Predigt zu Offenbarung 5, 6–14
I. Rückblick und Ausblick
Vor einem Jahr gab es keine Gottesdienste zu Ostern. Wir waren mitten in der ersten Welle der Corona-Pandemie. In meiner Gemeinde gab es zur Gottesdienstzeit Orgelmusik. Es hat geläutet, die Kirchentüren standen offen. Wer wollte und sich trauten, der konnte kommen und von draußen zuhören. Ein paar wenige saßen verstreut und mit weitem Abstand in den Kirchenbänken. Als die Orgel “Christ ist erstanden” gespielt hat, hatten ein paar Menschen Tränen in den Augen. Am Schluss hat der Pfarrer von seinem Platz aus hinter seiner Maske laut das Vaterunser gebetet.
Alles fühlte sich wie eine Verschwörung an.
“Dürfen wir das?”, haben wir uns gefragt.
“Was ist mit unserer Verantwortung?”
“Sollten wir lieber die Türen verschlossen lassen?”
Im Nachhinein haben wir uns oft gefragt:
Welche Maßnahmen waren richtig?
Was war falsch?
Was war Unsinn?
Hätten wir uns lauter wehren müssen, als niemand die Alten und Sterbenden besuchen durfte?
Oder war das richtig so, um niemanden zu gefährden?
»Wir werden uns viel zu verzeihen haben, wenn dies alles vorbei ist« hat Jens Spahn gesagt, unser Gesundheitsminister.
Jetzt, Ostern ein Jahr später?
Wer weiß, was richtig war und was falsch?
Ist die Gefahr schon überwunden?
Was können wir nun tun?
Kann das Leben anders werden nach dem, was wir gelernt haben?
Wie kann es werden?
Wie soll es werden?
Fragen über Fragen.
Die ganze Geschichte ein Buch mit sieben Siegeln.
Keiner kann es öffnen.
Keiner darin lesen.
Stattdessen lesen wir Zeitungen, Analysen, Kommentare.
Der eine schreibt dies, der andere das Gegenteil.
Was ist richtig, was ist falsch?
Was ist überhaupt wahr?
Schreibt nicht jeder nur das, was er für die Wahrheit hält?
Wie schön wäre das, wenn man zuverlässige Auskunft bekommen könnte. Und ein Urteil finden, das weiterhilft.
II. Ein Buch mit sieben Siegeln
Von einem Buch hat Johannes geträumt.
Johannes, ein prominenter Christ, als die Christen noch ganz wenige waren und verfolgt wurden.
Johannes wurde auf die Insel Patmos verbannt, um ihn und die Christen in seiner Heimatgemeinde einzuschüchtern.
Darum fragt sich Johannes:
Was haben wir falsch gemacht?
Wer ist Schuld, dass es so gekommen ist?
Haben wir uns alle geirrt mit unseren Hoffnungen?
Johannes hat schwere, wirre Träume.
Wer hätte die nicht in so einer Situation?
Johannes aber ist sicher:
Gott selbst will ihm mit diesen Träumen etwas sagen.
Deshalb hat er sie aufgeschrieben.
Für sich und für seine Mitchristen.
In einem seiner Träume kommt ein Buch vor.
Ein Buch, das Antworten enthält.
Offenbarung 5, 6 – 14 |
Hier ist der Predigttext verlinkt: Offenbarung 5, 6–14
Ein versiegeltes Buch. Das Buch mit den sieben Siegeln.
Alles, was passiert ist und was kommt, ist darin aufgeschrieben und Gott hält es in der Hand.
Was wohl darin steht?
Ich hoffe, dass dort alles darin steht, was Menschen einander Gutes getan haben.
Jede Freundlichkeit. Jedes gute Wort.
Wenn ich jemandem geholfen habe.
Wenn ich etwas Gutes erreicht habe.
Als ich etwas gegeben habe, damit andere besser leben können.
Als ich mich eingesetzt habe für die, die selbst keine Stimme haben und die deshalb zu kurz kommen.
Aber es wird sicher auch darin stehen, was zum Himmel schreit.
Meine Unfreundlichkeiten.
Als mir die Nerven durchgegangen sind.
Als ich lieber nichts gesagt habe obwohl es gut gewesen wäre ich hätte nicht geschwiegen.
Aber auch:
Die Kinder im Jemen, die unterernährt sind und hungern, weil die Großmächte ihre Kriege auf ihrem Rücken auskämpfen.
Die Frauen und Mädchen und kleinen Jungen, die sich nicht wehren können gegen die Übergriffe von Männern, die meinen, dass ihnen alles gehört.
Die Politiker, denen ihre Macht oder ihre Prinzipien wichtiger sind als die Menschen, für die sie Politik machen.
Firmen, denen der Profit über alles geht, die sogar nicht davor zurückschrecken mit Diktatoren und Warlords zusammenzuarbeiten.
Die Menschen, die Schaden genommen haben in der Zeit der Pandemie, weil niemand da war, der ihnen geholfen hat.
Ich stelle mir vor, dass das alles in diesem Buch steht.
Und wenn es geöffnet und vorgelesen wird – dann kommt die Wahrheit ans Licht.
Dann wird das Urteil gesprochen.
Es ist wichtig, dass ein Urteil gesprochen wird.
Keine Frage.
Erst wenn die Wahrheit offen liegt und ein Urteil gesprochen werden kann – erst dann können die Dinge abgeschlossen werden.
Dann kann aufgeräumt und es besser gemacht werden.
Dann können wir auf bessere Zeiten hoffen. Dann kann die Geschichte neu anfangen.
Johannes hat in schrecklichen Zeiten gelebt.
Die Christen wurden verfolgt, gefoltert, in der Arena den Löwen vorgeworfen.
Kein Wunder, dass er auf diesen Tag gewartet und von ihm geträumt hat.
Von dem Tag, an dem das Buch geöffnet und das Urteil gesprochen wird – der Tag, an dem alles neu anfängt und besser wird.
Aber wer kann das Buch öffnen?
Wer darin lesen?
III. Das Lamm und die Rätsel der Welt
Johannes träumt weiter.
Ein Lamm, schreibt er für uns auf.
Ein geschlachtetes Lamm.
Was für ein Lamm?
Wenn wir Abendmahl feiern, dann singen wir: »Christe, du Lamm Gottes, erbarm dich unser!«
Jesus Christus ist das Lamm.
Hingerichtet, wie ein Schlachtschaf, erst vor ein paar Tagen an Karfreitag haben wir uns daran erinnert.
Jesus Christus wird das Buch öffnen. Dann wird sich alles klären.
Ich glaube, dass wir uns dann vermutlich alle miteinander ein bisschen schämen müssen.
Weil sich zeigen wird:
Für Jesus Christus sind ganz andere Dinge wichtig, als wir gedacht haben. Sein Maßstab ist ein anderer.
Er verurteilt nicht die, die Fehler gemacht haben.
Er beschämt nicht die Versager.
Er erbarmt sich unser.
Er will, dass es uns gut geht.
Er will, dass wir uns aufrichten können.
Dass uns die Sorgen nicht niederdrücken.
Dass wir frei werden und rauskommen aus dem Gefängnis, in das uns die Umstände gesperrt haben.
Oder wir selbst, weil wir dachten, es geht nur so, wie es schon immer war und wie wir es immer schon gemacht haben.
Wenn uns Jesus Christus anschaut und sieht, was wir getan haben, dann wird er nicht sagen:
»Selber schuld. Hättest du auf mich gehört.«
Denn er hat ein Herz für die Menschen.
Was wir tun, was sie einander und uns selbst antun – das geht ihm zu Herzen.
An Jesus können wir das sehen:
Er trägt es und erträgt es, was Menschen einander antun. Was sie ihm angetan haben.
Er zahlt es nicht heim.
Er straft nicht.
Er handelt nicht: Wie du mir, so ich dir.
Ein Lamm erträgt, was man ihm antut.
Jesus hat ertragen, was Menschen ihm angetan haben und hat es fortgetragen.
»Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun«.
Deshalb glaube ich, dass er auch mir vergeben wird.
Dass ich aufrecht gehend weiterleben kann, wenn das Buch aufgemacht wird.
Obwohl ich weiß, wie sehr ich anderen weh getan habe auf der Suche nach meinem persönlichen Glück.
Oder nach dem, was ich dafür halte.
Ich muss nicht meinen, ich hätte versagt, weil ich es nicht besser wusste.
Nicht, weil ich schwächer war als andere.
Ich kann mir und anderen verzeihen.
Dann fängt das Leben neu an.
IV. Das Buch der Bücher
Wie ich das so sagen kann und woher ich das wissen will?
Ich weiß das, weil es in einem anderen Buch erzählt wird.
In dem Buch, in dem die Gute Nachricht, die Geschichte von Jesus Christus aufgeschrieben ist.
In diesem Buch steht, dass die aufstehen können, die sich gar nicht mehr rühren konnten, weil sie so vieles gedrückt hat.
Darin steht:
Gott verurteilt die nicht, die Unrecht getan haben.
Er will, dass sie es besser machen.
Darin steht:
Am Ende wird nicht alles vernichtet.
Am Ende werden alle an einem Tisch sitzen:
Die, die schon immer da waren, und auch die von draußen, die sich nicht reingetraut haben oder denen man den Zugang versperrt hat.
In diesem Buch lese ich, wie Menschen gut miteinander leben können.
Darin steht:
Glücklich werden die, die Frieden stiften.
Glücklich werden die, die mit anderen barmherzig sind.
Glücklich werden die, die keine Hintergedanken haben bei dem, was sie tun.
Glücklich werden auch die, die sich nach Gerechtigkeit sehnen. Die werden glücklich sein. Und sie werden ein Licht sein für alle, die noch im Dunkeln sitzen.
V. Das neue Lied
Heute feiern wir Ostern.
Wir feiern, und dieses Lamm steht im Mittelpunkt.
Jesus, wehrlos hingerichtet wie ein Lamm – und Gott hat ihn auferweckt.
Das Lamm ist nicht verloren und hat nicht verloren.
Gott gibt ihm Recht.
Gott schenkt ihm neues Leben.
Was die Menschen ihm angetan haben, das hat Gott überwunden.
Nicht mit gewaltigem Dreinschlagen.
Sondern auf seinem Weg. Dem Weg des Erbarmens.
Gott selber zeigt:
So fängt das Leben neu an.
Wenn Menschen auf Gewalt verzichten.
Wo sie barmherzig umgehen mit den Fehlern der anderen – und auch mit den eigenen.
Da kann das Leben neu anfangen.
Darum lassen wir jetzt das Wehklagen über den Zustand der Welt und die Bosheit der Menschen. Wir fangen an zu singen.
Ein neues Lied (EG 100):
»Wir wollen alle fröhlich sein, in dieser österlichen Zeit, denn unser Heil hat Gott bereit.«
Amen.
- Predigt über Jesaja 52, 13–15; 53, 1–10 an Karfreitag
- Die schlechten Hirten und der rechte Hirte