Predigt über Jesaja 52, 13–15; 53, 1–10 an Karfreitag
Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Lutherbibel Matthäus 27,50
Jesus stirbt.
Unter Qualen scheidet er aus dem Leben.
So haben wir es in der Schriftlesung (Mt 27, 31b-54) gehört.
Trauer ist angesagt.
Es ist Karfreitag
Das Leben ist verstummt.
Was soll man auch sagen beim Tod?
Wenn Trauernde ans Grab treten, finden sie kaum Worte.
Als Jesus starb, waren seine Vertraute erschüttert und sprachlos.
Sie konnten nicht begreifen, was geschehen war. Noch konnten sie ausdrücken, was sie empfanden.
Auch nicht gleich nach Ostern.
So waren sie heilfroh, als sie sich an ein Lied erinnerten, das sie aus ihrer Sprachlosigkeit heraus holte.
Ein Lied, überliefert im Buch Jesaja.
Es gab wieder was sie fühlten.
Es kleidete in Worte, was sie selbst nicht sagen konnten.
Es war so nahe am Geschehen auf Golgatha, dass sie die Worte nachsprachen, wieder und wieder.
Bis diese Worte eng mit der Passion Jesu verknüpft waren.
Hören wir dieses Lied, unseren heutigen Predigttext, aus Jesaja 52 und 53:
52,13 Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.
Lutherbibel Jesaja 52,13-53,10
14 Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –,
15 so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.
53,1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des HERRN offenbart?
2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.
7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war.
9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
10 Aber der HERR wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des HERRN Plan wird durch ihn gelingen.
Wir haben es gehört, gelesen und gesungen.
Vieles davon können wir auswendig.
Und vieles verstehen wir nicht.
Es ist ein Lied von einem Knecht Gottes aus dem zweiten Buch Jesaja.
Ein Leichenlied.
Ein Nachruf auf einen Toten.
Es beschreibt, wer der Verstorbene war und was für ein Leben er hinter sich gebracht hat.
Dabei kommt Seltsames zutage.
Nicht Gutes wird berichtet, wie wir es gern hören in einer Traueransprache auf dem Friedhof.
Übles wird genannt und beschrieben.
Sein Äußeres war abstoßend.
Er hatte ein entstelltes Gesicht, entstellt von Krankheit und Schmerzen.
Die anderen blickten zur Seite, wenn sie ihn sahen.
Sie gingen ihm aus dem Weg. Sie verachteten und verabscheuten ihn.
Ihm konnte man alles anhängen.
Er wurde gequält, geschlagen, durchbohrt, so lange, bis er tot war.
Er wurde verscharrt, wie man Verbrecher und Hingerichtete im Morgengrauen unter die Erde bringt.
Dies also teilt uns das Lied mit.
Ein befremdlicher Bericht.
Warum schweigt man nicht, wenn er so hässlich war?
Warum lässt man ihn nicht ruhen, als er endlich im Grab verscharrt ist?
„Halte den Augenblick aus!“, sagt das Lied vom Gottesknecht.
„Bleibt nicht an der entstellten Oberfläche hängen.
Wir haben uns alle getäuscht. Wir haben uns alle geirrt wie Schafe.“
Er wurde verachtet, er wurde von den Menschen gemieden, er war ein Mann voller Wunden – gewiss, aber es geschah um unseretwillen.
Nun entfaltet das Lied Zug um Zug, welche Bewandtnis es mit dem entstellten Knecht Gottes hat.
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Luterbibel Jesaja 53,4
Die es vernehmen, werden hellhörig.
Hier ist der maßlose Schmerz in Worte gefasst.
Hier bekommt das Leiden Bedeutung.
Der Knecht Gottes wird zum Bruder im Leiden.
Wir öffnen in diesen Tagen ein wenig die Tür zum Leiden, eine Tür, die meist sorgsam verschlossen ist.
Der Rhythmus des Kirchenjahres bringt uns in Erinnerung, was wir nur zu gern verdrängen.
Leiden – das hat in unserer Gesellschaft keinen Platz.
Wir schieben es weg.
Wir schauen weg.
Aus Angst, aus Gleichgültigkeit, aus Bequemlichkeit.
Leiden wird verdrängt, weggeschoben, ignoriert.
Die Tür zum Leiden, sie bleibt meist fest verschlossen.
Vielleicht tun wir uns deshalb mit der Pandemie so schwer.
Heute am Karfreitag aber können wir nicht anders.
Wir müssen diese Tür öffnen.
Und wir können es.
Denn der Knecht Gottes ist der Bruder im Leiden.
Jesus kennt das Leiden unserer Welt. Bei Jesus geschieht das nicht erst in den letzten Lebenstagen.
Jesus, der Mann aus Nazareth, hatte immer ein Herz für die Leidenden und er hat die Begegnung mit Leiden, mit Leidenden gesucht.
Die Geschichten, die uns die Evangelien erzählen, sind voll davon.
Jesus holt Zachäus, den kleinen und von allen verachteten Zöllner, von einem Baum herunter – weg aus seiner Isolation hinein in die Gemeinschaft.
Jesus sucht den Kontakt zu Aussätzigen, den Ausgestoßenen der damaligen Gesellschaft, den Unreinen – und gibt ihnen neues Leben.
Jesus bewahrt die Ehebrecherin vor dem Tod durch Steinigung und stellt diejenigen bloß, die sich selbstgerecht zum Richter über sie aufspielen wollen.
Jesus heilt das Kind des römischen Hauptmanns, des Vater, der vor Sorge fast außer sich den Weg zu Jesus ging – er heilt es durch sein Wort.
Jesus berührt die Frau, die lange Jahre ihres Lebens nur gekrümmt gehen lernte, den Blick nur auf den Boden gesenkt – und richtet sie auf.
Jesus stillt die Sehnsucht und den Lebensdurst der Frau am Brunnen – und schenkt ihr neuen Lebenssinn.
Jesus heilt Blinde, Taube und Lahme – und wendet sich denen zu, die ihr Leid sprachlos gemacht hat.
Mit offenen Augen, hilfsbereiten Händen und ohne Angst begegnet Jesus leidenden Menschen – und er hilft, wo er kann.
Er hielt die Tür zum Leiden, zu den Leidenden immer offen. Sein ganzes Leben war ein Kampfansage gegen das Leiden.
Weil Jesus auf der Leite der Leidenden steht – um Gottes Willen – deshalb bleibt ihm nichts erspart.
Nicht die Einsamkeit in Gethsemane, von Gott und den Menschen verlassen.
Nicht der Spott und der Hohn der Massen, weder Folter noch Schmerz noch der Tod, der erbärmliche Sklaventod am Kreuz.
Jesus geht den Weg zum Leiden konsequent bis zum Ende.
Er schließt seine Tür auch nicht vor dem Leid, als es ihn selbst trifft, bis ins Sterben, bis in den Tod hinein.
Ohnmächtig schreit er am Kreuz:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Lutherbibel Psalm 22,2
Und in seinen Schrei mischen sich die unzähligen Schreie, das unzählige Stöhnen und Seufzen von Menschen, die wie Jesus fragen:
Warum, Gott, warum?
Jesus, ein Mensch der Schmerzen, der unzählige andere im Schmerz tröstet.
Der Geplagte und Gemarterte, er wird zum Bruder der Leidenden.
Wenn ihm auch die Hände gebunden sind, so kann er doch trösten.
Mehr sogar als Gesunde.
Das ist der eine Grund, warum die Jünger Jesu das Lied vom Gottesknecht aufhorchen lässt.
Ein zweiter kommt dazu.
Dieser Tote im Lied des Jesaja hat sein Leiden angenommen.
Bewundernswert, wenn ein Mensch es schafft, Ja zu sagen zu seinem schweren Schicksal.
Dieser Tote freilich, Knecht Gottes genannt, er hat noch weit mehr getan.
Er hat das Leiden anderer auf sich genommen. Er hat sich aufladen lassen, was er gar nicht auf sich nehmen musste.
Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt
Lutherbibel Jesaja 53,5b
Hier erst kommt das Lied zu seinem vollen Klang.
Leiden für andere.
Wenn bei uns einer für den anderen etwas tut, wenn einer für den anderen sich einsetzt, vielleicht sogar aufopfert, dann machen wir schnell eine Gegenrechnung auf:
Ich habe dich großgezogen. Jetzt bitte sorge für mich.
Nicht so der Knecht Gottes.
Er mach keine Gegenrechnung auf.
… und tat seinen Mund nicht auf …
Lutherbibel Jesaja 53,7
Er beschwert sich nicht.
Er lässt es geschehen, was andere ihm zufügen.
Er ist wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.
Also jemand, der seine Schäfchen nicht ins Trockene bringt. Sondern vielmehr sich selbst einsetzt und dran gibt.
Er präsentiert nicht irgendwann die Rechnung, er gleicht sie selbst aus.
Nahezu unvorstellbar in einer Gesellschaft, in der für alles bezahlt werden muss.
Spätestens an dieser Stelle geht ein Staunen durch das Lied.
Was als Klage über ein bedauernswertes Schicksal begonnen hat, wird nun ein Ausruf der Verwunderung.
Hier ist ein Erfolgloser, dem das Unmögliche gelingt.
Ein Entstellter, der alles an die richtige Stelle bringt; ein Kranker, der heilt; ein Geschlagener, der tröstet; ein Sterbender, der Leben verbreitet; ein Entwürdigter, der Würde ausstrahlt.
Einer, von dem Überzeugungskraft ausgeht wie von keinem sonst.
Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen
Lutherbibel Jesaja 52,13
Das spüren viele.
Wir spüren, dass von Jesus, dem Gottesknecht, keine Vorwürfe kommen, keine offenen und erst recht keine versteckten.
Er gibt sein Leben dran und trägt die Lasten anderer.
Das Leiden und auch die Schuld.
Er lässt sich aufpacken, was andere für sich nicht tragen können.
Er lässt sich anhängen, was andere nicht haben wollen.
Er wird verachtet, verflucht.
Er wird zum Verbrecher.
Ohne Schuld und doch schuldig.
Ohne Last und doch belastet.
Er stirbt als Verbrecher ohne Ehre am Kreuz.
Aber da ist diese Lied.
Und auf einmal bringt es mit sich die Erkenntnis:
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.
Lutherbibel Jesaja 53,4.5
…
Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Das ist also das Zweite, wovon unser Lied erzählt.
Nun könnte aus dem Trauerlied eigentlich ein Freudenlied werden.
Freude und Dankbarkeit für den Knecht Gottes, in dem die ersten Christen Jesus wieder erkannt haben.
Doch so schnell wird der Schrecken nicht überwunden.
Der Todesschrecken und die Verlassenheit und die Angst und die Verzweiflung sind auch aus dem Leben Jesu nicht zu streichen.
Lähmendes Entsetzen hat sich bei seinem Tod auf die Menschen gelegt.
Aber mit Hilfe jenes Liedes vom Gottesknecht aus Jesaja 53 brach sich die Erkenntnis Bahn, dass der freiwillige Gang Jesu ans Kreuz ein Segen für die Menschheit war.
Nun werden sie sprachlos.
Die Völker kommen ins Staunen und die Könige müssen verstummen.
Sie alle werden nicht den Weg Jesu gehen, aber alle kommen nicht an ihm vorbei.
Er, der Geplagte und Verscharrte, trägt nun die Welt.
2 Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
Lutherbibel Jesaja 53,2-5
3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit.
Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Amen
- Predigt über Hebräer 11,1-2.39b-40; 12,1-3
- Predigt zu Offenbarung 5, 6–14