Schlagwort: Beten

  • Thomas erinnert sich

    Thomas erinnert sich

    Eine Predigt zu Johannes 16,23b – 28.33 (Rogate) in der evangelischen Kirche Pfrondorf

    Der Predigttext ist aus dem Evangelium des Johannes. Kapitel 16
    Jesus spricht zu seinen Jüngern bevor er gefangen genommen wird.

    Johannes 16,23b-33

    Jahre später erzählt Thomas, einer der Jünger, seinen Enkeln von diesem Ereignis:

    Kommt her, Kinder. Kommt näher.
    Die Sonne geht gleich unter, aber es ist noch genug Licht.
    Wenn ihr still seid, erzähl ich euch eine Geschichte.
    Nicht irgendeine.
    Eine wahre.
    Eine von denen, die ich nie vergessen habe.

    Ihr nennt mich den Zweifler, ich weiß.
    Thomas, der Zweifler.
    Ich habe lange gebraucht, um zu glauben.
    Aber an jenem Abend… an jenem Abend habe ich etwas erlebt, das hat sich wie ein Brandmal in mein Herz gelegt.

    Es war die Nacht vor der Katastrophe.
    Wir waren mit Jesus zusammen.
    Der Tisch war gedeckt, Brot und Wein standen bereit.
    Aber es war anders als sonst.
    Eine Schwere lag über allem.
    Es war noch nichts Schlimmes geschehen.
    Aber wir spürten: Es kommt etwas.
    Etwas, das alles verändert.
    Etwas, das alles auf den Kopf stellt.

    Jesus sprach viel an diesem Abend.
    So viel, wie ich ihn selten habe sprechen hören.
    Von seinem Gehen sprach er, von der Trennung, vom Vater.
    Und immer wieder vom Gebet.

    Er sah uns an. Mit einem Blick, den ich nicht vergesse.
    Und dann sagte er:

    „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
    Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.“

    Ich weiß noch genau, wie ich innerlich stockte.
    In seinem Namen?
    Was meint er?
    Dass wir beten sollen wie er?
    Oder dass wir uns auf ihn berufen sollen?

    Was, wenn ich das nicht kann?
    Was, wenn ich nur stottern kann?
    Was, wenn ich nichts fühle?

    Aber er sprach weiter:

    „Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen.
    Bittet, so werdet ihr bekommen und eure Freude wird vollkommen sei.“

    Und da war er wieder, dieser Ton.
    Diese Zuversicht. Diese Wärme.
    Er klang nicht wie ein Lehrer, der seine Schüler auf den letzten Test vorbereitet.
    Er klang wie ein Freund, der seinen Freunden das letzte Stück Hoffnung schenken will, bevor es dunkel wird.

    Ich schaute zu ihm hin, wie er dastand. Ruhig, gefasst, voller Klarheit.
    Und ich dachte:
    Er weiß, was kommt. Und trotzdem spricht er vom Gebet. Von Freude. Vom Vater, der uns liebt.

    Das hat mich tief getroffen. Denn ich bin nicht der große Beter.
    Ich war Handwerker. Ein Mann der Taten.
    Glauben – ja. Aber Beten?
    Ich fühlte mich oft hilflos. Leer.
    Und wenn ich betete, dann war es eher tastend als gewiss.

    Aber Jesus sagte nicht: „Wenn ihr viel glaubt…“
    Er sagte: „Wenn ihr bittet.“
    Das ist etwas anderes.
    Bitten heißt: Ich traue dir zu, dass du hörst.
    Bitten heißt: Ich zeige dir, was mir fehlt. Auch wenn ich es kaum in Worte fassen kann.

    Und dann – ach, Kinder – dann sagte er einen Satz, den ich heute noch manchmal im Schlaf spreche:

    „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Nicht: „Der Vater erträgt euch.“
    Nicht: „Er duldet euch, wenn ihr brav seid.“
    Ein einfaches – er hat euch lieb.
    Das hat mich durch viele Nächte getragen.
    Als ich später floh. Als ich mich versteckte.
    Als wir dachten, alles sei aus.
    Selbst da – irgendwo im Dunkel – hörte ich seine Stimme:
    „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Später fragte ich mich:
    Warum hat er das gerade in jener Stunde gesagt?
    Warum gerade dann, als alles zu Ende zu gehen schien?

    Ich glaube, weil er wusste, wie schnell wir vergessen.
    Wie schnell wir in der Angst die Nähe Gottes nicht mehr spüren.
    Wie schnell wir meinen, alles allein tragen zu müssen.

    Er sagte:

    „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“

    Das klang damals für uns wie ein Rätsel.
    Heute sehe ich klarer: Es war sein Weg.
    Vom Vater in die Welt – und wieder zurück.
    Aber nicht leer. Nicht umsonst. Sondern mit allem, was er mitgenommen hat:
    Unsere Fragen. Unsere Schuld. Unsere Angst. Unser Staunen. Unsere Liebe.

    Und als er uns das sagte, als er davon sprach, dass er zum Vater zurückgeht – da kam für einen Moment Klarheit über uns.
    Wir dachten: Jetzt haben wir’s verstanden!
    Wir sagten:

    „Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in Gleichnissen.“

    Aber er sah uns nur an. Still. Fast traurig.
    Und dann sagte er:

    „Jetzt glaubt ihr? Siehe, es kommt die Stunde – und ist schon da –, dass ihr euch zerstreuen werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst.“

    Wie recht er hatte.
    Wir haben ihn allein gelassen.
    Ich auch.
    Ich bin weggerannt.
    Ich habe nicht geglaubt, nicht gehofft, nicht gebetet.
    Ich habe gezweifelt, geweint, geschwiegen.
    Ich war verzweifelt, mit meinem Versagen allein,

    Und trotzdem hat er mich wieder angesehen.
    Trotzdem hat er mir wieder die Hand gereicht.
    Trotzdem hat er mich nicht aufgegeben.

    Deshalb, Kinder, hört gut zu:
    Wenn ihr glaubt, ihr hättet Gott enttäuscht – denkt an mich.
    Wenn ihr meint, euer Glaube reicht nicht – denkt an mich.
    Wenn euch beim Beten die Worte fehlen – denkt an ihn.
    Er sagte: „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Und dann – zum Schluss – kam jener Satz.
    Ich habe ihn mir ins Herz geschrieben:

    „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

    Nicht: Ihr müsst euch überwinden.
    Nicht: Glaubt stärker, dann wird’s leichter.
    Sondern: „Ich habe die Welt überwunden.“

    Das hat mich verändert.
    Denn ich dachte immer:
    Ich muss kämpfen.
    Ich muss stark glauben.
    Ich muss mich beweisen.
    Aber er sagt: Ich habe es schon getan – für dich.
    Damit wir mitten in der Angst getröstet sind.
    Damit wir in der Angst und mit der Angst weiter leben können.

    Ja, Angst bleibt.
    Ich habe sie erlebt – als sie ihn festnahmen.
    Als er starb.
    Als wir zurückblieben.
    Als wir wieder anfingen, zu erzählen.
    Als der Widerstand kam. Als Freunde starben.
    Angst ist Teil unseres Lebens.

    Aber sie ist nicht mehr Herrscherin.
    Denn er hat die Welt überwunden.
    Nicht mit Gewalt. Nicht mit Macht.
    Sondern mit Liebe. Mit Gebet. Mit Hingabe.

    Deshalb, Kinder:
    Wenn ihr betet – tut es nicht, um Gott zu überzeugen.
    Betet, weil ihr wisst: Ihr seid schon geliebt.
    Betet nicht, weil ihr stark seid.
    Betet, weil er stark war – und ist.
    Betet in seinem Namen. In seinem Geist. In seinem Frieden.

    Er hat gesagt: „Eure Freude soll vollkommen sein.“
    Da muss nicht alles perfekt sein.
    Da hat auch Schmerz und Leid seinen Platz.
    Aber wir können von der Gewissheit erfüllt sein:
    Ich bin nicht allein. Ich darf zweifeln, Ich darf rufen.
    Ich werde gehört.

    Und das, Kinder, ist mehr, als die Welt uns je geben kann.

    Ich habe es erlebt.
    Ich – Thomas.
    Der Fragende. Der Späte. Der Suchende. Der Ungläubige.

    Und ich sage euch: Es ist wahr.

    „Der Vater selbst hat euch lieb.“
    „Bittet – und eure Freude wird vollkommen sein.“
    „Ich habe die Welt überwunden.“

    Amen.

  • Es brennt!

    Es brennt!

    Predigt zu Hesekiel 22,23–31 am 22.11.2023 in der Andreaskirche in Großbettlingen

    I. Es brennt

    Es hat gebrannt in diesem Jahr.
    Auf Rhodos und in den Wäldern der USA.
    Es brannte und so wurde mehr Kohlendioxid ausgestoßen, als erwartet.
    Somit brennt es weiter im Bereich des Klimaschutzes.

    Es brennt.
    In den Kindergärten und Schulen, in den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen fehlen Fachkräfte.
    Woanders auch.

    Es brennt.
    In der Ukraine. Immer noch wehrt sich ein Volk gegen einen Aggressor.
    In Israel. Die Bilder der Toten und der Verschleppten sind immer noch präsent.
    In Gaza. Auch hier Opfer.

    Es brennt.
    Sexueller Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen und aufgrund von Abhängigkeits- und Machtverhältnissen.
    Überlegungen, wie man an der Erbschaftssteuer vorbeikommt, um den eigenen Lieben möglichst viel zu hinterlassen.

    Es brennt.
    Und schon längst nicht mehr nur unter den Nägeln.

    Es brennt in unserem Land.
    Gerechtigkeit erhöht ein Volk und die Sünde ist der Leute Verderben, so der Tagesspruch.
    Sünde verdirbt.
    Der Prophet Hesekiel weiß davon ein Lied zu singen.
    Wobei es einem bei dem Lied die Sprache verschlägt.

    Für Hesekiel steht außer Frage.
    Wo es so brennt, dass Land und Leute verderben, da steckt Gottes Zorn dahinter
    Und der brennt.
    Lichterloh verbrennt die Hitze alles.
    Was bleibt, ist verbrannte Erde.

    Hören wir auf unseren Predigttext aus Kapitel 22 des Buches Hesekiel.

    II. Gott steht für sich ein

    Verbrannte Erde.
    Ja, Gott hat eine Eselsgeduld.
    Er ist langmütig bis zum Zorn.
    Doch auch Geduld und Langmut haben ein Ende.
    Und gerade darin liegt Gottes Verlässlichkeit.
    Er sagt, was er will.
    Und dafür setzt er sich ein.
    Mitarbeiter verweigern die Mitarbeit, torpedieren die Absichten und Anliegen.
    Und irgendwann reicht es.
    Schluss.
    Aus.
    Verhältnis gekündigt.
    Lebensgrundlage entzogen.

    Es gehört zu den Abgründen des christlichen Glaubens, dass wir den Karfreitag haben.
    Und aushalten müssen!
    Wir werden konfrontiert: Gott wirft uns den Bettel hin.
    Da bringen Menschen seinen Sohn zu Tode, vergießen Blut – es reicht.

    In dem Fall brennt es nicht, sondern das Land wird verdunkelt.
    Und hängt über dem Abgrund,
    zwei Nächte und einen Tag.

    Es gehört zu einer christlichen Gemeinde, dass sie sich dem Bußtag stellt. Mit und stellvertretend für Menschen dieses Landes, dieses Ortes bekennt sie:
    Wir gehen unsere Wege.
    Und es fehlt an Gerechtigkeit und Solidarität.
    Wir hören, wie es anderen von uns gegangen ist.
    Wie gerade eben in den Worten Hesekiels.
    Und wir ahnen, was uns und unserem Land blüht, wenn wir weitermachen wie bisher.
    Gott steht für sich ein.
    Mit Willkür hat das nichts zu tun.
    Mit Konsequenz ganz viel.

    III. Von kleinen und großen Höllenfeuern

    Gott steht für sich ein.
    Weil Menschen, genauer, wir Menschen, das Feuer gelegt haben.
    Höllisch geht es da zu.
    Leben wird genommen, die Luft zum Atmen fehlt, die Kehle schnürt sich zu, Angst engt Leben ein.
    Blut wird vergossen, es fließt aus Rücksichtslosigkeit und weil einer den anderen übersieht.
    Aus Wunden quillt Blut und schreit von der Erde zum Himmel.
    Höllisch geht es zu.
    Und ein junges Mädchen erzählt stockend von Gewalt mit Worten und mit Schlägen und mit Missbrauch zu Hause in den vier Wänden, die so gar nicht schützen.
    Drohungen und Gewalt gegen öffentliche Personen vertreiben Engagement für das Gemeinwohl.
    Wölfe reißen, Löwen brüllen.
    Da schreiten Leute laut und setzen sich durch.
    Andere zeigen Zähne und kämpfen für das Eigenwohl.

    Menschen haben das Feuer gelegt.
    Und der Widerspruch verstummt.
    Auch in den Kirchen.
    Werte zu liefern für die Gesellschaft, darin liegt bei vielen die Absicht.
    Damit verbunden mit der Hoffnung auf diese Weise systemrelevant zu werden, also wichtig und unentbehrlich für das Land.

    Bitte?
    Systemrelevant?

    Es wird doch in der Kirche vor allem um und für Gottes „System“ gehen.
    Da geht es um einen Einsatz, den die Bibel einklagt.
    Einsatz für das Leben.
    Für Gerechtigkeit und Solidarität.
    Für die Armen und Übersehenen.
    Für die, denen es höllisch geht.

    IV. Gott steht für sich ein – widerwillig

    Gott steht für sich ein.
    Wir Menschen haben das Feuer gelegt.
    Wir haben unsere Lebensgrundlage missbraucht.
    Wir haben Gottes Willen für nett erklärt.
    Wir haben Gott zum lieben Mann gemacht und gehen unsere Wege.

    Darum steht Gott für sich ein.
    Doch mit welchem Wider-willen.
    Mit welcher Fassungslosigkeit er das tut, wird bei Hesekiel klar:

    Gott selbst macht sich auf die Suche, ob es einen Menschen gibt, der die Brandstifter schützt.
    Ob es einen Menschen gibt, der sich in die Bresche stellt, um die Brandstifter vor Gottes Zorn, vor dem völligen Brand zu schützen.
    Gott selbst mach sich auf die Suche.

    Doch die Suche endet erfolglos.
    „Ich fand nicht“, hält Gott fest.
    Nicht einen!
    Und so brannte es.
    Lichterloh.
    Verbrannte Erde.
    Ein zerstörter Tempel.
    Ein Land am Boden und seine Bewohner ohne Lebensgrundlage.

    V. Rauchmelder: Ein Einsiedler betet

    Nicht eine fand Gott.
    Nicht einen?

    Ein Einsiedler, ein orthodoxer Mönch sitzt in seiner Einsiedelei, einer Höhle in der Wüste Juda.
    Zufällig trifft eine Gruppe junger Menschen auf ihn.
    Sie kommen ins Gespräch und dem Mönch wird die Frage gestellt: „Warum machst du das?
    Warum lebst du so einsam und kärglich?“
    Der Mönch antwortet: „Was wollt ihr? Ich halte mit meinem Gebet die Welt am Laufen. Ich bitte Gott ununterbrochen für diese Welt. Und solange ich bete, behält Gott diese Welt im Blick und lässt sie nicht fallen.“

    Lächelnd,
    belächelnd,
    zogen die jungen Menschen ihrer Wege.
    Lang ist es her.
    Und siehe – wir leben.

    VI. Lücken-Büßer

    Einer der betet.
    Doch einer.
    Einer springt in die Bresche und hält Gott auf.

    Wirklich?
    Einer. Eine.
    Jemand, der Jesu Fußstapfen folgt.
    Dieser folgt dem nach, den Gott in die Bresche, in die Lücke gestellt hat.
    Das Kreuz zeigt die Lücke.
    Und weitere Menschen stellt sich dazu.
    Sie stellen sich hinein und beten weiter:

    „Vater vergib ihnen“ Und: „Herr erbarme dich.“

    Menschen, Zeitgenossen stellen sich dazu und füllen die Lücke mit.
    Bessern sie aus – büßen sie aus.

    Lückenbüßer der ganz anderen Art sind solche Menschen.
    Sie sind überlebenswichtig.
    Sie geben sich dafür her, Gottes System zu erhalten.
    Sie sind systemrelevant.
    Solche Lückenbüßer sind wir hier heute auch.

    Wir nehmen Gott ernst.
    Wir nehmen seine Konsequenz ernst und bitten doch: Vergib.

    „Vergib uns und ihnen.
    Erhalte das Land und seine BewohnerInnen.
    Gib uns eine weitere Chance.
    Den nächsten Tag noch.
    Das nächste Jahr noch.
    Vielleicht bekommen wir das eine oder andere Feuer etwas eingedämmt.
    Füge nicht auch noch die Glut deines Zornes hinzu.
    Gib uns eine Chance.
    Vielleicht blüht da etwas auf.“

    VII. Gott steht für sich ein. Auch in anderer Hinsicht.

    Gott ist konsequent.
    Auch darin, dass er Gebete und Klagen hört und sie sich zu Herzen gehen lässt.
    Wir bekommen eine Chance.

    Wo wir wohl nächstes Jahr am Bußtag stehen?
    Wo es dann brennt?
    Und welches Feuer ein wenig eingedämmt wurde – in unserem Land?
    Oder im Kleinen?
    Vor Ort?
    Bei uns?

    Wir haben diese Chance.
    Gott sei Dank dafür.

    Amen!