Kategorie: Predigt

  • Ein Lobgesang im Schatten des Leids

    Ein Lobgesang im Schatten des Leids

    Predigt zum 1. Brief des Petrus 1,3–9 am 27.04.2025 in der Nehrener Veitskirche

    „Gelobt sei Gott …“ – so beginnt der Brief – und sofort stockt mir der Atem.

    Wie kann man Gott loben, wenn Leid und Bedrängnis zum Alltag gehören?
    Ist das nicht unsensibel?
    Anmaßend den Leidenden gegenüber?

    Ich möchte jemanden, der schwer zu tragen hat nicht als erstes zumuten: „Lobe Gott“?

    Unser Predigttext, der erste Petrusbrief, bringt diese Spannung auf den Punkt:
    Gotteslob und Schmerz, Hoffnung und Erfahrung, Rettung und Verlassenheit stehen dicht beieinander.

    Diese Spannung ist offensichtlich – und sie ist zeitlos aktuell

    Die Empfänger des Petrusbriefes leben zerstreut in der Fremde.
    Sie erleben Verfolgung, Benachteiligung, Entfremdung.
    Und gerade ihnen ruft der Brief zu:

    „Gelobt sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus! Der uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung…“

    Lebendige Hoffnung. Nicht Vertröstung. Aber auch kein einfacher Trost.
    Diese Verse reden nicht naiv über das Leid hinweg.
    Im Gegenteil:

    Sie benennen das Leid – aber sie halten dagegen.

    Der echte Glaube, sagt der Brief, ist „viel kostbarer als Gold“
    gerade weil er sich im Feuer des Leids bewährt.
    Aber was heißt das?
    Ist Leid der Prüfstein echten Glaubens?


    Zwischen Verheißung und Erfahrung

    Theologisch entsteht eine Spannung, die nicht aufgelöst werden darf.
    Es klafft zwischen der Verheißung göttlicher Nähe und der Erfahrung von Gottesferne eine große Lücke.
    Damals wie heute.

    „Ist mein Glaube stark genug?“
    „Warum entzieht sich Gott mir immer wieder?“

    Diese Fragen brennen vielen unter den Nägeln – auch in unseren Gemeinden.
    Und sie werden besonders laut, wenn Menschen durch schwere Zeiten gehen.


    Wenn Gottes Gegenwart fehlt – persönlich und global

    Vielleicht sitzt heute jemand hier,
    der diesen Riss ganz persönlich kennt.

    Der spürt, was es heißt, von Gott nichts zu spüren.
    Der – wie Elie Wiesel in seinem autobiografischen Bericht „Die Nacht“ gefragt hat: „Wo ist Gott?“
    In „Die Nacht“ schildert er das Grauen im Konzentrationslager Auschwitz– den körperlichen Schmerz, die Erniedrigung, den Verlust aller Hoffnung.

    Eine Szene hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt:
    Ein Kind wird öffentlich erhängt. Die Lagerinsassen müssen zusehen. Einer flüstert:

    „Wo ist Gott?“
    Und Elie Wiesel schreibt:
    „Ich hörte eine Stimme in mir antworten: Dort – dort hängt er, am Galgen.“

    Gotteslob?
    In dem Moment unmöglich.
    Diesen Schmerz nimmt der Petrusbriefes auf.
    Indem er uns erzählt:
    Glaube lebt nicht vom Sieg, sondern vom Durchhalten in der Anfechtung.
    In dem Augenblick als das Grauen seinen Höhepunkt erreichte.
    In dem Augenblick als das Kind am Galgen baumelte und jemand flüsterte:

    „Wo ist Gott?“„Er hängt dort.“

    Wiesels Erzählung, die in ihrer kargen Schlichtheit erschüttert,
    ist längst nicht nur eine Erinnerung an die Shoah.
    Sie hat eine unheimliche Aktualität –
    angesichts der Bilder aus der Ukraine,
    den Massakern im Sudan,
    dem nicht enden wollenden Sterben in Gaza.
    Dem Leid überall in der Welt.

    Und sie trifft uns auch ganz persönlich:
    – im Krankenhaus
    – am Grab
    – im Gespräch über zerbrochene Hoffnungen
    – im Ringen um ein Gebet, das nicht mehr über die Lippen kommt.

    Vielleicht ist jemand unter uns, der wie ich – wie Jesus am Kreuz – schon einmal geschrien hat:

    „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2)

    Dann ist es gut zu wissen:
    Du bist damit nicht am Rand des Glaubens,
    sondern mitten in seinem innersten Zentrum.

    Denn auch Jesus hat so geschrien.
    Sein Schrei macht deutlich:
    Der Glaube kennt nicht nur das Licht,
    sondern auch die Nacht.
    Und wer schreit, glaubt oft tiefer, als wer nur formelhaft betet.


    Glauben heißt: Nicht loslassen

    Der 1. Petrusbrief hält an dieser Spannung fest.
    Er verschweigt das Leid nicht – aber er legt die Hoffnung daneben.
    Nicht als leichten Ausweg. Sondern als Einladung zum Durchhalten.

    Denn Hoffnung ist keine Vertröstung.
    Sie ist ein Anfang – oft leise, kaum zu hören,
    aber stark genug, um uns neu auszurichten.
    Darum spricht der Paulusbrief auch von Gottes großer Barmherzigkeit die uns zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren hat.

    Wer hofft, der sieht mehr –
    nicht weil die Welt sich verändert hat,
    sondern weil sich der Blick auf sie verändert.

    Diese Hoffnung wächst nicht aus einem abstrakten allmächtigen Gott,
    sondern aus einem Gott,
    der uns annimmt und mit uns mitleidet,
    der sich immer wieder entzieht
    und doch nie ganz geht.


    Zwischen Kreuz und Auferstehung

    Darum ist es kein Zufall, dass diese Verse am Sonntag Quasimodogeniti gelesen werden –
    in der Woche nach Ostern.

    Nach dem Jubel.
    Nach dem Osterlachen.

    Jetzt kommen die Zweifel.
    Jetzt kommen die Fragen.
    Jetzt kommt der Alltag.

    Thomas ist nicht dabei, als Jesus den Jüngern zuerst erscheint.
    Wir wissen nicht, wo er war. Vielleicht hat er das leere Zimmer nicht ausgehalten.
    Vielleicht hat er – wie viele von uns – einfach Abstand gebraucht.

    Abstand vom Schmerz.
    Von der Hoffnung.
    Von all dem, was ihn innerlich zerriss.

    Und dann erzählen die anderen:
    „Wir haben den Herrn gesehen!“
    Doch Thomas sagt:

    „Wenn ich nicht die Male der Nägel sehe und meine Finger in seine Wunden lege, werde ich nicht glauben.“

    Das ist kein bloßes Zweifeln.
    Das ist: Verletzung, Enttäuschung, Sehnsucht.

    Thomas steht mitten in der Spannung,
    zwischen dem Ruf zur Hoffnung und dem Gefühl, allein gelassen worden zu sein.
    Zwischen Ostern und Karfreitag.
    Zwischen Licht und Dunkel.

    Und Jesus?
    Jesus kommt ihm nicht mit Vorwürfen, sondern mit offenen Händen.
    Er sagt nicht: „Du hättest glauben sollen.“
    Er sagt:

    „Reich deinen Finger her … sieh meine Hände … und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“

    Er nimmt Thomas ernst.
    Seine Fragen.
    Seine Sehnsucht.
    Seinen Schmerz.

    Und genau in diesem ehrlichen Ringen entsteht Glaube.
    Kein Glaube aus Beweis.
    Sondern aus Begegnung.

    Und Thomas antwortet mit einem der stärksten Worte des Neuen Testaments:

    „Mein Herr und mein Gott!“

    Ein Bekenntnis mitten aus dem Riss heraus –
    nicht obwohl, sondern weil die Wunden noch sichtbar sind.

    Das meint der Petrusbrief wenn er schreibt:

    „Ihr habt ihn nicht gesehen und habt ihn doch lieb; ihr glaubt an ihn und werdet euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude…“

    Eine Hoffnung, die trägt

    Diese Freude ist kein Lächeln auf Knopfdruck.
    Sie ist eine Erfahrung, die leider oft erst im Rückblick entsteht.
    Sie ist die Kraft, wieder aufzustehen.
    Noch einmal zu vertrauen.
    Noch einmal loszugehen.

    So wie Frodo und Sam aus J.R.R. Tolkins „Herr der Ringe“
    Als sie mitten im dunklen Land Mordor am Rand der völligen Erschöpfung stehen sah Sam nach einem Wolkenbruch

    „… einen weißen Stern eine Weile funkeln.
    Die Schönheit davon traf sein Herz, als er aus dem verlassenen Land aufblickte, und die Hoffnung kehrte zu ihm zurück.
    Denn wie ein Strahl, klar und kalt, durchbohrte ihn der Gedanke, dass am Ende der Schatten nur eine kleine und vergängliche Sache war:
    Es gab Licht und hohe Schönheit für immer jenseits des Bösen.“

    Der Stern ändert nicht die Lage der Freunde– sie bleiben in Gefahr.
    Aber Sam sieht mehr als nur die Dunkelheit.
    Er sieht das Licht.
    Und das genügt, um weiterzugehen.

    Diese Szene ist fast wie ein modernes Gleichnis für das, was der 1. Petrusbrief sagen will:
    Glaube heißt nicht, dass alles leicht wird.
    Glaube heißt, dass uns – manchmal überraschend – ein Licht aufgeht.
    Ein Hoffnungsschimmer.
    Eine Ahnung von etwas Größerem, das uns trägt.

    Vielleicht ist der Glaube genau das: Nicht ein Sieg über das Dunkel, sondern der Entschluss, im Dunkel weiterzugehen – weil irgendwo ein Stern leuchtet.

    Die Worte des Petrusbriefes sind mutig.
    Sie trauen uns zu, dass wir erkennen:

    • Wir sind nicht allein.
    • Wir leben mit und von dem Gott, der uns mit seiner lebendigen Hoffnung neues Leben schenkt – jeden Tag.
      Ich möchte mir mit dieser Hoffnung meinen Glauben bewahren.

    Nicht als Schild gegen das Leid.
    Sondern als Flamme, die in der Dunkelheit brennt.
    Nicht laut.
    Aber treu.


    Amen.

  • Schuldlos schuldig

    Schuldlos schuldig

    Predigt zu Johannes 18,28-19,5 am 07.04.2025 in Altdorf und Neckartenzlingen

    Einer läuft nicht weg. Lief nie weg. War für alle da.

    „Weg mit ihm! Weg mit denen, die stören! Er stört unsere Ordnung, unser Weltbild.“
    Sie bringen ihn zu Pilatus, dem römischen Präfekten von Judäa, Repräsentant des Kaisers in Rom. Er darf und soll zum Tod verurteilen diesen schändlichen Aufrührer, der sich anmaßt, Gottes Sohn zu sein. Als Juden dürfen sie das nicht. Auch das Prätorium betreten sie nicht, sie würden unrein werden und könnten nicht das Passamahl zu sich nehmen.
    Pilatus fühlt sich belästigt. Sollen sie doch selbst entscheiden, was sie mit diesem Menschen Jesus machen wollen.
    Im Verlauf des Verhörs wird er aufmerksamer. Pilatus, dieser mächtige Mann ist hin- und her- gerissen zwischen dem Menschen Jesus, der ihn beeindruckt und dem Angeklagten, den er zum Tod verurteilen soll. Er findet keine Schuld an ihm, aber er muss die aufgeheizte Menschenmenge zufriedenstellen.
    Sie setzen ihn unter Druck. „Der da sagt von sich, er sei ein König“, das ist eine schwere Anschuldigung vor dem römischen Präfekten, der einen König in Konkurrenz zum römischen Kaiser nicht zulassen darf. Darauf könnte die Todesstrafe verhängt werden. Und dennoch, Pilatus ist durch die ruhige Argumentation Jesu verunsichert. Vom Fragenden wird er selbst zum Befragten. „Bist du der Juden König?“ Jesus fragt zurück: „Sagst du das von dir aus?“ Jesus erwartet viel Verstehen von dem Römer Pilatus.
    Pilatus zweifelt. Er findet keine Schuld an Jesus. Aber er steht unter Druck. Das ist lästig! Was soll er nur machen mit solchen Aussagen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ „Ja, ich bin ein König.“ „In die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge.“
    „Was ist Wahrheit?“ Das fragt Pilatus. Die Wahrheit, die Pilatus kennt, ist die Wahrheit der Herrschenden, weil immer die die Wahrheit und das Recht für sich reklamieren, die im Besitz der Macht, des Gelds und der Waffen sind. Die Wahrheit, von der Jesus spricht, ist die Wahrheit der Barmherzigkeit und der Liebe. Es ist die Wahrheit, die sich für die Schwachen einsetzt. Eine andere Wahrheit gibt es nicht. Wer den Weg Jesu mitgeht, erkennt diese Wahrheit, weil er, Jesus, „dazu geboren und in die Welt gekommen“ ist. Das ist eindeutig. Es lässt kein Wenn und Aber zu.
    Pilatus ist verunsichert und beeindruckt. Er findet keine Schuld an Jesus, aber er muss ihn irgendwie loswerden und den Erwartungen, die sie an ihn und sein Amt stellen, gerecht werden. Und andererseits versucht er, sich aus der Verantwortung herauszuwinden und gibt ihn an das Volk heraus.

    Wo bin ich – wo wäre ich gewesen?

    Ich versuche, mich unter das Volk zu mischen, um Jesus näher zu sein und auch diesem mächtigen Pilatus. Rechts und links schubsen sie, brüllen ihren Hass auf Jesus heraus, recken ihre Fäuste ihm entgegen, die Gesichter verzerrt vor Wut und Hass. Wie lang soll das noch gehen mit diesem Jesus, diesem selbsternannten König? Wann wird dieser Ketzer endlich verurteilt? Gottes Sohn will er sein! Lächerlich!
    Das ist Gotteslästerung. Ich bin verunsichert und verwirrt. Sollten sie alle unrecht haben? Ihr Hass stößt mich ab. Ich sehe einige unter der Menge, die mir vertraut sind.
    Ich habe aber doch auch gesehen, wie Jesus freundlich mit den Menschen geredet hat, auch mit denen, die sonst keiner wahrnimmt. Kranke hat er geheilt. Es hat mich aber auch irritiert, dass er sich gegen die Tradition gestellt hat. Und ein König will er sein? Was ist das für ein König, ohne Macht? Gleichzeitig hat mich sein Auftreten beeindruckt. Ich fand es mutig. Könnte ich nicht auch so sein? Muss ich mit der Menge schreien?

    Ich wundere mich, wie anders Reaktionen aussehen können, wenn ich mich selber in die Situation hineinstelle.
    Oft schon habe ich mir die Frage gestellt, wie ich in der Zeit des Nationalsozialismus gedacht und gehandelt hätte: Wäre ich mutig gewesen, oder hätte ich mich versteckt hinter der Meinung der Vielen? Habe ich Glück gehabt, dass mich niemand gefragt hat? Wo wäre ich gewesen?

    Für wen stehst du da?

    Wie zeigt sich Jesus? Menschlich, nahbar und zugleich auch unnahbar in seiner Klarheit und Ruhe inmitten einer feindseligen Umgebung.
    Und doch frage ich: „Warum verteidigst du dich nicht? Du hast doch den größten Verteidiger im Hintergrund!“ Ach ja, wir wissen, er rettet dich nicht vor den Verurteilungen und vor dem schlimmsten Tod.
    Du sagst, wer du bist, aber du verteidigst dich nicht! Ich würde das an deiner Stelle leidenschaftlich tun. Du hast sie doch auch verteidigt, die Ehebrecherin, ja sogar sie, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht hatte.
    Wie geht es mir, wenn ich mich Angriffen ausgesetzt fühle, die ich für ungerecht halte? Ich bin gekränkt, verletzt, innerlich erregt und angespannt. Mein Blutdruck schießt nach oben. Jesus steht ruhig da. Anders in Gethsemane, als er den Vater anfleht, ihn zu verschonen. Da ist er mir eigentlich näher, eben ganz menschlich. So schwach wie ich auch. Wir dürfen schreien und Gott unseren Zorn und unseren Kummer vor die Füße werfen und sagen, dass wir so vieles ungerecht finden und einfach nicht verstehen.
    Für wen, Jesus, stehst du da und lässt dich beschuldigen? Für uns? Für alle? Was ist mit den Hitlers, den Stalins, den Pol Pots, den Putins, den Messerstechern in Fußgängerzonen und auf Stadtfesten?

    Wie in einem Spiegel

    Wir haben als Menschen die Möglichkeit, uns herauszureden, im schlimmsten Fall die Unwahrheit zu sagen, Schuld zu beschönigen, einen anderen als schuldig zu benennen. Der da, ich nicht! So ist Christus nicht. Alles, was er sagt und tut, ist Wahrheit. Es ist die Wahrheit des Sohnes Gottes. Da spüre ich etwas von dieser tiefen Verbundenheit, diesem Einssein mit Gott. In Wahrheit hält Jesus mir einen Spiegel vor. Ich erkenne, wie oft ich mich auch aus der Wahrheit herausschleiche, beschönige, geliebt werden möchte, mit dem Strom schwimme. Es gibt genug Fragen, in denen ich bekennen muss, auf wessen Seite ich stehe.
    Es ist meine freie Entscheidung, wahrhaftig zu sein oder nicht. Wir sehen wie in einem Spiegel auch das ganze Elend dieser Welt, die ungerechten Verhältnisse, den Machtmissbrauch, den Hass und die Zerstörung. Es ist meine freie Entscheidung, hinzusehen und mich nicht abzuwenden „Zum Glück, ich nicht!“

    Und noch einmal: Hätte es uns besser gefallen, wenn Pilatus die Unschuld Jesu erkannt und danach gehandelt hätte? Die Macht dazu hätte er ja gehabt. Im Matthäusevangelium heißt es: „Als Pilatus sah, dass er so nichts erreichte und dass der Tumult nur immer größer wurde, ließ er eine Schüssel mit Wasser bringen. Für alle sichtbar wusch er sich die Hände und sagte: „Ich bin am Blut dieses Menschen nicht schuldig. Die Verantwortung dafür tragt ihr!“ (Matthäus 27,24)

    Keine Strafe

    Wie soll das gehen, sich reinwaschen und sich doch schuldig machen! Was für ein Widerspruch! Pilatus verbiegt die Gerechtigkeit. Er urteilt so, wie sie es von ihm erwarten. Die Zweifel wischt er weg.
    Die Frage bleibt: Hätte Jesus gerettet werden können, weil ein Mensch doch Zivilcourage besessen und ein mutiges Urteil gefällt hätte? Aber so heißt es schon zu Beginn: „So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.“ (Vers 32) Oder „musste er nicht solches erleiden?“ (Lukas 24,25–26) Auch in der Lesung bei Markus spricht Jesus von seinem zukünftigen Sterben: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?“.
    Verkleinert das die menschliche Schuld? Hätte sich die Zwangsläufigkeit verändert, wenn die Menschen sich barmherzig gezeigt hätten und auf die Straße gegangen wären, um für ihn zu demonstrieren und sich mitfühlend gezeigt hätten? Eine sehr menschliche Reaktion. Menschen stellen sich immer wieder diese Fragen. Warum diese Konsequenz um Gotteswillen? Wie viele Menschen haben sich gerieben an der Vorstellung, dass Christus um unseretwillen gestraft wurde. Ich erinnere mich noch sehr genau an die empörte Aussage einer Freundin: „So einen Gott will ich nicht, der um meinetwillen sterben musste!“ Nein, so einen Gott will ich auch nicht.
    Ist das wirklich so ein Gott, der straft? Ist es nicht eher so, dass in der Verurteilung deutlich wird, dass sich Gott selbst hingibt in seinem Sohn, damit wir, und zwar alle Menschen, frei werden von Schuld? Gott zeigt seine ganze Liebe zu den Menschen darin, dass der Sohn alle Wege, die wir auch gehen, mitgeht. Ist es eher so, dass an den Menschen, die ihn verdammen, quälen, verleumden, gerade sichtbar wird, wie sehr sie und wir alle diese Liebestat Gottes, die in Jesu Kreuzestod sichtbar wird, unbedingt brauchen? In diesem „für uns“ wird das deutlich. Was sollte dann Strafe sein? „Musste er nicht solches erleiden?“ Damit darf auch ich Jesu Verurteilung und Tod für mich als Befreiung verstehen. Gottes Liebestat gilt uns allen.
    Mein letzter Blick richtet sich zum Altar, auf dem eine Dornenkrone in dieser Passionszeit liegt. Sie ist stachlig und tut weh. Königswürde in Demut und Schmerzen. Sein „Reich ist nicht von dieser Welt“.

    Lied nach der Predigt: Bei dir, Jesu, will ich bleiben   EG 406, 1–4

  • Was die Seele satt macht

    Was die Seele satt macht

    Predigt zu Johannes 6,47–51 am Sonntag 30.März 2025 – Sonntag Lätare

    1. Kalorien gegen Kummer – wenn Trost schwer zu finden ist

    Essen ist tröstlich. Schon in der Kindheit hilft nichts so schnell über eine Schramme hinweg wie ein Eis.
    Später lindert Seelen-Futter Liebeskummer, Stress im oder Ärger in der Familie.
    Kalorien gegen Kummer.

    Auch Claudia, ich nenne sie einfach mal so, ist davon betroffen.
    Den ganzen Tag über hat sich bei ihr Unzufriedenheit aufgestaut.
    Der Wecker klingelt viel zu früh.
    Stress pur im Job: Der Chef mäkelte an ihren Bilanzen herum. Kunden waren ungeduldig.
    Der Heimweg war auch nicht besser: Stau auf der Strasse, Gehupe von Ungeduldigen.
    Endlich Zuhause: Sofa, Fernbedienung, Schokolade.
    Heute muss es eine XXL-Packung sein.
    Aus manchmal wird eine Gewohnheit.

    Doch die Süßigkeiten helfen nur kurz.
    Danach ist die Leere wieder da – und zusätzlich das schlechte Gewissen.
    Der Arzt hat auch schon vor Diabetes gewarnt.
    Aber Claudia fehlt die Kraft etwas zu ändern.

    Claudia – das ist nur ein Name.
    Es könnte auch Marie sein. Oder Sven. Oder Thomas.
    Denn dieses Frust essen kennen viele von uns.

    In der Kindheit haben wir gelernt: Essen tröstet.
    Darum greifen wir Erwachsene auch zum Keks, zum Eis, zur Pizza, wenn das Herz leer ist.
    Die Ernährungswissenschaftlerin Martina Tischler bringt es auf den Punkt:
    „Essen wird so zu einem Vertrauten, einem Freund.
    Es unterhält uns, wenn uns langweilig ist.
    Es bringt uns Freude, wenn wir traurig sind.
    Es nimmt uns den Stress – aber immer nur für kurze Zeit.“

    2. Der Hunger der Seele

    Doch was ist das für ein Hunger, der bleibt, auch wenn der Magen längst voll ist?

    Es ist der Hunger der Seele.
    Die Sehnsucht nach Anerkennung.
    Nach Liebe. Nach Trost.
    Nach Geborgenheit.

    Wir versuchen diesen Hunger zu stillen –
    mit Arbeit, Besitz, Zerstreuung und Essen.
    Aber satt werden wir nicht davon.

    Und genau an dieser Stelle setzt das Evangelium des heutigen Sonntags an.
    Jesus sagt:

    „Ich bin das Brot des Lebens. […] Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“ (Joh 6,48–51)

    3. Jesus – das Brot des Lebens

    Jesus spricht zu Menschen, die selbst voller Sehnsucht waren.
    Damals wie heute.
    Sie kamen in Massen zu ihm.
    Sicherlich auch aus Neugierde.
    Aber auch weil sie spürten, da gibt es mehr als Worte.
    Bei ihm gibt es Leben.
    Er heilte,
    er half,
    er hörte zu.
    Und er sprach mit einer Autorität, die nicht überforderte, sondern ermutigte.

    Seine Worte sind Balsam für erschöpfte Seelen.
    Seine Nähe ist Nahrung für das Herz
    Seine Botschaft ist die Hoffnung für alle, die sich leer fühlen.

    „Ich bin das Brot des Lebens“ das ist mehr als ein schöner Vergleich.
    Das ist eine Verheißung.

    4. Keine Sättigung durch Konsum

    Unsere Zeit bietet unzählige Glücksversprechen.
    Werbung, Lifestyle,Social Media
    – überall heißt es:
    „Kauf mich, dann wirst du glücklich“
    Oder
    „Verdiene mehr, dann bist du wer!“
    Oder
    „Iss das, dann fühlst du dich besser.“
    Doch das dickste Konto macht die Seele nicht satt.

    In diesem Zusammenhang aber eher zum Schmunzeln:
    Der Künstler Georg Joachim Schmitt hat den Nährwert von Geld einmal im Labor testen lassen.
    Ergebnis: Fast nichts.
    100 g D-Mark – so sagte er damals – seien eine Null-Diät.
    Ich denke beim Euro ist es auch nicht besser.

    Das ist natürlich absurd – aber im Kern wahr:
    Geld, Besitz, Status – sättigt nicht.
    Es gleicht Meerwasser:
    Je mehr davon getrunken wird, desto größer wird der Durst.

    5. Nahrung, die bleibt -und trägt

    Jesus bietet etwas anderes an.
    Keine Vertröstung.
    Kein Zucker-Schub für den Moment.
    Sondern Brot, das trägt.
    Er gibt sich selbst: „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt“.

    Im Abendmahl wird das konkret.
    Wir empfangen ihn – in Brot und Wein.
    Und in dieser Hingabe liegt die Kraft, die meine Seele satt macht.
    Ich bin angekommen.
    Geliebt.
    Nicht wegen meiner Leistung, sondern aus Gnade.

    Das befreit.
    Das nimmt den Druck.
    Das schenkt Frieden – tief innen.

    6. Gesättigt – um zu geben

    Wer so gesättigt ist, wird selbst zur Quelle für andere.

    So wie Kelvin, ein neunjähriger Junge aus Louisiana.
    Er sieht einen verwahrlost wirkenden Mann vor einem Café.
    Er Hat Mitleid und schenkt ihm einen Dollar.

    Was er nicht weiß:
    Der Mann ist ein reicher Unternehmer, der nur zufällig wie ein Obdachloser aussieht.
    Matt, der Inhaber eines Sportgeschäfts, floh an diesem Morgen aufgrund eines Feueralarms aus seinem Wohnkomplex und trug daher ungepflegte Kleidung.
    Matt ist von der Geste so gerührt, dass er Kelvin belohnen wollte.
    Kelvin durfte in seinem Sportgeschäft innerhalb einer Minute alles auswählen, was er haben wollte.
    Am Ende sagt der Geschäftsmann: „Kelvin hat mir den Glauben an die Menschheit zurückgegeben.“
    Und Kelvin?
    Der sagt: „Ich habe mich doppelt gefreut – dass ich helfen konnte und über das Geschenk.“ Quelle

    7. Die Seele wird satt – durch Liebe

    Aber was bedeutet das für Claudia?
    Wie kann sie diese Erkenntnis in ihr Leben integrieren?

    Sie könnte beginnen, ihren Frust vor Gott zu bringen, anstatt ihn in Schokolade zu ertränken.
    Vielleicht mit einem einfachen Satz wie:
    „Herr, du siehst meine Erschöpfung.

    Fülle du mich mit neuer Kraft.“
    Denn Jesus ist kein Ernährungsberater, er wird ihr keine bessere Ernährung empfehlen – er möchte ihre Seele sättigen.

    Aber wie macht er dass?
    Jesus sättigt die Seele durch seine Nähe.
    Er ist nicht fern, nicht unerreichbar.
    Er ist da!
    Er ist da, in jedem Moment, in jedem Atemzug.
    Er sieht Claudia, wenn sie müde, ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kommt.
    Er hört ihre unausgesprochenen Sorgen.
    Er kennt ihren Hunger nach Anerkennung.
    Und er sagt: „Ich lasse dich nicht allein. Ich trage dich.“

    Jesus sättigt die Seele durch seine Liebe.
    Da gibt es kein: „Mach mehr! Sei besser! Streng dich an“
    Sondern es gibt Liebe, die einfach da ist.
    Liebe, die sagt: „Du bist genug. Du bist wertvoll. Ich bin für dich da“

    Vielleicht entdeckt dann Claudia, dass ihre Seele durch Geben selbst erfüllt wird.
    Dass Helfen und Teilen selbst Freude schenken.
    Sie könnte sich engagieren,
    anderen eine Freude machen,
    ein kleines Licht für jemanden sein.
    So wie der Junge aus Louisiana,
    der mit einem Dollar das Herz eines reichen Mannes bewegte.
    Denn Freude und Liebe sind das eigentliche Brot, das satt macht.

    Und schließlich darf sie lernen, Gnade zuzulassen.
    Auch sich selbst gegenüber.
    Sie muss nicht perfekt sein,
    nicht immer stark,
    nicht immer diszipliniert.

    Jesus sagt nicht: „Streng dich mehr an!“
    Jesus sagt: „Komm zu mir! Ich bin das Brot des Lebens.“

    Wenn Claudia nach und nach lernt, auf Gottes Fürsorge zu vertrauen, dann wird sie erleben:
    Ihr Hunger nach Trost wird nicht mit Zucker gestillt,
    sondern mit echter Liebe.
    Ihr Verlangen nach Anerkennung muss nicht mit Kalorien erkauft werden.
    Sondern sie darf sich sicher sein:
    Ich bin, wie ich bin.
    Ich bin von Gott gewollt, geliebt und angenommen.

    Und das macht wirklich satt!
    Amen


    Gehalten in Dörnach am 30.03.2025

  • Ich seh was, was du nicht siehst

    Sommerpredigt 2024 über Psalm 84:

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“
    Das kennen wir aus unserer Kindheit.
    Wir als Kinder haben es auf langen Autofahrten mit unseren Eltern gespielt.
    Und als Vater habe ich es oft mit meinen Kindern – auf langen Autofahrten – gespielt.
    „Ich seh was, was du nicht siehst!“

    Doch wenn aus „Ich seh was, was du nicht siehtst!“
    ein „Ich such was und finde es nicht!“ wird.
    Dann wird es manchmal zum Verzweifeln.
    Dann ist das Spiel nicht mehr lustig, sondern blöd.

    So geht es mir oft mit Gott.
    Gut dass es da die Psalmen gibt.
    Trauer, Zweifel, Freude, Angst, Dankbarkeit, Streit.
    Das können wir dort finden.
    Dort können wir fündig werden.

    Da kann aus einem „Ich such was und finde es nicht“,
    ein „Ich seh was!“ werden.

    Psalm 84

    Psalm 84 (EG W 734)

    Wohl denen, die in deinem Hause wohnen

    Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth!

    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn;

    mein Leib und Seele freuen sich

    in dem lebendigen Gott.

    Der Vogel hat ein Haus gefunden

    und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen –

    deine Altäre, Herr Zebaoth,

    mein König und mein Gott.

    Wohl denen, die in deinem Hause wohnen;

    die loben dich immerdar.

    Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten

    und von Herzen dir nachwandeln!

    Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund,

    und Frühregen hüllt es in Segen.

    Sie gehen von einer Kraft zur andern

    und schauen den wahren Gott in Zion.

    Herr, Gott Zebaoth, höre mein Gebet;

    vernimm es, Gott Jakobs!

    Gott, unser Schild, schaue doch;

    sieh doch an das Antlitz deines Gesalbten!

    Denn ein Tag in deinen Vorhöfen

    ist besser als sonst tausend.

    Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause

    als wohnen in der Gottlosen Hütten.

    Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild;

    der Herr gibt Gnade und Ehre.

    Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.

    Herr Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!

    Psalm 84,2-13

    Wie lieblich sind deine Wohnungen.
    Wie sehnt sich einer danach.
    Wie möchte einer dort sein.
    Wie möchte einer dort sein, wo Gott ist.

    So viel Verlangen und so viel Sehnsucht:
    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach so viel.
    Meine Seele verlangt und sehnt sich, dass Menschen geliebt werden.
    Dass Menschen sich gegenseitig lieben.

    Meine Seele verlangt nach Friede in der Welt.
    Unter den Menschen. Mit der Natur. Mit der Erde. Nach Shalom.

    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach dem Genug.
    Meine Seele verlangt danach, dass einer sagt: „Es wird alles gut“.
    Meine Seele sehnt sich nach Ruhe und nach Zuversicht, nach Hoffnung und nach Stärke.
    Und wenn der Alltag um mich herum tobt, verlangt und sehnt sie sich nach Kraft.

    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Sie träumt sich fort an einen Ort:

    Meine Seele verlangt und sehnt sich nach der Nähe Gottes.
    Nah an dem Ort zu sein, wo er ist.
    Wo er wohnt (wie man sagt),
    Nach den Vorhöfen des Herrn.
    Dahin, wo alles gut ist.
    Wo es keine Sehnsucht mehr gibt.
    Wo andere sind:
    Der Vogel, die Schwalbe,
    mein Leib und meine Seele.
    Wo ich bin. Weil er ist.
    Wo es Raum gibt für uns.

    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Vogel und Schwalbe sind schon längst da.
    Wir fliegen hinterher:
    „Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus,
    Flog durch die stillen Lande,
    Als flöge sie nach Haus.“ (Eichendorff)

    Meine Seele verlangt und sehnt sich.
    Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar.

    Stell dir mal vor:
    Du gehst durch dürres Land.
    Über gerissene Erde. Ein ausgetrocknetes Bachbett.
    Es ist heiß.
    Die Hitze glüht.
    Durst auf deiner Zunge.
    Schweiß am ganzen Körper.
    Vertrocknete Blätter an den Bäumen.
    Verbrannte Gräser und Sehnsucht.

    Sehnsucht nach dem, was einmal war.
    Sehnsucht nach dem, was sein könnte.
    Und Erschöpfung, weil es so nicht ist.
    Traurigkeit über das, was verloren.
    Schon so lang oder noch ganz frisch.

    Dein Herz manchmal wie ausgetrocknet.
    Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln!
    Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund:
    Hörst du es auch?

    Dort, ganz leise, ein Gluckern.
    Ein Plätschern und ein Singen.
    Du gehst ihm nach.
    Immer weiter.
    Bis du an die Quelle kommst.

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“

    Noch ist sie ganz klein – die Quelle.
    Du hast sie gehört.
    Und nun siehst du:
    Sie bahnt sich ihren Weg.
    Sie wird das Leben bringen.
    Wird Fülle bringen, die du so lange vermisst hast.
    Mit ihrer kleinen Kraft.
    Mit ihrer Lebenskraft.

    Es ist Nacht geworden.
    Und dann wieder Tag.
    Über Nacht ist Erlösung gekommen:
    Und Frühregen hüllt es in Segen.

    Sie gehen von einer Kraft zur anderen und schauen den wahren Gott in Zion.

    Mit Schwung gehst du weiter.
    Wie damals, als du als Kind von einem Stein zum anderen gehüpft bist.
    Leicht in die Knie, Schwung, Absprung, los, gelandet.

    Und wieder:
    Leicht in die Knie, Schwung, Absprung, los, gelandet.

    Von einem Stein zum anderen.
    Und immer weiter. Immer weiter.
    Von einer Kraft zur anderen.
    Du hast ein Ziel.
    Ganz am Ende deines Wegs.
    Ganz am Ende deiner Reise.
    Das treibt dich an.
    Der letzte Stein, und dann:
    Der Arm des Vaters, das Jubeln der Mutter.
    Hurra, hurra, mein Kind, geschafft!

    Zu schauen den wahren Gott in Zion.
    Wohl dir, du Seele.
    Er wird’s wohl machen.

    Gutes dir:
    Träume, die sich erfüllen.
    Dann und wann.

    Liebe, die leben darf.
    Ein Gegenüber.
    Vielleicht du selbst.
    Oder der Liebste.
    Das Kind und das Kindeskind.
    Die Nachbarin.
    Eine Umarmung.
    Ein Händedruck.
    Ein Lächeln im Gesicht.
    Sonne, die dir scheint.
    Gerade recht.
    Du legst dich hinein.
    Ganz warm auf deiner Haut.
    Sie lässt das Getreide auf den Feldern wachsen und macht die Erdbeeren süß und die Äpfel sind schon reif.

    Wasser, das dir fließt.
    Nicht zu viel, nicht zu wenig.
    Kühl rinnt es durch deine Finger.
    Ein Schluck, der belebt.
    Kein Durst und keine Not.
    Und ein Stück Brot für jeden Tag.
    So ziehen wir dahin.
    In ein Zuhause.
    Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend.
    Schutz.
    Schild.
    Für deine Seele und für dich.
    Wo du sein kannst, wie du bist.
    Und ich auch.

    Zuhause sein.
    Ankommen.
    Last fällt ab.
    Da willst du bleiben.
    Und ich auch.
    Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
    Segen dir.
    Er wird’s wohl machen.
    12 Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; /
    der Herr gibt Gnade und Ehre.
    Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.
    13 Herr Zebaoth,
    wohl dem Menschen,
    der sich auf dich verlässt!
    Gott hört dein Gebet.
    Er vernimmt es, der Gott Jakobs.
    So flüstern sie uns zu, die Psalmen.

    Die uralten Worte.
    Jahrhunderte sind vergangen.
    Und Jahrhunderte sind in ihnen verborgen.
    Worte sind aufgestiegen wie Rauchopfer von den Altären.
    Schwalben haben gebrütet und Nester sind verschwunden.
    Zerstört und wieder errichtet.
    Jahrhunderte sind vergangen.
    Die Psalmen:
    Fremd und fern.
    Und seltsam nah:
    Ruth hat sie gebetet und Isaak.
    Nathanael und Rebekka.
    Später haben sie geliehen: Hildegard und Martin.
    Du und ich.
    Und unsere Kinder.
    Jedes Jahr wieder.

    Psalm 84, im Gesangbuch die Nr. 734.
    Wir beten mit.
    Beten mit den Gebeten Israels.
    Teilen die Sehnsucht und die Hoffnung.
    Die Freude und die Gnade.
    Wir sind auf dem Weg.
    Pilgernde bis in die Ewigkeit.
    Hoffen mit auf den lebendigen Gott.
    Hoffen, dass wir teilhaben am Segen:
    Herr Zebaoth,
    wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt.

    Ein „Ich seh, was, was du nicht siehst!“
    Amen

  • Welche der Geist treibt, die sind Gottes Kinder – Predigt zu Römer 8,14-17

    Predigt am 01. September 2024 in Nehren und Ofterdingen

    Hören wir auf unseren Predigttext aus Römer 8, 14-17 

    14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. 
    15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! 
    16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. 
    17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.

    Lutherbibel 2017

    Welche der Geist treibt, die sind Gottes Kinder. Nehmen wir einmal dies als Leitsatz unserer Überlegungen.  
    Und stellen uns die Frage:  
    Was treibt mich eigentlich an?  
    Lust, Frust?  
    Angst, Gier, Geiz oder Geist?  Und wenn Geist:  
    Was ist Geist?  
    Gibt es nur einen? Oder mehrere?  
    Und wenn: Welcher von den vielen Geist-en treibt mich an?  Ist es der Geist Gottes? Und wenn ja, woran erkenne ich den dann? 

    Paulus unterscheidet hier verschiedene Geister und sagt:  
    Es gibt einerseits einen knechtischen Geist und andererseits einen kindlichen Geist.  Er erklärt nicht, was den knechtischen Geist ausmacht, aber es fällt einem ja auch so etwas dazu ein:  Was macht knechtischen Geist aus?  
    Nun. Ein Knecht oder Sklave hat ja nicht die Wahl, er ist gebunden durch Zwang und Gewalt, er kann nicht anders – er muss.  
    Ein Sklavengeist oder knechtischer Geist ist also der Geist eines Menschen, der unfrei ist.  
    Ob er will oder nicht, er muss. 

    Ein Zeichen dieser Unfreiheit kann Unruhe sein, Unzufriedenheit.   Ein Mensch, der nie genug hat, dem man es nie recht machen kann.  Der mit sich und der Welt unzufrieden ist, im Unfrieden ist.  
    Der an seinen unsichtbaren Gitterstäben rüttelt, auf und ab tigert wie ein Tier im Käfig.  
    An seine Ketten reibt.  
    Rastlos, ratlos, respektlos, ruhelos. 

    Ein anderes Zeichen kann auch Lieblosigkeit sein.   Lieblosigkeit, Geringschätzung – mangelnde Achtsamkeit im Umgang mit anderen genauso wie im Umgang mit mir selbst.  Ein Sklave gehört sich nicht, also warum sollte er auf sich achten?  
    Weil es sich so gehört?   Und was hätte er davon, wo er sich nicht hat? 

    Ein weiteres Zeichen der Abhängigkeit ist mangelnde Ausgeglichenheit. 
    Das Leben in Extremen, entweder Dumpfheit, Apathie, wenn alles egal ist und einem der Antrieb fehlt. Aber auch das Gegenteil: leichte Reizbarkeit, die Ablehnung aller Änderungsvorschläge bis hin zur Aggressivität. Typische Abhängigkeiten in unserer Gesellschaft sind Alkohol und Tabletten.  Wenn ich nicht mehr ohne kann:  einschlafen, aufstehen, fröhlich sein…  Dann werfe ich was ein.  
    Verstärkt kommen jetzt Computer und Handy dazu, wenn ich stundenlang vor irgendwelchen Spielen hänge oder das Smartphone nicht mehr weglegen kann. Alle paar Minuten drauf gucken muss. 

    Nicht immer weiß der Abhängige, dass er abhängig ist. Der Prozess der Gewöhnung beginnt mit kleinen Gewohnheiten.  
    Gewohnheiten sind anfangs wie Spinnfäden. 
    Später fesseln sie wie Seile.  
    Am Ende sind sie Ketten.  Daher fällt dem Getriebenen sein Getriebensein gar nicht selber auf.  Dem Handy-Süchtigen seine Handy-Sucht.  
    „Nu leg doch mal das Ding weg!“  
    Ja, ja. Sagen sie, tun es dann weg, um es schwupps ein paar Minuten später wieder in der Hand zu haben.  Eine junge Frau in Berlin hat als Selbsterfahrungs-Experiment zwei Wochen bewusst auf ihr Smartphone verzichtet.  Sie hat einen Bericht darüber verfasst und sagt:  Es war für mich die Hölle.  
    Ich war unruhig und fühlte mich wie abgeschnitten. Das, so lautete ihr Fazit: „will ich nie wieder erleben!“ 

    Für Paulus wäre das ein knechtischer Geist.  Ein Geist, der nicht frei ist, etwas zu tun oder auch zu lassen.  
    Stets von innerer Unruhe geprägt und von Ängsten getrieben.  
    Angst, etwas zu verpassen,  
    Angst, was die anderen jetzt gerade denken und machen, ob sie gar etwa lachen – ohne mich – über mich… Schreck-lich! 

    Typisch für den Knechtsgeist ist die Abhängigkeit und die Maßlosigkeit.  
    Ob Alkohol oder Handy-Sucht, es ist immer zu wenig, oft zu viel, aber nie genug.  
    Immer zu wenig, auch wenn ich schon x-mal drauf geguckt hab, gleich nach dem Aufwachen und dann immer wieder, mehrmals am Tag, mehrmals die Stunde, eigentlich viel zu oft – und doch nie genug.  Nie ist es genug.  
    Das ist das Wesen des Knechtsgeist. 

    Ganz anders ist es bei euch, schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom:  
    Welche der Geist treibt, die sind Gottes Kinder.  
    Nicht seine Sklaven.  
    Welche der Geist treibt…  Auch sie sind gebunden aber nicht in Ängsten und Zwängen, sondern in Liebe und Vertrauen.  Wie kleine Kinder, die glauben, hoffen und erwarten dürfen, dass ihre Eltern für sie sorgen, ihnen helfen, es gut mit Ihnen meinen,  Entscheidungen für sie treffen, sie ermuntern, ermahnen, sie trösten und in den Arm nehmen.  So, sagt Paulus, ist Gott für uns.  
    Und das nennt er den kindlichen Geist, den wir uns bewahren sollen.  
    Die Zeichen des kindlichen Geistes sind eben nicht Unruhe, Abhängigkeit und Maßlosigkeit.  Sondern im Gegenteil:   
    Liebe, Heiterkeit und Freude –   
    Geduld und Gelassenheit –   
    Mut, Hoffnung, Vertrauen  
    und vor allem Dankbarkeit. 

    Dankbarkeit ist mehr als Bitte und Danke sagen.  
    Das ist nur Höflichkeit.  
    Es ist auch mehr als bloß Zufriedenheit.  
    Es gibt Menschen, die sagen:  
    „Danke, wir sind zufrieden.“  Aber Zufriedenheit sieht nur sich selbst.  
    Dankbarkeit hat ein viel weiteres Herz.  Es geht nicht nur darum, dass es mir gut geht.  
    Ich kann, wenn ich bete und dabei an andere denke, nicht nur für sie oder für mich bitten. 
    Auch wenn ich Gott mein Leid klage und ihn um Kraft und Geduld bitte, kann ich auch für andere danken. Und das ist ja viel mehr als: Ich bin zufrieden. 

    Dankbarkeit ist nicht auf Personen beschränkt.   Es gibt so vieles, was mir Freude schenkt – und für das ich Gott danken kann. Gott danken will: Danke für dieses Haus,  
    das Dach darüber, 
    die Dohlen darauf,  
    den Himmel und die Wolken darüber  
    und die Sonne, die darauf scheint.   Danke für Eltern und Kinder. 
    Danke für den Nachbarn nebenan,  
    den Freund, die Freundin.   Danke für die Blumen und das Rattern der Rasenmäher.  
    Die Regenwürmer und das Gewitter gestern Nacht. Danke für die Dunkelheit, die zu mir spricht,   Danke für Farben und Wärme und Licht. 

    Dankbarkeit ist mehr als nur Spaß haben und dem Lustprinzip gehorchen:   „Meide den Kummer und meide den Schmerz“ 
    Ist das Leben ein Scherz?  
    Nein. 

    Dankbarkeit ist eine tiefe Verbundenheit mit Gott.  
    Mit allem, was er geschaffen hat.  Von dem er einst am Tag der Schöpfung sagte:  
    Siehe, es ist sehr gut.  Verbundenheit mit allem.  Verbundenheit auch untereinander – das kennzeichnet die Kinder Gottes.  Das unterscheidet sie von den Gebundenen, die sich nur selbst sehen können.  Ihre Sorgen. Ihre Ängste.  Ich, ich, ich. 

    Vergesst euere Sorgen, sagte schon Jesus zu seinen Jüngern.  
    Seht die Vögel im Himmel und die Blumen auf dem Feld – wie prächtig sie gekleidet sind.  Also lasst eure Sorgen Sorgen sein. 
    Lasst eure Ängste Ängste sein. 
    Lasst euer Nachrichten Nachrichten sein.  Und hebt einmal den Kopf und seht euch um. 

    Wer weiß, was ihr dann seht?  Vielleicht ist gerade heute ein bisschen Schönheit zu erhaschen. Ein Augenblick, ein Moment nur, der nur euch gehört und euch ganz allein.  Es ist Sonntag.  Ihr habt Zeit. Lasst euch treiben, nicht antreiben.  Hebt den Kopf und habt im Blick:  
    Wie schön doch diese Erde ist, was für ein wunderbarer Planet, ein Paradies.  Und wir mittendrin.  Wie schön, dass wir Gottes Kinder sind.