die Stunde, in der Gott uns verlässt.
    So sagen es Menschen jüdischen Glaubens.
    Sie erleben das als »Gottesfinsterns« und schreien ihren Schrecken hinaus:
    »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!«

    VI. Das Grauen ins Gebet nehmen

    Wer so schreit, dem scheint die Verbindung zu Gott verloren gegangen zu sein.
    Doch statt zu sagen: »Das war’s dann wohl!«, schreit er zu einem Gott, an den er gerade nicht mehr glauben kann.
    Er schreit Grauen und Schmerz heraus – hinein ins Universum.
    Ist da einer, der hört?

    Wer so schreit, ringt um Verbindung.
    Dabei befindet er sich in Gesellschaft mit den Beterinnen und Betern von Psalm 22.
    »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    Auch Jesus hat am Kreuz so geschrien, erzählen die Evangelien.
    Ein Hoffnungsschimmer bahnt sich von daher seinen Weg zu uns.
    Der Ostermorgen kündigt sich an.
    Und somit auch Gottes: »Mit ewiger Gnade liebe ich dich!«

    Freut euch, ruft uns dieser Sonntag zu.
    Wir sind zwar noch mitten in der Passionszeit.
    Doch Ostern schimmert schon durch diese Worte durch.
    Das Kapitel, in dem unser Predigttext steht, beginnt mit:
    »Juble! Mach den Raum deines Zeltes weit!«

    Auch wenn meine Seele nicht immer in diesen Jubel einstimmen kann.
    Trotzdem gilt:
    »Meine Gnade soll nicht von dir weichen!«

    Es sind gerade die angesprochen, die nichts mehr von Gott sehen können.
    Die Verzagten und Verbitterten.
    Gerade sie brauchen diese Aufmunterung.
    Und so hören sie: »Juble! Gottes Friedensbund gilt dir!«

    Jesaja lädt uns ein:
    Nimm das Böse ins Gebet.
    So bringst du das, was deine Lebensfreude zunichtemacht, mit Gott in Verbindung.
    In dem Schrei: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, verbindet sich mein Leiden mit Jesus.
    Ich stehe nicht mehr allein da.
    Einer ist mit mir im Bunde.
    Voll tiefer Liebe hat er gelebt und ist er gestorben.
    Einen kleinen Augenblick hat sich die Sonne verfinstert.
    Dann brach der Ostermorgen an.
    Gott hat Frieden geschlossen mit dieser Welt.
    Ewig ist seine Liebe.
    Im gemeinsamen Schreien und Schweigen und Hören ist der »Bund«, das Eingebundensein zu spüren.
    Auch wenn eben noch das Gefühl vorherrschte, verloren zu gehen.

    Eindrücklich steht mir vor Augen, was von der Todesstunde der Malers Rembrandt erzählt wird.
    Er wollte unbedingt die Erzählung aus der Bibel vorgelesen haben, in der Jakob mit dem Engel kämpft.
    »Nur das und nichts anderes!«, sagt er.
    Als die Stelle gefunden und vorgelesen wurde, wiederholte sie der Kranke.
    »Und Jakob blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach …, aber er gab nicht nach und kämpfte weiter – oh ja, kämpfte weiter – denn das ist der Wille des Herrn, dass wir mit ihm bis zum Anbruch der Morgenröte kämpfen!«

    VII. Ewigkeit im Moment

    In einem Augenblick kann die ganze Ewigkeit liegen.
    Und der ganze Schrecken.
    Doch es gibt keinen Augenblick, über dem nicht Gottes Friedensbund leuchtet, wie der Regenbogen aufleuchtet, während die Tropfen noch fallen.

    »Juble! Mache Herz und Haus weit!«, ruft Jesaja uns zu.
    »Schenke dem Friedensbund Gottes deine Energie und lebe dem entgegen, was du ersehnst!«

    Und wenn ich Gott so gar nicht sehen kann?
    Dann mach’s wie jene Ehefrau, deren Mann auf Reisen ist, ermutigt eine jüdische Stimme.
    Die Frau steht jeden Morgen vor dem Spiegel, schminkt sich und macht sich schön.
    Ihre Nachbarinnen wundern sich über diese unnötige Arbeit, wo der Ehemann doch weg ist.
    Sie aber meint: »Mein Mann ist ein Seemann. Wenn der Wind günstig ist, kann es sein, dass er sofort kommt und mir vor Augen steht.«

    Gott kann sofort wieder da sein.
    Im nächsten Moment.
    Im Rückblick wird es mir wie ein kleiner Augenblick vorkommen, in dem er nicht zu finden war.
    Dem gegenüber wiegt der Augenblick ewig, in dem die Liebe leuchtet.
    Amen.

  • Predigt zu Matthäus 17, 1-9

    Predigt zu Matthäus 17, 1-9

    gehalten am 29.01.2023 in der Neckartenzlinger Martinskirche

    Ich habe es oben auf dem Gipfel eines Berges erlebt.
    Die Welt erscheint in einem anderen Licht:
    Gipfelerfahrungen.

    Alles sieht ganz anders aus, irgendwie deutlicher.
    Klarer als sonst und als anderswo.

    Die Welt hüllt sich in Schweigen, 
    keine gewohnten, vertrauten Geräusche – und wenn, dann nur ganz aus der Ferne.
    Vielleicht  Kuhglocken, das Rauschen eines Wasserfalls, das Brummen einer Motorsäge.
    Die Welt erscheint entfremdet. Verändert. Verklärt.

    Gipfelerfahrungen verändern. 

    Nicht unbedingt gleich die ganze Welt, 
    nicht unbedingt die Realität des gesamten Alltags, 
    jedenfalls nicht unbedingt direkt und sofort. 

    Wer schon einmal einen hohen Berg bestiegen hat, der weiß, wie anstrengend das ist.
    Aber es ist ein tolles Gefühl, wenn es geschafft ist. 

    Alles ist so weit weg, was mich sonst verfolgt, bedrängt oder ablenkt. 
    Dazu kommt die Klarheit der Farben und Formen,
    Blumen und Felsen,
    die Intensität des Lichtes.

     Zusätzlich kann ein gemeinsamer Anstieg verbinden,
    kann die Gipfelerfahrung noch intensiver machen. 

    Gipfelerfahrungen können auch erschreckend sein.

    Aufrührend.
    Wenn alles Bisherige in Frage gestellt wird.
    Wenn Zweifel an der Richtigkeit meiner Pläne Zweifel aufkommen. 
    Zurückliegendes taucht aus einem anderen Blickwinkel wieder auf. 

    Gipfelerfahrungen können auch ausgesprochen ernüchternd sein. 

    Schließlich muss ich irgendwann wieder vom Berg runter! 
    Die Empfindungen und Erkenntnisse verblassen mir nur zu schnell,
    ich kann sie oft genug nicht festhalten. 

    Hören wir auf unseren Predigttext aus dem Matthäusevangelium 17, 1-9 .

    Vorgeschichte

    Nach 6 Tagen nahm Jesus Petrus, Jakobus und Johannes mit auf einen Berg.

    Was war den da vor 6 Tagen geschehen?
    War es der Höhepunkt oder der Tiefpunkt?

    Jesus frage seine Jünger: Was sagen die Menschen, wer ich bin.
    Da antworteten seine Jünger. „Einige sagen, du wärst Johannes der Täufer oder Elias oder Jeremia oder ein anderer Prophet.“
    Und als Jesus seine Jünger fragte: „Und was glaubt ihr?“
    „Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn.“, antwortete Petrus.
    Jesus erwiederte: „Du bist Petrus, auf diesem Fels möchte ich meine Gemeinde bauen.“

    Wie mag sich da der Petrus gefühlt haben?
    Er wurde durch Jesu Wort geradezu geadelt. Ein Hochgefühl machte sich in Petrus sicherlich breit. Die Jünger fühlen sich in der Gemeinschaft geborgen und sonnen sich im Ruhm ihrer Bewegung.
    Das war sicherlich ein, wenn nicht der Höhepunkt im Leben der Jüngerinnen und Jünger.

    Nur um kurz darauf ins Bodenlose abzustürzen, denn Jesus kündigte sein Leiden an.
    Dass er sich den Machthabern ausliefert. Dass er gefoltert wird. Dass er am Kreuz sterben wird.
    Dass er auferstehen wird.
    Petrus in seiner etwas hemdsärmeligen Art nahm Jesus beiseite und versuchte es Ihm auszureden.
    Doch Jesus reagierte nicht wie erwartet: „Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“
    Das war sicherlich ein Tiefpunkt.

    Aufstieg

    Eine Woche müssen die Jünger nun in diesem Wechselbad der Gefühle gelebt haben, da nimmt Jesus seine engsten Mitarbeiter mit auf einen Berg und hier scheint gerade das Gegenteil zu geschehen.

    Berge sind in der Bibel immer Plätze, an denen es zu Begegnungen mit Gott gekommen ist.
    Ich denke da vor allem an den Berg Sinai. Dort begegnet Mose Gott und bekommt den Bund für sein Volk und die 10 Gebote geschenkt.

    Auf diesem Berg wurde Jesus verklärt. Was geschieht da?
    Was bedeutet das?
    Hier wird es beschrieben: sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. 
    Er wirkt wie angestrahlt von großen Scheinwerfern.

    Gottes Herrlichkeit

    In der Bibel ist die Herrlichkeit Gottes ein Lichtglanz. Für die Menschen unerträglich. Deshalb musst Mose, als er vom Berg Sinai herunterkam, auch sein Gesicht verhüllen.
    Es ist ein Zeichen für Gottes Wirklichkeit im Kontrast zu unserer Welt mit ihrer vergänglichen Sichtbarkeit.

    Was hier Jesus und seine engsten Jünger mit ihm erleben, passiert in dem Augenblick als die Entscheidung für den Leidensweg und das Kreuz gefallen ist. In dem Augenblick strahlt das Licht auf. Plötzlich wird der Vorhang weggezogen und Gottes Wirklichkeit hüllt Jesus ein und mit Ihm seine engsten Schüler.

    Und sie sehen Mose und Elia und hören sie miteinander sprechen.
    Beide, Mose und Elia, stehen als Säulen für Gottes Geschichte, für die Propheten.
    Gott redet durch sie direkt mit seinem Volk.
    Nie zuvor und danach, außer Jesus, hatte keiner so direkten Kontakt mit Gott gehabt als Mose.
    Und Elia ist eine Säule der alten Propheten.
    Und die Gemeinschaft dieser drei sagt, dass jetzt die Geschichte Gottes zur Vollendung kommt.
    Sie reden miteinander. Wir wüssten gerne über was sie geredet haben. Es wird nicht berichtet.
    Es bedeutet, hier sind Verheißung und Erfüllung im Gespräch. Hier spitzt sich die Geschichte Gottes zu.

    Und was geschieht bei den Jüngern in dem Moment?
    Festhalten wollen sie ihn!

    Einer prescht voran.
    Petrus, der ist bekannt für sein vollmundiges Bekenntnis und seine direkte Art.
    Ihm ist klar, dass er gerade etwas äußerst Ungewöhnliches miterlebt hat.
    Das möchte er bewahren. 
    Ganz pragmatisch packt er die Sache an. 

    Ich finde es sehr verständlich, wenn  er sagt:
    “Ach, wenn es doch immer so sein könnte!
    Hier bleiben wir, hier ist es gut!“ 

    „Verweile doch, o Augenblick, du bist so schön.“ 

    Aber Licht festhalten?

    Das klingt doch schon sehr nach den berühmten Schildbürgerstreichen.
    Auch dort war es schon nicht gelungen, das Licht in Säcken in ihr fensterloses Rathaus zu tragen. 

    Auf dem hohen Berg scheinen die drei und Jesus dem Himmel etwas näher. 

    Die Macht des Himmels geht auf die Erde über.
    Die Kraft Gottes erreicht diese  Welt;
    fast immer recht verborgen, doch manchmal urplötzlich sichtbar und spürbar.
    So wie dann an Pfingsten.

    Die Szene der Verklärung Jesu kann einer Ikone verglichen werden

    Da gibt es eine sichtbare obere Schicht mit bunte Farben und ganz zuletzt aufgetragenen Lacken. 

    Und es gibt eine untere Schicht – den Goldgrund – der bei jeder Ikone zuerst auf das Holz kommt und ihr den Glanz des Echten, Wahren und Wertvollen geben soll. 

    Durch die aufgemalten Bilder und Motive leuchtet immer wieder einmal der Goldgrund hindurch. 

    Und so leuchtet auch in unserer Welt, in unserem Leben, hin und wieder Gottes Gegenwart besonders glänzend durch. 

    Es ist ein schöner Gedanke, dass wir unser Leben auf einen Goldgrund malen können, wie auf einer Ikone! 

    Petrus bekommt leuchtende Augen:

    Hier lasst uns Hütten bauen! 

    Petrus sucht den Weg des Eindeutigen:

    Eine Hütte für Christus, um festzuhalten, dass er Herr ist über mein Leben.
    Verlässlicher Halt in meiner schwankenden Lebensgeschichte. 

    Hütten für Mose und Elia.
    Ein Heiligtum,
    etwas zum Festhalten und Anfassen.
    Einen Ort schaffen, wo Gott verfügbar ist. 

    Auf dem „Berg der Verklärung“ stehen in Israel nach langer, wechselvoller Geschichte zwei Kirchen – eine griech. orth. und eine röm. kath..
    Beide Konfessionen konnten sich im Streit um das Gelände und um die Darstellung der Verklärung nicht einigen. 

    Für Petrus sind Mose und Elia die Verbindung zum Früher.
    Für ihn sind sie Garanten für Gottes Zusage an uns Menschen. 

    Petrus zielt auf End-Gültiges

    Er will Halt bieten, Autorität, religiöse Heimat.
    Damit würde er auch heute bei vielen offene Türen einrennen und auf begeisterte Zustimmung stoßen. 
    Die Sehnsucht nach Sicherheit, nach unverbrüchlicher Glaubensgewissheit ist in unserer Zeit sehr groß.
    Und gleichzeitig ist die Gefahr groß im Vordergründigen stecken zu bleiben, 

    Wie Hütten auf dem Berg bauen und vielleicht gar nicht mehr zu merken, dass sich der Glanz schon längst verflüchtigt hat… 
    Wie Festhalten und Festschreiben um jeden Preis: So ist es und nicht anders.
    Das macht die Angst nicht kleiner.
    Es führt eher dazu, dass jede Anfrage als Angriff erlebt wird und ungeheuer bedrohlich wirkt.
    Das führt dazu, dass sich Menschen oder ganze Gemeinden abschotten. 

    Das ist keine tragfähige Kraft für das Leben. 

    So verlässt Petrus im Sturm der Mut. 
    Er kann das Scheitern nicht aushalten in Gethsemane. 
    und der Angst nicht standhalten, als der Hahn kräht. 

    Gipfelerfahrungen, wie diese,
    sind nicht herstellbar, zu erzwingen oder einzufordern.

    Sie sind Geschenk und Herausforderung zugleich. 

    Wenn sich Gott zeigt und für einen Moment der Goldgrund der Ikone durchscheint, erstrahlt Gottes Zusage in deinem Leben. 

    Die Stimme

    Die Stimme gehört dazu, im Predigttext mysteriös aus den Wolken.

    In der Bibel ist die Wolke immer ein Signal für den Grenzübergang zwischen Gottes unsichtbarer Welt und der unseren sichtbaren Wirklichkeit.
    Die Stimme wie auch während der Taufe Jesu und auch im Psalm 2.

    „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“

    Sie erschrecken.

    Weshalb erschrecken sie da?

    Wirklichkeit Gottes.
    Wenn Gott in seiner Wirklichkeit in unser Leben hereinkommt
    In meinen eigenen Überlegungen und Meditationen.
    Manchmal auch als zufällig hingeworfener Satz eines anderen.
    Auch Wegweisungen gehört dazu.
    „Ihn sollt ihr hören!“ hatte übrigens auch schon Maria bei der Hochzeit zu Kana gesagt. 

    Wenn Gottes Wirklichkeit in unser Leben hereinbricht, dann sprengt es unsere Vorstellung.
    Das läuft nicht immer im Wohlfühlmodus ab.
    Es bestätigt uns nicht immer und wir wollen sagen: „Ja, so soll es bleiben!“.
    Deshalb kann Angst durchaus die angemessene Reaktion sein.
    Wenn wir spüren, wir haben es nicht mehr mit unserer eigenen Meinung zu tun, sondern Gott sagt seine Meinung.

    „Dies, Jesus, ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören!“

    Deshalb gibt es bis heute keine andere Botschaft.
    Ich mache es heute bei ihnen, bitte sagen sie es weiter:

    Jesus ist die Schlüsselfigur.

    Lesen sie die Bibel.
    Lesen sie, was Jesus gesagt hat.
    Lesen sie was er getan hat.
    Sehen sie ihn an, um ihn kennen zu lernen. Um ihm zu vertrauen.
    Das ist Gottes Stimme in unserer Welt. Das ist, was wir brauchen.

    Zum Glauben gehört …

    Zum Glauben gehört das Hin- und  Her-gerissen sein
    zwischen Angst und Schrecken und dem „Fürchtet euch nicht“
    zwischen Karfreitag und des österlichen Glanzes der Verklärung und Erleuchtung. 

    Und die Ernüchterung nach der Gipfelerfahrung folgt auf den Fuß:
    die Erscheinung ist verschwunden, nur noch Jesus ist zu sehen.
    Da fragen sich die drei : „Haben wir das gerade nur geträumt?“

    Jedenfalls müssen sie wieder herunter vom Berg. 

    Das stelle ich mir ziemlich schwierig vor. 
    Sie dürfen nichts von dem erzählen, was sie erlebt haben! 

    Nebenbei: vielleicht lässt es sich auch kaum erzählen?
    Wenn schon die Erfahrungen einer ganz normalen Bergbesteigung so schwer zu vermitteln sind? 

    Dennoch sind Petrus, Jacobus und Johannes sicherlich  nicht so zurückgekommen, wie sie aufgebrochen sind. 

    Angerührt sind sie. 
    Wieder aufgerichtet, nachdem der Schrecken sie zunächst umgeworfen hatte. 
    So werden sie Jesus als  Auferstandenen wiedersehen. 

    Auferstehung mitten im Leben.
    Aber handfester, alltäglicher.
    Jesus fasst sie an, um sie aus dem Schrecken zurückzuholen.
    Vielleicht legt er ihnen beruhigend die Hand auf die Schulter.
    Er ergreift ihre Hand, um sie vom Boden wieder hochzuziehen. 
    Ein Widerspruch gegen die alltägliche Gewissheit:
    „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen…“ 

    Am Übergang von der Epiphaniaszeit zur Passionszeit gewinnt diese Geschichte eine ganz eigene Bedeutung: 
    Hier berührt der herrlich leuchtenden „Morgenstern“ den elend leidenden Gekreuzigten. 

    Beides zusammen macht das Ganze aus.
    In Christus wie in jedem einzelnen Menschen.

    Gipfel – und Tiefenerfahrungen gehören zusammen. 
    Sternstunden und der krähende Hahn. 

    Und manchmal verklärt sich etwas – wie von selbst. 
    Der Goldgrund scheint durch.

    Das Leben wird transparent für Gottes Gegenwart.  

    Amen