Kategorie: Predigt

  • Dellen, Sprünge und Risse

    Dellen, Sprünge und Risse

    Predigt über 2. Korinther am 28.01.2024 in Altdorf und Neckartailfingen

    Kintsugi

    Heute müssen wir Abschied nehmen.
    Der Weihnachtsfestkreis ist vollbracht.
    Nach der Advents- und der Weihnachtszeit geht heute auch die Epiphaniaszeit zu Ende.

    Am heutigen letzten Sonntag nach Epiphanias feiern wir, dass Jesus Christus als Licht des Lebens in die Welt gekommen ist, um die Schatten des Todes zu vertreiben.

    Auch der heutige Predigttext handelt von Jesus Christus als Licht, das in unsere Welt hineingekommen ist.
    Im 2. Brief an die Korinther heißt es im 4. Kapitel:

    6 Gott hat einst gesagt: »Aus der Dunkelheit soll ein Licht aufleuchten!« Genauso hat er es in unseren Herzen hell werden lassen. Durch uns sollte das Licht der Erkenntnis aufleuchten: Die Herrlichkeit Gottes sollte sichtbar werden, die uns in Jesus Christus begegnet.
    7 Wir tragen diesen Schatz aber in zerbrechlichen Gefäßen.
    So soll deutlich werden, dass unsere übergroße Kraft von Gott kommt und nicht aus uns selbst.
    8 Wir stehen von allen Seiten unter Druck, aber wir werden nicht erdrückt.
    Wir sind ratlos, aber wir verzweifeln nicht.
    9 Wir werden verfolgt, aber wir sind nicht im Stich gelassen.
    Wir werden zu Boden geworfen, aber wir gehen nicht zugrunde.
    10 Täglich erleben wir am eigenen Leib etwas von dem Sterben, das Jesus erlitten hat. Denn unser Leib soll auch das Leben zeigen, zu dem Jesus auferstanden ist.

    Basisbibel

    Der Apostel Paulus hatte es nicht leicht.
    In der Gemeinde der ersten Christen sind Apostel aufgetaucht, die davon überzeugt waren, den Heiligen Geist voll umfänglich zu besitzen.
    Sie demonstrierten daher ihre religiöse Macht und ihr Können vollkommen von sich überzeugt.
    Sie stellten sich selbst in den Mittelpunkt und glänzten mit ihren Taten.

    Da Paulus nicht mithalten.
    Er nahm sich dagegen eher kläglich aus.
    Schwach und kränklich kommt Paulus daher.
    „Lerne doch erst einmal reden, bevor du versuchst zu predigen“ wurde er verspottet.

    Davon unbeirrt stellt er das Wesentliche, die göttliche Heilstat, in den Mittelpunkt.

    Ganz bewusst zieht er die Parallele zur Erschaffung der Welt.
    Er erinnert an Gott den Schöpfer, der am ersten Tag das Licht von der Finsternis scheidet.

    Und Gott sah, dass das Licht gut war, heißt es am Anfang der Bibel.
    So senkt auch Gott den hellen Schein als Schatz in uns Menschen.
    Gott selbst ist der Handelnde, wir Menschen sind lediglich Empfänger.

    Um es noch deutlicher zu machen, wählt Paulus das Bild vom irdenen Gefäß, in das der Schatz hineingelegt wurde.

    Das irdene Gefäß wird aus Ton hergestellt.
    Damals war es reine Handarbeit.
    Jedes Stück wurde einzeln geschaffen.
    Jedes etwas anders im Aussehen.

    Auch hier findet sich eine Parallele zur Schöpfungsgeschichte.
    Gott formte den Menschen aus der Erde des Ackers, bei jedem einzelnen Menschen hat er seine Finger im Spiel.
    Auch wir sind ganz verschiedene Persönlichkeiten.
    Jede/jeder ist einzigartig.

    Das Tongeschirr kann im Gebrauch des Alltags beschädigt werden kann.
    Es können Ecken abgeschlagen werden, Risse entstehen oder das Gefäß kann auch zerbrechen.
    Genauso tragen auch wir die Spuren unseres Lebens mit uns.
    Auch wir haben Schicksalsschläge einstecken und manche Prüfungen bestehen müssen.
    Wir sind auf die eine oder andere Art und Weise verletzt worden.

    Die Erfahrungen, die Paulus im Predigttext beschreibt, kenne ich auch in ähnlicher Form bei mir.
    Nicht unbedingt existenziell oder lebensbedrohend.
    Aber manchmal wünsche ich mir schon, eine schlagfertige Antwort parat zu haben, wenn ich mit Worten angegriffen werde.
    Auch würde ich gerne brillant, mitreißend und voller Überzeugung vor Anderen reden können.
    Nicht unsicher oder zweifelnd und krampfhaft nach Worten suchen.

    Wäre es nicht schöner für uns Christen, wenn wir solide, goldglänzende, funkelnde Gefäße wären?
    Mir fallen da die Reliquienschreine ein, die die katholische Kirche besitzt.
    Ein Knochensplitter eines Heiligen wird für die Gläubigen in Gold und Edelsteinen gefasst zur Schau gestellt.
    Manchmal ist es gar nicht so leicht, zwischen all der funkelnden und glänzenden Pracht den eigentlichen Schatz zu entdecken.

    Als Gefäße für den Schatz, den Gott in uns hineinlegt, müssen wir nicht selbst glänzend und strahlend sein.
    Gerade durch unsere Unvollkommenheit, Zerbrechlichkeit und Schwachheit strahlt Gottes Herrlichkeit viel stärker nach außen.

    Und was wäre, wenn wir den Gedanken, selbst glänzende Gefäße zu sein, einmal weiterspinnen.
    Dann wären Christen Menschen, die auf alles eine Antwort wissen.
    Die nie von Zweifeln befallen wären und keine Ängste kennen.

    Würde ein solches Bild eines Christen auf andere suchende Menschen wirklich einladend oder eher abschreckend wirken?
    Wenn jemand ängstlich und voller Zweifel auf der Suche nach einer Gottesbegegnung ist, der würde wohl resigniert umkehren.
    Denn diese Ansprüche kann er nie erfüllen.

    Doch die gute Nachricht ist:
    Wir müssen und sollen gar nicht vollkommen sein.
    Gott nimmt uns an, so wie wir sind.
    Als irdenes Gefäß mit Dellen und Rissen nimmt er uns in Dienst, seine Herrlichkeit in den Alltag dieser Welt zu tragen.

    Die Sätze mit denen Paulus unsere Lebenssituation beschreibt, lassen sich in zwei Hälften teilen.

    Zählen wir mal die erste Hälfte der Sätze an einer Hand auf:

    • Wir stehen von allen Seiten unter Druck.
    • Wir sind ratlos.
    • Wir werden Verfolgt.
    • Wir werden zu Boden geworfen.
    • Täglich erleben wir am eigenen Leib etwas von dem Sterben, das Jesus erlitten hat.

    Dies ist ein sehr düsteres Bild, das Paulus da zeichnet.
    Da sehe ich schwarz.
    Ich sehe die Schatten des Todes.
    Es sind nicht nur die Erfahrungen, die Paulus gemacht hat.
    Auch Jesus selbst hat diese Erfahrungen in seinem Leben auf der Erde gemacht.
    Er hat diese Situationen durchlitten.

    Jesus ist aber nicht nur der gemarterte Mensch, der am Kreuz starb.
    Jesus Christus ist auch der Auferstandene, der den Tod überwunden hat.

    Das weiß Paulus ganz genau.
    Er weiß, dass in jedem Zeitpunkt seines Lebens Jesus Christus bei ihm ist.
    Dass er in jeder noch so widerwärtigen und lebensbedrohlichen Situation nicht allein gelassen ist.
    Darum kann Paulus mehr sehen als die Schatten des Todes.
    Darum kann er das Licht der göttlichen Herrlichkeit durch alles hindurch strahlen sehen.

    Darum haben seine Sätze einen zweiten Teil.
    Nehmen wir die andere Hand dazu.

    • Wir werden nicht erdrückt
    • Wir verzweifeln nicht.
    • Wir sind nicht im Stich gelassen.
    • Wir gehen nicht zugrunde.
    • Das Leben Jesu wird an unserm Leibe offenbar.

    Beide Hände kann ein Mensch zusammenlegen,
    beide Hände kann ein Mensch falten,
    beide Hände kann ein Mensch öffnen,
    beide Hände einem anderen reichen …

    Unser Leben verläuft in der Spannung zwischen Weihnachtsfestkreis und Passionszeit, es hat Höhen und Tiefen.
    Wir sind von Gott so angenommen, wie wir sind.
    Mit unseren Dellen, Sprüngen und Rissen.
    Trotzdem Gott den Schatz seiner Herrlichkeit in uns hineingelegt.
    Tragen wir das göttliche Licht weiter in diese Welt, indem wir beide Hände zusammenlegen, falten, öffnen und einem anderen Menschen reichen.

    Amen

  • Es war einmal.

    Es war einmal.

    Predigt über Hebräer 12, 12-25 am 14.01.2024 in der Altenrieter Sankt Ulrich Kirche

    Es war einmal.

    In den Erzählungen der Alten.
    Der Großeltern und Urgroßeltern.
    Alles, was weitergegeben wurde, haben sie selbst nicht erlebt.

    Die Geschichte vom Grab.
    Den Frauen.
    Thomas, der Jesu Wunden berührte.
    Als Jesus das Brot mit brach und gen Himmel verschwand.

    Es war doch einmal da.
    Das Feuer, die Liebe und die Vorfreude.
    Im Herzen noch die Worte: „Ich komme wieder.“
    Das Miteinander.
    Das Brotbrechen und Weintrinken.
    Das Beten und Singen.
    Das Lesen der Worte und Erzählen, was Jesus gemacht hatte.
    Kranke gesund.
    Blinde sehend.
    Mit denen gegessen, die am Rand standen.
    Schwache geschützt.
    Und Unrecht beim Namen genannt.

    Sie war da.
    Die Überzeugung, dass der neue Weg der richtige ist.  
    Doch nach und nach starben sie.
    Die, die das selbst erlebt hatten.
    Die Veränderung.
    Und die heißen Wangen.
    Die Freude und die Gewissheit: Jesus ist auferstanden.

    So blieben nur die Überlieferungen.
    Worte, Texte und Briefe.
    Sie bleiben, doch sie selbst sind müde.
    Einer schreibt an die gesamte Gemeinde.

    Er nennt sich Paulus.
    Wie er wirklich heißt, weiß niemand.
    Es könnte auch Pauline gewesen sein

    Einer schreibt.
    Mit Papyrus und Feder.
    An müde Menschen.
    Und enttäuschte Seelen.

    Hören wir auf unseren Predigttext aus dem Brief an die Hebräer, Kapitel 12
    12 Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie 13 und tut sichere Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.
    14 Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, 15 und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden; 16 dass nicht jemand sei ein Hurer oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen, sein Erstgeburtsrecht verkaufte.
    17 Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.
    18 Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte und das mit Feuer brannte.
    22 Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zur Festversammlung 23 und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten 24 und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut. 25 Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den abwiesen, der auf Erden den Willen Gottes verkündete, wie viel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel her redet.

    Das wünsch ich mir für 2024:
    Ein Teller mit Kartoffeln und Grünkohl.
    Oder ein Teller Suppe.
    Ein Platz am Ofen und ein warmes Bett.
    Ein Bad mit Schaum bis an die Decke.
    Und ein Abend zu Zweit.
    Ein Telefonanruf, nachts um zwei.
    Sport allein und mit anderen.
    Ein Spaziergang und das Buch auf der Coach.
    Einfach mal abhängen und nichts tun.

    Und ich erinnere mich.
    Es war einmal.
    Das Feuer.
    Die Gewissheit und Kraft.
    Die Zuversicht und das Wissen, was richtig und was falsch ist.
    Was die Lebensgeister weckt.
    Mir den Kopf zurechtrückt.
    Und meine Batterie wieder auffüllt.

    Es war einmal.
    Da wurden blühende Landschaften versprochen.
    Ein Weg aus dem Elend.
    Aus Arbeitslosigkeit und Hunger.
    Worte an müde Menschen und enttäuschte Seelen.
    Zum Lesen und Hören.

    Es war einmal.
    Da wurde an „früher“ erinnert.
    An irgendeine Überlieferung.
    Gespickt mit Worten, die Kraft geben sollten.
    Und die Hände stärken.
    Worte von Volk und Heimat und Blut.
    Davon besonders zu sein.

    Es war einmal.
    Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass sich die Geschichte wiederholt.

    Todes Gelände anstelle blühender Landschaften.
    AfD und Rechtsextreme treffen sich.
    Das Haus am Wannsee ist in der Nähe.
    Fast wäre ihr Plan geheim geblieben.
    Auch sie stärken Hände und Knie.
    Remigration wollen sie.
    12 Millionen sollen Deutschland verlassen.
    Auch diesen Plan gab es schon einmal.
    Und er heißt Deportation.

    12 Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie
    13 und tut sichere Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.
    14 Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, 15 und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden; 16 dass nicht jemand sei ein Hurer oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte.

    Es ist 2024.
    Und ich erinnere mich.
    An das Feuer der Alten.
    Die Erwartung.
    Das Miteinander.
    Brotbrechen und Weintrinken.
    Ohne Oben und Unten.
    Die Gewissheit: es soll anders werden.
    Und: er wird wieder kommen.
    Der Versuch es anders zu machen.
    Mit Vernunft und Herz. Liebe und Verstand.

    Es ist 2024.
    Und es ist Krieg.
    GDL und Landwirt:innen streiken.
    Rechte Parolen und menschenverachtendes Denken versuchen sich breit zu machen.
    Gewalt und die Suche nach Sündenböcken.

    Es ist 2024.
    Und es gibt die, die frisches Grün säen wollen.
    Die dem Frieden nachjagen.
    Die meinen, dass ein Menschenleben unantastbar ist.
    Und alle gleich sind.
    Dass es nur eine Erde gibt und nicht noch eine zweite oder dritte.
    Bahnfahren und Milch bezahlbar sind
    Dass Lokführer:innen und Landwirt:innen leben können.

    Dass die Erde uns und unsere Wünsche aushält.
    Wir uns zuhören und ausreden lassen.
    Miteinander statt Gegeneinander.
    So wie es überliefert wird.

    Jahr um Jahr.
    „Friede auf Erden“
    Damit sich die böse Wurzel nicht breit macht.
    Groß wird.
    Und das Gute erstickt.

    Einer schreibt einen Brief.
    Oder Eine.
    Weil Menschen eben müde werden können.
    Das Feuer erlischt.
    Die Kraft fehlt und die Ausdauer.
    Erinnerungen verblassen – an das Gute.
    Und an das Böse.

    12 Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie 13 und tut sichere Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.
    14 Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, 15 und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden;
    16 dass nicht jemand sei ein Hurer oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte.

    Ins neue Jahr,
    Ins Fremde und Wilde.
    Dort, wo wir verloren sind und gefunden werden.
    Wo wir nichts wissen und alles.
    Dorthin führe uns, Ewiger Uns und deine ganze Kirche.

    Die sicheren Zeiten sind vorbei.
    Die einfachen Antworten tragen nicht.
    Das Leben und Menschen schlugen uns Wunden.
    Aber du bist uns gnädig.
    Du bleibst, wenn alles vergeht.
    Halt die Hand über uns.
    Über deiner Gemeinde
    und allen Hebräer:innen dieser Welt.

    Fürs neue Jahr wünsche ich uns:
    Pause machen.
    Nachdenken.
    Luftholen.
    Zugeben, dass es gerade nicht geht.
    Sich abwechseln und tragen lassen.
    An die Gewissheit der Frauen am Grab erinnern.
    Die Hoffnung aus früheren Tagen wieder finden.
    Sich gegenseitig erinnern. An das, was gut ist und dem Leben dient.

    Nachdenken, bevor ein Kreuz an der falschen Stelle gemacht wird,
    Nachdenken, bevor eine Polizeisperren durchbrochen wird.
    Nachdenken bevor Worte fallen, die zur bösen Saat werden.

    Dass wir reden und handeln.
    Gemeinsam.
    Bevor es zu spät ist.

    Amen.

  • Alles hat seine Zeit

    Alles hat seine Zeit

    Predigt zu Kohelet (Prediger) 3, 1-8 am 31.12.2023 in der Schlaitdorfer St. Wendelin-Kirche und in der Altenrieter St. Ulrich Kirche

    Kohelet 3, 1–8 nach der Lutherübersetzung:
    „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
    Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
    pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
    töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
    abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
    weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
    klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
    Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
    herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
    suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
    behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
    zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
    schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
    lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
    Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“

    Ein Jahr zu Grabe tragen

    Diese poetischen Zeilen aus dem Buch Kohelet berühren mich immer wieder aufs Neue.
    Mit nur wenigen Worten werden vom Geboren-Werden bis zum Sterben alle wesentlichen möglichen Erlebnisse eines menschlichen Lebens benannt.

    Wenn man so will, tragen wir heute ein Jahr zu Grabe.
    Wir versammeln uns, um Rückschau zu halten, mit manchem abzuschließen und auch wieder nach vorn zu schauen.
    Jeder von uns hat das Jahr 2023 anders erlebt.
    War es für uns persönlich eher ein Jahr des Lachens, Tanzens und des Friedens
    oder eher des Weinens, Klagens und des Streits?

    Das Jahr 2023

    Ich kann mich dieses Jahr an viele wunderbare Momente erinnern.
    Momente des Pflanzens, des Heilens, des Liebens.
    Aber wenn ich auf 2023 schaue, dann verharren meine Augen eher auf den Worten Sterben, Töten, Weinen.
    Der Angriff auf Israel am 7. Oktober verschluckt alles davor und danach in meiner Erinnerung an dieses Jahr wie ein schwarzes Loch.
    Ich bin immer noch erschüttert von der Brutalität dieses Angriffs.
    Und das Leid der Bevölkerung in Gaza, durch die Hamas und die Kriegshandlungen.

    Es ist, als würde ich in einen Abgrund schauen.
    Und ich frage mich:
    Kann das so gemeint sein, dass eben alles seine Zeit hat, das Sterben, Töten, Weinen und wir Menschen nur ohnmächtig dem Lauf der Zeit zuschauen?

    Nein.

    Im Buch Kohelet wird nicht unsere Ohnmacht allein beschrieben.
    Hier wird mit einem nüchternen Blick auf die gefallene Welt geschaut, in der wir leben.
    Auf unsere Welt, eben auch mit all dem, was sie so kaputt erscheinen lässt.

    Zugleich sind wir auch von Gott berufen, diese Welt zu gestalten und die Möglichkeiten unseres Handelns auszuschöpfen.

    Das Pflanzen, das Heilen, das Zunähen, das Herzen, das Reden.
    Das sind Dinge, die wir mit Gottes Hilfe tun können und die in unserer Macht stehen.

    Ich bin dankbar für alle Menschen, die sich für echten Frieden und Versöhnung einsetzen, die den Dialog mit Menschen anderer Kulturen, Religionen und Weltanschauungen suchen.
    Ich bin dankbar für alle, die über den Zaun des eigenen Lebens hinüberschauen und mit den Nachbarn ins Gespräch kommen.

    Wir sind nicht machtlos.

    Die letzten Worte des obigen Abschnitts aus dem Buch Kohelet lauten eben:
    „Friede hat seine Zeit!“

    Dieser Friede kann im Kleinen beginnen.
    Dieser Friede kann nah bei uns beginnen.

    Ich bin hoffnungsvoll und kann mir sehr gut vorstellen:
    dass heute jemand durch einen Neujahrsgruß glücklicher wird;
    dass heute jemand genau die Umarmung bekommt, die er vermisst hat;
    dass Gott im Abendmahl die Wunde eines Menschen heilt;
    dass ein Lied eine vergossene Träne trocknet.

    Die Zeit des Friedens kann ihren Beginn im Kleinen haben.

    Diese Hoffnung habe ich und gebe ich nicht auf.
    Auch wenn es manches Mal Mühe kostet und auch umsonst sein kann.

    Fröhlich sein und sich gütlich tun

    Im Buch Kohelet 3,9–15 steht weiter:
    „Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
    Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.
    Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
    Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
    Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.

    Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll.
    Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.“

    Freude am Genuss

    Aus diesen Versen spricht die Erfahrung, dass es weise ist, sich die Grenzen der eigenen Möglichkeiten bewusst zu machen.
    Die Konsequenz ist niemals, dass wir die Hände den Schoß legen sollen.
    Sondern dass wir das Leben als ein Geschenk aus Gottes Hand annehmen und wir es in vollen Zügen genießen.
    „Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
    Die Freude am Leben ist auch eine Gabe Gottes, die wir voll ausschöpfen können.

    Udo Lindenberg singt in einem seiner zahlreichen Hits: „Nimm dir das Leben! …und lass es nicht mehr los.“
    Ich denke, Udo Lindenberg hat vielleicht unbewusst viele Lebensmaximen des Buchs Kohelet übernommen.

    Diese Sehnsucht nach Leben, nach Genuss, nach Essen, Trinken und Lieben ist zutiefst menschlich, und ihre Erfüllung hat etwas Göttliches.
    Wie wichtig das Essen ist, wurde mir vor kurzem in einer Reportage über die von der Hamas entführten Kinder bewusst.
    Die israelischen Soldaten, die die Kinder in Empfang nehmen, bekommen für den Umgang mit den traumatisierten Kindern einen Handlungsleitfaden.
    Dieser Leitfaden sieht vor, dass die Soldaten zunächst durch einfache Sätze Sicherheit vermitteln:
    „Ich bin hier, um mich um dich zu kümmern.“
    Und gleich nach der medizinischen Versorgung sollen die Kinder ihr Lieblingsessen bekommen, ob Pizza oder Hähnchenschnitzel.

    Ich vermute, dass keines dieser Kinder je diesen Moment vergessen wird, und es zeigt mir, dass Genuss kein Randthema, sondern lebensbedeutsam ist.
    „Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“

    Jesus Christus, die Mitte unseres Glaubens, ist ohne diese existenzielle Dimension des Genusses nicht denkbar.
    Er verwandelt Wasser zu Wein, damit die Hochzeitsfeier in Kana weitergehen kann.
    Er lädt Zöllner und Sünder und Ausgestoßene dazu ein, mit ihm zu essen und zu trinken.
    Er sättigt Tausende mit Brot und Fischen. Er erzählt Gleichnisse vom Feigenbaum, vom Fischnetz, vom neuen Wein in alten Schläuchen, vom Sauerteig, vom Senfkorn, von der selbstwachsenden Saat. Jesus liebt das Leben.
    In seinen Abschiedsreden hören wir den Spitzensatz: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh 15,5).

    Genuss beim Abendmahl
    Der Höhepunkt dieser Verbindung von leiblicher und geistlicher Sättigung ist das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern.
    Wir werden nun miteinander unsere Sünde bekennen, beten, die Einsetzungsworte des Abendmahls hören und miteinander Leib und Blut Christi teilen.
    „Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“

    Ich wünsche uns allen, dass wir heute gut essen, trinken und so guten Mut für das nächste Jahr bekommen.
    Amen.

  • Als die Zeit erfüllt war

    Als die Zeit erfüllt war

    Predigt zu Galater 4, 4-7 in der Nürtinger Versöhnungskirche am 23.12.2023

    Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen.
    Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!
    So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott. (Galater 4,4-7 nach der Übersetzung nach Martin Luther 2017)

    Weihnachten ist ein spannendes Fest.
    Spannend sind die verpackten Geschenke, die Heimlichkeiten und Überraschungen.

    Spannend auch im Sinn von Anspannung,
    ja Stress,
    sind die Erwartungen, die dem zugrunde liegen:
    Das Fest der Familie,
    das Fest des Schenkens,
    das Fest des Friedens.

    Wenn die Erwartungen hoch sind, dann sind leider auch die Enttäuschungen oftmals groß.
    Gerade bei diesem Fest merken wir, dass die Latte hoch liegt.
    Oftmals zu hoch und dann können wir sie nicht überspringen reißen sie.

    Im Vergleich mit unserer Weihnachtsstimmung erscheint der Text des Apostels Paulus absolut cool und sachlich. „Als die Zeit erfüllt war…“

    Doch damit beschreibt er eine noch viel größere Spannung;
    Die Spannung zwischen Zeit und Ewigkeit,
    zwischen Himmel und Erde,
    zwischen Gott und Mensch.

    Wir siedeln Gott ja gerne im Himmel an, in der Ewigkeit, im Jenseits.
    Da kann man es sich dann aussuchen, ob man zu den Themen und Problemen dieses Lebens und dieser Zeit auch noch an die Ewigkeit glauben und einen Gott haben will.

    Diese Weihnachtsbotschaft zeigt aber, dass es umgekehrt ist.
    Gott bestimmt unsere Zeit, unsere Geschichte liegt in seiner Hand.

    Die Weihnachtserzählung ist eine Rettungsgeschichte.
    „Als die Zeit erfüllt war…“,.

    Gott hat sich in unsere Welt begeben.
    Mit Haut und Haar.
    Er kommt zu uns, dorthin, wo wir sind.
    Er wird Mensch, ein Kind.
    Machtlos, angewiesen, hilfsbedürftig.

    Wir haben uns daran gewöhnt und zählen ganz selbstverständlich die Jahre „vor Christus“ und „nach Christus“.
    Tatsächlich ist es ein unglaubliches Wunder.
    Gott nimmt sich Zeit.
    Er tritt in die Geschichte ein.
    Dadurch wird die Zeit kostbar.
    Dadurch wird die Geschichte einmalig.
    Dadurch erhält jeder Mensch seine Würde.

    Wie wichtig dem Paulus die Menschwerdung Gottes ist zeigen die Worte:
    „Von einer Frau geboren und unter das Gesetz getan“.

    Mit dieser Aussage können wir verbinden:
    Mit der Geburt beginn unsere unsere Endlichkeit.
    Mit der Geburt beginnt die Unterwerfung unter das Gesetz.
    Schuld und Leid.
    Der Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten.
    Das Zerschellen der Visionen an der Wirklichkeit.

    Oder wir hören diese Worte als großes Geschenk.

    Mit der Geburt beginnt ein neues Leben.
    Ein Mensch tritt ins Dasein, dessen Wesen und Bedeutung noch niemand kennt.
    Mit der Geburt erklingt der Ruf der Freiheit,
    die Ermutigung zur Menschlichkeit,
    die Möglichkeit, den anderen zu lieben.

    Paulus zeigt diese Spannung in der Gegenüberstellung von Söhnen, Töchtern und Knechten.
    Der Knecht ist der ins Dasein geworfene Mensch.
    Er ist seinen Fähigkeiten und seinen Unfähigkeiten ausgeliefert.
    Er ist das Produkt seiner Anlagen und seiner Umwelt.

    Söhne und Töchter sind Gottes Ebenbild.
    Sie sind zum aufrechten Gang aufgerufen.
    Sie sind zur Versöhnung befähigt und zur Fantasie für Frieden.
    Sie sind mutig genug, um für Gerechtigkeit einzutreten.
    Sie sind die Verwalter des Anvertrauten, der Geheimnisse des Lebens und der Schönheiten dieser Erde.
    Sie sind die Erben der Freiheit.

    Erfüllte Zeit definieren wir heute als Zeit die uns nach vorne bringen.
    Die wir mit Familie, Freunden oder erfüllter Arbeit verbringen dürfen.

    Paulus würde „Erfüllte Zeit“ wahrscheinlich anders verstehen.
    Für ihn ist die erfüllte Zeit das „Ende des Gesetzes“.
    Das Ende der Knechtschaft unter den Schlägen eines blinden Schicksals.
    Das Ende der Kette von Lieblosigkeit und Gewalt.

    „Erfüllte Zeit“ ist der Platz bei dem Kind in der Krippe.
    „Erfüllte Zeit“ ist Anteil an seinem Mut, ein Weltbewohner zu werden.
    Erfüllte Zeit ist die Zeit des Rufens der Söhne und Töchter dieser Erde nach Abba, dem Vater im Himmel.
    Und es ist die Zuversicht, dass Gott auch mich erfüllen kann mit Liebe und mit seinem Geist.

    Amen.

  • Es brennt!

    Es brennt!

    Predigt zu Hesekiel 22,23–31 am 22.11.2023 in der Andreaskirche in Großbettlingen

    I. Es brennt

    Es hat gebrannt in diesem Jahr.
    Auf Rhodos und in den Wäldern der USA.
    Es brannte und so wurde mehr Kohlendioxid ausgestoßen, als erwartet.
    Somit brennt es weiter im Bereich des Klimaschutzes.

    Es brennt.
    In den Kindergärten und Schulen, in den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen fehlen Fachkräfte.
    Woanders auch.

    Es brennt.
    In der Ukraine. Immer noch wehrt sich ein Volk gegen einen Aggressor.
    In Israel. Die Bilder der Toten und der Verschleppten sind immer noch präsent.
    In Gaza. Auch hier Opfer.

    Es brennt.
    Sexueller Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen und aufgrund von Abhängigkeits- und Machtverhältnissen.
    Überlegungen, wie man an der Erbschaftssteuer vorbeikommt, um den eigenen Lieben möglichst viel zu hinterlassen.

    Es brennt.
    Und schon längst nicht mehr nur unter den Nägeln.

    Es brennt in unserem Land.
    Gerechtigkeit erhöht ein Volk und die Sünde ist der Leute Verderben, so der Tagesspruch.
    Sünde verdirbt.
    Der Prophet Hesekiel weiß davon ein Lied zu singen.
    Wobei es einem bei dem Lied die Sprache verschlägt.

    Für Hesekiel steht außer Frage.
    Wo es so brennt, dass Land und Leute verderben, da steckt Gottes Zorn dahinter
    Und der brennt.
    Lichterloh verbrennt die Hitze alles.
    Was bleibt, ist verbrannte Erde.

    Hören wir auf unseren Predigttext aus Kapitel 22 des Buches Hesekiel.

    II. Gott steht für sich ein

    Verbrannte Erde.
    Ja, Gott hat eine Eselsgeduld.
    Er ist langmütig bis zum Zorn.
    Doch auch Geduld und Langmut haben ein Ende.
    Und gerade darin liegt Gottes Verlässlichkeit.
    Er sagt, was er will.
    Und dafür setzt er sich ein.
    Mitarbeiter verweigern die Mitarbeit, torpedieren die Absichten und Anliegen.
    Und irgendwann reicht es.
    Schluss.
    Aus.
    Verhältnis gekündigt.
    Lebensgrundlage entzogen.

    Es gehört zu den Abgründen des christlichen Glaubens, dass wir den Karfreitag haben.
    Und aushalten müssen!
    Wir werden konfrontiert: Gott wirft uns den Bettel hin.
    Da bringen Menschen seinen Sohn zu Tode, vergießen Blut – es reicht.

    In dem Fall brennt es nicht, sondern das Land wird verdunkelt.
    Und hängt über dem Abgrund,
    zwei Nächte und einen Tag.

    Es gehört zu einer christlichen Gemeinde, dass sie sich dem Bußtag stellt. Mit und stellvertretend für Menschen dieses Landes, dieses Ortes bekennt sie:
    Wir gehen unsere Wege.
    Und es fehlt an Gerechtigkeit und Solidarität.
    Wir hören, wie es anderen von uns gegangen ist.
    Wie gerade eben in den Worten Hesekiels.
    Und wir ahnen, was uns und unserem Land blüht, wenn wir weitermachen wie bisher.
    Gott steht für sich ein.
    Mit Willkür hat das nichts zu tun.
    Mit Konsequenz ganz viel.

    III. Von kleinen und großen Höllenfeuern

    Gott steht für sich ein.
    Weil Menschen, genauer, wir Menschen, das Feuer gelegt haben.
    Höllisch geht es da zu.
    Leben wird genommen, die Luft zum Atmen fehlt, die Kehle schnürt sich zu, Angst engt Leben ein.
    Blut wird vergossen, es fließt aus Rücksichtslosigkeit und weil einer den anderen übersieht.
    Aus Wunden quillt Blut und schreit von der Erde zum Himmel.
    Höllisch geht es zu.
    Und ein junges Mädchen erzählt stockend von Gewalt mit Worten und mit Schlägen und mit Missbrauch zu Hause in den vier Wänden, die so gar nicht schützen.
    Drohungen und Gewalt gegen öffentliche Personen vertreiben Engagement für das Gemeinwohl.
    Wölfe reißen, Löwen brüllen.
    Da schreiten Leute laut und setzen sich durch.
    Andere zeigen Zähne und kämpfen für das Eigenwohl.

    Menschen haben das Feuer gelegt.
    Und der Widerspruch verstummt.
    Auch in den Kirchen.
    Werte zu liefern für die Gesellschaft, darin liegt bei vielen die Absicht.
    Damit verbunden mit der Hoffnung auf diese Weise systemrelevant zu werden, also wichtig und unentbehrlich für das Land.

    Bitte?
    Systemrelevant?

    Es wird doch in der Kirche vor allem um und für Gottes „System“ gehen.
    Da geht es um einen Einsatz, den die Bibel einklagt.
    Einsatz für das Leben.
    Für Gerechtigkeit und Solidarität.
    Für die Armen und Übersehenen.
    Für die, denen es höllisch geht.

    IV. Gott steht für sich ein – widerwillig

    Gott steht für sich ein.
    Wir Menschen haben das Feuer gelegt.
    Wir haben unsere Lebensgrundlage missbraucht.
    Wir haben Gottes Willen für nett erklärt.
    Wir haben Gott zum lieben Mann gemacht und gehen unsere Wege.

    Darum steht Gott für sich ein.
    Doch mit welchem Wider-willen.
    Mit welcher Fassungslosigkeit er das tut, wird bei Hesekiel klar:

    Gott selbst macht sich auf die Suche, ob es einen Menschen gibt, der die Brandstifter schützt.
    Ob es einen Menschen gibt, der sich in die Bresche stellt, um die Brandstifter vor Gottes Zorn, vor dem völligen Brand zu schützen.
    Gott selbst mach sich auf die Suche.

    Doch die Suche endet erfolglos.
    „Ich fand nicht“, hält Gott fest.
    Nicht einen!
    Und so brannte es.
    Lichterloh.
    Verbrannte Erde.
    Ein zerstörter Tempel.
    Ein Land am Boden und seine Bewohner ohne Lebensgrundlage.

    V. Rauchmelder: Ein Einsiedler betet

    Nicht eine fand Gott.
    Nicht einen?

    Ein Einsiedler, ein orthodoxer Mönch sitzt in seiner Einsiedelei, einer Höhle in der Wüste Juda.
    Zufällig trifft eine Gruppe junger Menschen auf ihn.
    Sie kommen ins Gespräch und dem Mönch wird die Frage gestellt: „Warum machst du das?
    Warum lebst du so einsam und kärglich?“
    Der Mönch antwortet: „Was wollt ihr? Ich halte mit meinem Gebet die Welt am Laufen. Ich bitte Gott ununterbrochen für diese Welt. Und solange ich bete, behält Gott diese Welt im Blick und lässt sie nicht fallen.“

    Lächelnd,
    belächelnd,
    zogen die jungen Menschen ihrer Wege.
    Lang ist es her.
    Und siehe – wir leben.

    VI. Lücken-Büßer

    Einer der betet.
    Doch einer.
    Einer springt in die Bresche und hält Gott auf.

    Wirklich?
    Einer. Eine.
    Jemand, der Jesu Fußstapfen folgt.
    Dieser folgt dem nach, den Gott in die Bresche, in die Lücke gestellt hat.
    Das Kreuz zeigt die Lücke.
    Und weitere Menschen stellt sich dazu.
    Sie stellen sich hinein und beten weiter:

    „Vater vergib ihnen“ Und: „Herr erbarme dich.“

    Menschen, Zeitgenossen stellen sich dazu und füllen die Lücke mit.
    Bessern sie aus – büßen sie aus.

    Lückenbüßer der ganz anderen Art sind solche Menschen.
    Sie sind überlebenswichtig.
    Sie geben sich dafür her, Gottes System zu erhalten.
    Sie sind systemrelevant.
    Solche Lückenbüßer sind wir hier heute auch.

    Wir nehmen Gott ernst.
    Wir nehmen seine Konsequenz ernst und bitten doch: Vergib.

    „Vergib uns und ihnen.
    Erhalte das Land und seine BewohnerInnen.
    Gib uns eine weitere Chance.
    Den nächsten Tag noch.
    Das nächste Jahr noch.
    Vielleicht bekommen wir das eine oder andere Feuer etwas eingedämmt.
    Füge nicht auch noch die Glut deines Zornes hinzu.
    Gib uns eine Chance.
    Vielleicht blüht da etwas auf.“

    VII. Gott steht für sich ein. Auch in anderer Hinsicht.

    Gott ist konsequent.
    Auch darin, dass er Gebete und Klagen hört und sie sich zu Herzen gehen lässt.
    Wir bekommen eine Chance.

    Wo wir wohl nächstes Jahr am Bußtag stehen?
    Wo es dann brennt?
    Und welches Feuer ein wenig eingedämmt wurde – in unserem Land?
    Oder im Kleinen?
    Vor Ort?
    Bei uns?

    Wir haben diese Chance.
    Gott sei Dank dafür.

    Amen!