Kategorie: Predigt

  • Gnade, die mich trägt – selbst mich!

    Gnade, die mich trägt – selbst mich!

    Predigt zu 1. Timotheus 1,12–17 für den 3. Sonntag nach Trinitatis in Grötzingen


    Liebe Schwestern und Brüder,
    es gibt Verse in der Bibel, die treffen uns ins Herz.
    Nicht weil sie schwer zu verstehen wären – sondern weil sie so ehrlich sind.
    So echt.
    So menschlich.

    Heute hören wir solche Verse.
    Paulus, der Apostel, blickt zurück auf sein Leben.
    Er bezieht sich auf die Begebenheit, die wir in der Schriftlesung gehört haben.

    Er schaut zurück mit einer Ehrlichkeit, die beschämt – und zugleich tröstet.
    Hören wir aus dem ersten Timotheusbrief Kapitel 1 nach der Neuen Genfer Übersetzung.

    Der Predigttext (1. Tim 1,12–17):

    Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, dass er mir die Kraft gegeben hat für die Aufgabe, die er mir anvertraut hat.
    Denn er hat mich für vertrauenswürdig gehalten und mich in seinen Dienst genommen – mich, der ich früher ein Lästerer und Verfolger und Gewalttäter war.
    Aber Gott hat sich über mich erbarmt, weil ich in meinem Unglauben nicht wusste, was ich tat.

    Die Gnade unseres Herrn aber hat mich überflutet – zusammen mit dem Glauben und der Liebe, die ihre Grundlage in Jesus Christus haben.
    Ja, es ist ein wahres Wort und verdient unser volles Vertrauen:
    „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten.“ – Und ich bin der Schlimmste von ihnen!
    Doch gerade deshalb hat sich Gott über mich erbarmt: Jesus Christus wollte an mir als Erstem zeigen, wie unendlich groß seine Geduld ist.

    Ich sollte ein Beispiel sein für alle, die später an ihn glauben und das ewige Leben erhalten werden.
    Dem ewigen König, dem unvergänglichen, unsichtbaren und alleinigen Gott gebührt Ehre und Herrlichkeit für immer und ewig! Amen.

    I. „Ich war ein Verfolger“ – und nun: ein Zeuge der Gnade

    Was für ein Bekenntnis!
    Paulus sagt nicht:
    Ich war ein bisschen vom Weg abgekommen.

    Er sagt:
    Ich war ein Lästerer, ein Verfolger, ein Gewalttäter.
    Ich habe Gottes Gemeinde bekämpft.
    Ich war gegen Christus selbst.

    Und dann kam Gottes Gnade – wie ein Lichtstrahl ins Dunkel.

    Paulus wird nicht durch Leistung gerettet.
    Nicht, weil er es irgendwann eingesehen hätte.
    Sondern weil Gott sich über ihn erbarmt hat.

    Und Paulus bleibt dabei nicht stehen.
    Er macht seine Geschichte öffentlich – damit andere Hoffnung schöpfen können.
    Er sagt:
    „Guckt mich an. Wenn Gott mich rettet – dann ist niemand verloren.“

    II. Gnade in der Dichtung – Fausts letzter Augenblick

    Diese Erfahrung, dass Gnade auch den „Ersten der Sünder“ rettet, kennt nicht nur die Bibel.
    Als ich den Predigttext das erste mal las – da dachte ich – das kenn ich doch.
    Das erinnert mich doch an Goethes Faust.

    Als wir den Faust in der Schule lesen mussten,
    freiwillig hätte ich es sicherlich nicht getan,
    da war ich fasziniert.

    Da steh‘ ich nun, ich armer Tor. Und bin so klug als wie zuvor!
    Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr‘
    Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum –
    Und sehe, daß wir nichts wissen können!

    Das sprach mir als Schüler aus der Seele.

    Faust – dieser rastlose Gelehrte – will das Leben begreifen, das Wesen der Dinge durchdringen.
    Faust ist verzweifelt. 
    Da kommt der Teufel ins Spiel.
    Der Teufel bietet Faust an, dass er ihm alle Wünsche erfüllen würde.
    Der Teufel verspricht Faust Zufriedenheit und Seelenruhe.

    Natürlich ist nichts umsonst.
    Vor allem nicht bei einem Deal mit dem Teufel.
    Als Gegenleistung verlangt Mephistopheles von Faust, dass dieser ihm nach seinem Tod seine Seele überlässt. Das kennt man ja.
    Anstatt den Pakt einfach anzunehmen, schlägt Faust eine Wette vor. 
    Wenn es Mephistopheles gelingt, Faust zur Selbstzufriedenheit zu verführen, dann soll seine Seele dem Teufel gehören.

    »Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!«

    Im weiteren Verlauf der Geschichte verführt Faust Gretchen.
    Das führt zu einer Reihe von Tragödien:
    Gretchens Mutter und Bruder sterben.
    Gretchen bringt ihr Kind zur Welt und tötet es, und sie wird dashalb zum Tode verurteilt.

    Somit hat Faust Tod und Schuld auf dem Gewissen.
    Faust ist ein Sünder. Und kein kleiner.
    Und doch – am Ende des zweiten Teils – wird Faust gerettet.
    Nicht, weil seine Taten gerecht waren.
    Nicht, weil er Buße getan hat.

    Sondern weil er immer gerungen hat.
    Weil sein Herz nicht völlig dem Bösen verfallen war.
    Engel holen ihn zu Gott.
    Und es heißt über ihn:

    „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

    Das ist eine dichterische Version dessen, was Paulus in seinem Brief bekennt:

    „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten – und ich bin der erste von ihnen.“

    III. Was macht Gnade aus?

    Was haben Faust und Paulus gemeinsam?

    Beide sind Zeichen der Hoffnung.
    Sie zeigen:
    Gnade ist kein Verdienst.
    Gnade ist immer möglich.
    Gnade ist gerettetes Leben.
    Gnade ist kein Schwamm drüber.
    Gnade nimmt die Schuld ernst.
    Aber sie lässt Menschen nicht in ihrer Schuld allein zurück.
    Gnade hebt die Menschen wieder auf.
    Gnade richtet die Menschen neu aus.
    Gnade gibt wieder Zukunft.

    IV. Und wir?

    Wenn wir diesen Text hören, dann geht es auch um uns.

    Vielleicht nicht mit den großen Abgrün den eines Paulus oder Faust.
    Aber wir alle kennen unsere dunklen Stellen im eigenen Leben.
    Worte, die wir nicht zurücknehmen können.
    Beziehungen, die zerbrochen sind.
    Verantwortung, der wir nicht gerecht wurden.
    Und in diesem Schmerz können wir mit Paulus hoffen:

    „Die Gnade unseres Herrn hat mich überflutet.“

    Dann ist die Gnade wie eine Welle – nicht sanft und still, sondern gewaltig und stark.
    Sie reißt mit – raus aus der Verzweiflung, hinein in ein neues Leben.

    V. Ein Beispiel – auch für andere

    Paulus sagt: Gott hat mich gerettet – um an mir ein Zeichen zu setzen.
    Ein Zeichen dafür, dass niemand zu tief fallen kann.
    Dass Gottes Geduld größer ist als jede Schuld.

    Das ist die Mitte des Evangeliums.
    Und es ist die Mitte unseres Glaubens.

    VI. Und darum: Lob

    Liebe Geschwister,
    wir leben von der Gnade.
    Nicht irgendwann, sondern heute.
    Nicht theoretisch, sondern ganz real.

    Wenn Faust gerettet wird –
    wenn Paulus zum Zeugen wird –
    dann gilt das auch uns:

    Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten –
    und wir sind eingeladen, genau diese Rettung zu empfangen.

    So wie der Predigttext endet – so möchte auch ich enden:

    „Dem ewigen König, dem unvergänglichen, unsichtbaren und alleinigen Gott gebührt Ehre und Herrlichkeit für immer und ewig!
    Amen.“

    Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt EG 611, 1-3

    Gnade ist kein Schwamm drüber.
    Gnade nimmt die Schuld ernst.
    Aber sie lässt Menschen nicht in ihrer Schuld allein zurück.
    Gnade hebt die Menschen wieder auf.
    Gnade richtet die Menschen neu aus.
    Gnade gibt wieder Zukunft.

    IV. Und wir?

    Wenn wir diesen Text hören, dann geht es auch um uns.

    Vielleicht nicht mit den großen Abgründen eines Paulus oder Faust.
    Aber wir alle kennen unsere dunklen Stellen im eigenen Leben.
    Worte, die wir nicht zurücknehmen können.
    Beziehungen, die zerbrochen sind.
    Verantwortung, der wir nicht gerecht wurden.
    Und in diesem Schmerz können wir mit Paulus hoffen:

    „Die Gnade unseres Herrn hat mich überflutet.“

    Dann ist die Gnade wie eine Welle – nicht sanft und still, sondern gewaltig und stark.
    Sie reißt mit – raus aus der Verzweiflung, hinein in ein neues Leben.

    V. Ein Beispiel – auch für andere

    Paulus sagt: Gott hat mich gerettet – um an mir ein Zeichen zu setzen.
    Ein Zeichen dafür, dass niemand zu tief fallen kann.
    Dass Gottes Geduld größer ist als jede Schuld.

    Das ist die Mitte des Evangeliums.
    Und es ist die Mitte unseres Glaubens.

    Gottes Geduld größer ist als jede Schuld.
    Das tröstet und macht frei.

    Freiheit für einen Neuanfang.
    Freiheit zur Vergebung unseren Schuldigern.
    Freiheit zum Scheitern.

    VI. Und darum: Lob

    Liebe Geschwister,
    wir leben von der Gnade.
    Nicht irgendwann, sondern heute.
    Nicht theoretisch, sondern ganz real.

    Wenn Faust gerettet wird –
    wenn Paulus zum Zeugen wird –
    dann gilt das auch uns:

    Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten –
    und wir sind eingeladen, genau diese Rettung zu empfangen.

    Denn die Liebe Gottes, die höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Chritus Jesus bewahren.

    Und so wie der Predigttext endet – so möchte auch ich enden:

    „Dem ewigen König, dem unvergänglichen, unsichtbaren und alleinigen Gott gebührt Ehre und Herrlichkeit für immer und ewig!
    Amen.“

  • Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

    Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

    Predigt zu Johannes 5,39–47 am 1. Sonntag nach Trinitatis in der Nürtinger Lutherkirche am 22.06.2025

    Liebe Geschwister,
    es ist eine irritierende Szene, die Johannes uns überliefert:
    Menschen, die in den Schriften nach dem ewigen Leben suchen und dabei an dem vorbeigehen, der das Leben selbst ist.
    Der, der Leben schenkt, steht vor ihnen
    und sie schlagen die Tür zu.

    1. Gutes Tun – Verfolgung erfahren

    Dieser Text ist 2000 Jahre alt.
    Er beschreibt die Reaktion Jesu auf den Vorwurf, dass er Gottes Wille mißachte, weil er am Sabbat einen Menschen geheitl hat.
    Ich bin mir sicher:
    Die Szene, die Johannes beschreibt, ist bis heute aktuell.
    Wie oft eckt gutes Tun an bestehenden Traditionen an.
    Dann rückt das Gute in den Hintergrund und der Verstoß gegen die guten Sitten in den Vordergrund.

    Das ist kein rein biblisches Phänomen.
    Victor Hugo hat das im 19. Jahrhundert eindrücklich beschrieben:
    In seinem Roman Les Misérables stiehlt Jean Valjean ein Brot –
    nicht aus Gier, sondern um seine hungernde Familie zu retten.
    Doch dieser Akt der Fürsorge wird als Verbrechen verurteilt.
    Er wird gebrandmarkt, weggesperrt, lebenslang verfolgt –
    nicht weil er böse war, sondern weil er gegen die Ordnung handelte.

    Was zählt mehr: Das Leben eines Kindes – oder das Gesetz?
    Was zählt mehr: Gerechtigkeit – oder das Einhalten der Form?

    Diese Frage stellt sich bis heute.

    Auch heute geraten Menschen in Verruf,
    weil sie das Richtige tun – aber nicht so, wie es vorgesehen ist.
    Man denke an die Seenotretterinnen und -retter im Mittelmeer:
    Sie retten Ertrinkende vor dem Tod.
    Und doch werden sie angeklagt, verurteilt, kriminalisiert.
    Warum?
    Weil sie gegen bürokratische Vorgaben oder politische Interessen handeln.
    Weil sie nicht wegschauen – sondern handeln.
    Weil sie Leben retten, wo andere sich abschotten.

    So wird das Gute verdächtig.
    Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
    Die Wahrheit wird unbequem.

    Jesus sagt:
    „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt.“
    Aber er weiß auch:
    Das Leben ist nicht immer konform.
    Die Liebe geht manchmal Umwege.
    Die Wahrheit sprengt oft unsere Normen.

    So wird das Gute verdächtig.
    Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
    Die Wahrheit wird unbequem.

    Und genau das zeigt Jesus in unserer Bibelstelle:
    Er heilt – und wird dafür verurteilt.
    Er rettet – und wird dafür abgelehnt.
    Weil er nicht ins Schema passt.
    Weil seine Wahrheit nicht mit der gewohnten Ordnung übereinstimmt.

    Ich finde:
    Diese Stelle im Johannesevangelium ist keine historische Fußnote.
    Sie ist ein Spiegel.
    Ein Spiegel in unserer Zeit.
    Ein Spiegel für uns.
    Für unseren Umgang mit der Wahrheit.
    Für unsere Gottesbeziehung.

    2. Wahrheit erkennen – oder bestätigen wollen?

    „Ihr meint, in den Schriften habt ihr das ewige Leben – und sie sind es, die von mir zeugen“, sagt Jesus.
    Das klingt zunächst gar nicht falsch.
    Wer in der Bibel liest, sucht doch nach dem, was trägt.
    Sucht nach Orientierung, nach Leben.

    Aber Jesus macht deutlich:
    Suchen reicht nicht!
    Jesus stellt uns entscheidente Frage:
    Bin ich bereit, der Wahrheit zu begegnen? Auch wenn sie mich in Frage stellt?

    Und diese Wahrheit ist nicht ungefährlich.
    Sie legt offen, wo wir versagt haben.
    Wo wir uns selbst genug waren.
    Wo wir uns lieber bestätigen als verändern lassen wollen.

    Jesus macht deutlich:
    Die Wahrheit Gottes hat ein Ziel: Das ewige Leben, die lebendige Beziehung.
    Es geht nicht um Wissen – sondern um Wandlung.
    Es geht nicht um Argumente – sondern um Begegnung.
    Begegnung nicht nur mit Gott, sondern auch mit den Mitmenschen.
    „Was ihr dem geringsten meiner Brüder/Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“
    Auch das stammt von Jesus

    3. Ehre suchen – aber wo?

    Jesus sagt:
    „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die vom einzigen Gott kommt, nicht sucht?“

    Das ist entlarvend.
    Denn es trifft einen wunden Punkt – auch noch heute.
    Wir richten uns oft nach dem, was andere von uns denken.
    Wir suchen Anerkennung.
    Wir suchen Zustimmung.
    Wir suchen Klickzahlen.
    Selbst im Glauben kann es geschehen, dass wir nur das hören wollen, was uns bestätigt.
    Was in unserer Blase, unserer Umgebung, unserer Gemeinde als Wahr angesehen wird, wird schnell zur einzigen Wahrheit.
    Und alles andere?
    Wird aussortiert.

    Das macht es einfach.
    Wir blenden das Unpassende aus.
    Wir sortieren das für uns Passende als Wahr ein und verteufeln das Unpassende als fake news.
    Aber echte Wahrheit.
    Die göttliche Wahrheit.
    Die ist oft unbequem.
    Denn sie fragt: Wem willst du gefallen – Menschen oder Gott?

    Gottes Wahrheit ist keine Waffe.
    Sie ist keine Waffe in Debatten, sondern eine Kraft, die verwandelt.
    Sie will nicht verletzen, sondern heilen.
    Sie zeigt uns wer wir wirklich sind.
    Sie zeigt uns unsere Unvollkommenheit.
    Unsere Fehler.
    Unseren Unglauben.
    Unsere Zweifel.
    Aber sie zeigt uns auch:
    Du bist ein von Gott geliebtes Gotteskind

    Das ist die Kraft, die aus der Wahrheit Leben macht: Gottes Liebe.
    Eine Liebe die sagt: „Ich bin da. Bei dir. Ich bin unverrückbar in meiner Treue zu dir!“

    4. Gottes Wahrheit verändert – aber sie zwingt nicht

    Jesus sagt: „Ich nehme keine Ehre von Menschen. Ich bin gekommen im Namen meines Vaters, und ihr nehmt mich nicht an.“

    Gott zwingt sich niemanden auf.
    Seine Wahrheit will nicht niederdrücken.
    Seine Wahrheit will aufrichten.

    Sie ist nicht laut.
    Sie ist beharrlich.
    Sie klagt an – um zu befreien.

    Mose wird zum Ankläger, durch die Gebote Gottes.
    Wer kann alle Gebote immer halten.
    Wie schnell geraten wir in Schuld.
    Jesus klagt nicht an.
    Er hat unsere Schuld auf sich genommen.
    So wird die Schrift zum Spiegel.
    Nicht um zu verdammen, sondern um zu erinnern:
    Du bist mehr als dein Scheitern.
    Darum frage dich:
    **Woran hängt mein Herz?
    Wo suche ich Leben?
    Aber ich finde nur Leistung, Meinung, Bestätigung.

    5. Wahrhaftig leben – geistlich wachsen

    Wer in Wahrheit leben will, muss lernen, vor Gott zu bestehen – nicht vor den Menschen.
    Und das bedeutet oft:
    Kritik annehmen.
    Sich korrigieren lassen.
    Neu anfangen.
    Das ist ein aktiver Prozess.
    Es reicht nicht, dass wir einmal bei der Konfirmation oder der Taufe ja gesagt haben.
    Es geht darum, dieses Ja täglich zu leben.
    In Wahrheit.
    In Wahrhaftigkeit.
    Im Ringen mit uns selbst,
    mit Gott,
    mit unserer Berufung als Christinnen und Christen.

    6. Die Gemeinde: Ort der Wahrheit und der Gnade

    Eine Gemeinde, die sich an Jesus orientiert, ist keine Gemeinschaft der Perfekten.
    Sie ist Raum für Suchende, für Verletzte, für Lernende.
    Jesus ist nicht sauer.
    Jesus ist nicht enttäuscht, weil wir Fehler machen.
    Er ist traurig, wenn wir nicht zu ihm kommen.
    Wenn wir ihn ignorieren, weil wir glauben, es allein schaffen zu müssen.

    Wir brauchen eine Gemeinschaft, die Mut macht, uns dem Spiegel zu stellen.
    Wir brauchen eine Gemeinschaft, die zugleich bezeugt:
    „Du bist geliebt.
    Du bist wertvoller als alles Gold der Welt.“

    Dann wird die Wahrheit nicht hart sein, sondern heilend.

    7. Was bleibt?

    Was bleibt – nach dieser Begegnung mit Jesu Worten?

    Vielleicht keine schnelle Antwort.
    Vielleicht eher ein leises Innehalten.
    Ein Staunen.
    Oder auch ein Schmerz.

    Denn Jesu Wahrheit ist keine These.
    Sie ist eine Stimme.
    Eine Stimme, die ruft: „Komm. Ich sehe dich. Ich will dir Leben schenken.“

    Und diese Stimme fragt nicht zuerst:
    „Was hast du geglaubt?“
    Sondern: „Wem bist du begegnet?“

    Nicht: „Was hast du richtig gemacht?“
    Sondern: „Wo hast du dich lieben lassen?“

    Was bleibt?

    Ein Gott, der nicht fordert, sondern einlädt.
    Ein Gott, der nicht anklagt, sondern aufrichtet.
    Ein Gott, der nicht fern ist – sondern an deiner Seite.

    Er sagt nicht:
    „Du bist falsch.“
    Sondern:
    „Du bist mein. Ich will, dass du lebst.“

    Und vielleicht reicht das – für heute:
    Zu wissen,
    dass ich mit meiner Sehnsucht nicht allein bin.
    Dass Gottes Wahrheit nicht trennt, sondern verbindet.
    Dass ich nicht perfekt sein muss,
    um geliebt zu sein.

    Amen.

  • Kraft für den inneren Menschen

    Kraft für den inneren Menschen

    Predigt zu Epheser 3,14–21 am Sonntag Exaudi (01.06.2025) im Nürtinger Stephanushaus.

    Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

    Hören wir gemeinsam auf unseren Predigttext aus dem Brief an die Gemeinde in Ephesus 3,14-21

    Eine Stimme in der Stille – Paulus ringt um Worte

    Es ist Nacht.
    Paulus sitzt in einer römischen Gefängniszelle.
    Eine Öllampe flackert träge.
    Draußen Stille.
    Drinnen Gedanken.
    Viele Gedanken.

    Er hat lange gebetet.
    Hat gerungen.
    Mit den Worten.
    Mit sich. Mit Gott.

    Und jetzt, da der Brief fast fertig ist, bleibt ein letzter Gedanke offen.
    Keine Anweisung mehr.
    Kein Lehrtext. Kein Appell.
    Sondern ein Gebet. Ein letztes großes Gebet.

    Und er spürt:
    Es muss alles sagen.
    Alles enthalten.
    Alles tragen, was er der jungen Gemeinde mitgeben will – in einer Zeit voller Unsicherheit, voller Herausforderungen.

    „Was soll ich euch schreiben, ihr Brüder und Schwestern in Ephesus?“, denkt er.

    „Was kann ich euch wünschen – von Herzen, mit ganzer Kraft, mit allem Glauben?“

    Und so beugt er langsam seine Knie – obwohl er weiß, wie unüblich das ist – und beginnt zu beten.
    Nicht für sich.
    Für sie.
    Für uns.

    1. Kraft für den inneren Menschen

    „Er gebe euch Kraft nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen.“

    Paulus schließt die Augen.

    Er denkt an ihre Gesichter.

    Die Händler, die Witwen, die jungen Christen, die voller Fragen sind.

    Was brauchen sie?

    Schutz? Einfluss? Sichtbarkeit?

    Nein.

    Sie brauchen etwas Tieferes.

    Sie brauchen Kraft – innen.

    Nicht Macht, nicht Glanz, sondern Geisteskraft.

    Denn er weiß:

    Der äußere Mensch kann gesund sein, wohlhabend, gebildet – und doch kann innen Leere sein.

    Müdigkeit. Verzweiflung. Sehnsucht.

    „Herr“, denkt Paulus, „stärke sie dort, wo keine Hand mehr hinreicht. Im Herzen, in der Seele.“

    Diese Bitte bleibt auch heute aktuell.

    Wir leben in einer Welt, die an der Oberfläche lebt – mit Instagram-Glanz und Selbstoptimierungsratgebern.

    In dieser Welt klingt das fast fremd:

    Kraft für den inneren Menschen.

    Aber es ist genau das, was so viele brauchen:

    Kraft, die nicht blendet, sondern trägt.

    Die nicht antreibt, sondern beruhigt.

    Kraft, die nicht überfordert, sondern hält.

    2. Christus wohne in euren Herzen – dauerhaft

    Paulus hält inne.
    Seine Feder schwebt über dem Pergament.

    Wohnen – nicht besuchen.
    Das ist der Unterschied.
    „Dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne…“
    Ein Zuhause.
    Kein Hotel.
    Kein Feiertagsgast.
    Sondern bleibende Gegenwart.
    „Viele Menschen sind innerlich heimatlos“, denkt Paulus.
    „Sie haben kein geistliches Zuhause. Keine Beständigkeit. Kein Gegenüber, das bleibt, wenn alles andere geht.“

    Wenn Christus Wohnung nimmt im Herzen, dann beginnt ein anderes Leben.
    Dann ist immer jemand da, der morgens schon da ist – und abends bleibt.
    Einer, der zuhört, wenn niemand mehr fragt.
    Der trägt, wenn nichts mehr hält.
    Und der verwandelt – langsam, liebevoll, treu.

    Diese Wohnung kann nicht durch Pflicht entstehen.
    Sie beginnt mit Vertrauen.

    Mit Offenheit.
    Mit dem Mut, Christus Raum zu geben.
    Ihn hinein zu bitten – in unsere Fragen, in unsere Zweifel, in unseren Alltag.

    3. Verwurzelt und gegründet in der Liebe

    Paulus seufzt leise.
    In ihm reift der Gedanke von Wurzeln und Fundament.
    Dieses Bild hat Kraft.
    Er war viel unterwegs.
    Er hat Bäume gesehen, die sturmfest standen.
    Und Häuser, die auf Felsen ruhend, allen dem Wetter trotzten.

    „Verwurzelt und gegründet in der Liebe…“
    Es geht um Standfestigkeit.
    Nicht Starrheit. Um inneren Halt.
    Nicht um Abgrenzung.
    „Was hält einen Menschen, wenn alles ins Wanken gerät?“, fragt er sich.

    Beziehungen zerbrechen.
    Sicherheiten schwinden.
    Ideale verblassen.
    Und dann?

    Gottes Liebe ist kein flatterhaftes Gefühl.
    Sie ist Erde unter den Füßen.
    Fels unter dem Haus.
    Tiefe Wurzeln in der Erde.

    Diese Liebe urteilt nicht nach Leistung.
    Sie bleibt – auch in der Krise.
    Auch im Versagen.
    Auch im Glaubenszweifel.

    Heute ist das ein kraftvolles Gegenbild zu unserer Zeit.
    Wer verwurzelt ist, wächst anders.
    Tiefer. Freier. Stabiler.
    Es lohnt sich, das eigene Fundament zu hinterfragen.
    Und neu zu bauen – auf Christus.

    4. Die vier Dimensionen der Liebe Christi – erfassen mit allen Heiligen

    Jetzt wird das Gebet groß.
    Überwältigend groß.

    „… dass ihr begreifen möget… wie groß, wie weit, wie tief, wie hoch die Liebe Gottes ist“

    Die Liebe Christi kennt keine Maße.
    Kein Ende.
    Kein Maßband reicht zum Vermessen.

    Aber Paulus sagt nicht: „Versteht es gefälligst. Macht das mit euch aus.“
    Sondern:
    „mit allen Heiligen“.

    Glaube ist kein Solo.
    Kein Ego-Projekt.

    Glaube lebt in Gemeinschaft.
    In Dialog.
    Im Miteinander.

    Paulus denkt an Lydia, an Timotheus und an die namenlosen Glaubenden in Ephesus.
    Paulus glaubt an uns.
    An eine große, unsichtbare Gemeinschaft durch Raum und Zeit.

    Diese Liebe Christi – sie sprengt unsere Vorstellungen.
    Und doch können wir sie ein Stück weit erfassen. Im Abendmahl.
    In einem Lied. In der Stille.
    Im Trost eines Menschen.
    In einer Umarmung.
    Im Aufatmen nach dem Gebet.

    Und ja – gerade dann, wenn wir gemeinsam glauben.
    Wenn wir uns gegenseitig helfen zu sehen.
    Wenn wir gemeinsam spüren.
    Gemeinsam hoffen.

    5. Erfüllt werden mit Gottes ganzer Fülle

    Jetzt wird Paulus selbst klein – angesichts der Größe seiner Bitte.

    „Gottes ganze Fülle – in uns?“
    Wie soll das gehen?

    Er weiß: Eigentlich nicht.
    Und doch: Bei Gott ist nichts unmöglich.

    „Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen…“

    Gott handelt größer.
    Weiter. Tiefer. Liebevoller.
    Gerade darin liegt Hoffnung.

    Nicht alles muss ich verstehen.
    Aber ich darf bitten.
    Groß bitten.
    Voll Vertrauen.

    Auch wir dürfen das.
    Wir dürfen uns nach Fülle sehnen.
    Nach heilender Nähe.
    Nach einer Gegenwart, die unsere Leere füllt – und unsere Sehnsucht nicht enttäuscht.
    Wir dürfen darauf vertrauen.
    Das ist Hoffnung.
    Das ist Glaube in größter Tiefe.

    6. Schlussbild: Der letzte Satz in der Nacht

    Paulus legt die Feder zur Seite.
    Schließt die Augen.
    Die Worte stehen da.
    Fast wie ein Lied.
    Ein Lobpreis.
    Kein bloßes Gebet mehr.

    Er weiß nicht, ob er die Gemeinde je wiedersieht.
    Aber er weiß: Dieses Gebet bleibt.
    Es trägt. Es lebt.
    Und auch wir dürfen darin stehen.
    Darin leben. Darin beten.

    Exaudi – Höre, Herr!
    Das ist ein Ruf, der aus der Tiefe kommt.
    Ein Gebet, das ringt und zugleich ruht.
    Eine Bitte, die offen ist für Kraft.
    Für Nähe. Für Liebe.
    Für das, was trägt.
    Es ist ein Ruf getragen vom Vertrauen:
    Herr, Gott, Du hörst.
    Du bist da.
    Du wirkst.
    In uns. Mit uns. Über uns hinaus.

    Deshalb: Wir dürfen Beten.
    Groß. Weit. Tief.
    Auch als Schrei.

    Lassen wir uns dadurch stärken.
    Öffnen wir unser Herz.
    Lassen wir Christus darin wohnen.
    Damit wir – gemeinsam mit allen Glaubenden – etwas von dieser unfassbaren Liebe begreifen. Und durch sie verwandelt leben.

    Amen.

  • Thomas erinnert sich

    Thomas erinnert sich

    Eine Predigt zu Johannes 16,23b – 28.33 (Rogate) in der evangelischen Kirche Pfrondorf

    Der Predigttext ist aus dem Evangelium des Johannes. Kapitel 16
    Jesus spricht zu seinen Jüngern bevor er gefangen genommen wird.

    Johannes 16,23b-33

    Jahre später erzählt Thomas, einer der Jünger, seinen Enkeln von diesem Ereignis:

    Kommt her, Kinder. Kommt näher.
    Die Sonne geht gleich unter, aber es ist noch genug Licht.
    Wenn ihr still seid, erzähl ich euch eine Geschichte.
    Nicht irgendeine.
    Eine wahre.
    Eine von denen, die ich nie vergessen habe.

    Ihr nennt mich den Zweifler, ich weiß.
    Thomas, der Zweifler.
    Ich habe lange gebraucht, um zu glauben.
    Aber an jenem Abend… an jenem Abend habe ich etwas erlebt, das hat sich wie ein Brandmal in mein Herz gelegt.

    Es war die Nacht vor der Katastrophe.
    Wir waren mit Jesus zusammen.
    Der Tisch war gedeckt, Brot und Wein standen bereit.
    Aber es war anders als sonst.
    Eine Schwere lag über allem.
    Es war noch nichts Schlimmes geschehen.
    Aber wir spürten: Es kommt etwas.
    Etwas, das alles verändert.
    Etwas, das alles auf den Kopf stellt.

    Jesus sprach viel an diesem Abend.
    So viel, wie ich ihn selten habe sprechen hören.
    Von seinem Gehen sprach er, von der Trennung, vom Vater.
    Und immer wieder vom Gebet.

    Er sah uns an. Mit einem Blick, den ich nicht vergesse.
    Und dann sagte er:

    „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
    Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.“

    Ich weiß noch genau, wie ich innerlich stockte.
    In seinem Namen?
    Was meint er?
    Dass wir beten sollen wie er?
    Oder dass wir uns auf ihn berufen sollen?

    Was, wenn ich das nicht kann?
    Was, wenn ich nur stottern kann?
    Was, wenn ich nichts fühle?

    Aber er sprach weiter:

    „Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen.
    Bittet, so werdet ihr bekommen und eure Freude wird vollkommen sei.“

    Und da war er wieder, dieser Ton.
    Diese Zuversicht. Diese Wärme.
    Er klang nicht wie ein Lehrer, der seine Schüler auf den letzten Test vorbereitet.
    Er klang wie ein Freund, der seinen Freunden das letzte Stück Hoffnung schenken will, bevor es dunkel wird.

    Ich schaute zu ihm hin, wie er dastand. Ruhig, gefasst, voller Klarheit.
    Und ich dachte:
    Er weiß, was kommt. Und trotzdem spricht er vom Gebet. Von Freude. Vom Vater, der uns liebt.

    Das hat mich tief getroffen. Denn ich bin nicht der große Beter.
    Ich war Handwerker. Ein Mann der Taten.
    Glauben – ja. Aber Beten?
    Ich fühlte mich oft hilflos. Leer.
    Und wenn ich betete, dann war es eher tastend als gewiss.

    Aber Jesus sagte nicht: „Wenn ihr viel glaubt…“
    Er sagte: „Wenn ihr bittet.“
    Das ist etwas anderes.
    Bitten heißt: Ich traue dir zu, dass du hörst.
    Bitten heißt: Ich zeige dir, was mir fehlt. Auch wenn ich es kaum in Worte fassen kann.

    Und dann – ach, Kinder – dann sagte er einen Satz, den ich heute noch manchmal im Schlaf spreche:

    „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Nicht: „Der Vater erträgt euch.“
    Nicht: „Er duldet euch, wenn ihr brav seid.“
    Ein einfaches – er hat euch lieb.
    Das hat mich durch viele Nächte getragen.
    Als ich später floh. Als ich mich versteckte.
    Als wir dachten, alles sei aus.
    Selbst da – irgendwo im Dunkel – hörte ich seine Stimme:
    „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Später fragte ich mich:
    Warum hat er das gerade in jener Stunde gesagt?
    Warum gerade dann, als alles zu Ende zu gehen schien?

    Ich glaube, weil er wusste, wie schnell wir vergessen.
    Wie schnell wir in der Angst die Nähe Gottes nicht mehr spüren.
    Wie schnell wir meinen, alles allein tragen zu müssen.

    Er sagte:

    „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“

    Das klang damals für uns wie ein Rätsel.
    Heute sehe ich klarer: Es war sein Weg.
    Vom Vater in die Welt – und wieder zurück.
    Aber nicht leer. Nicht umsonst. Sondern mit allem, was er mitgenommen hat:
    Unsere Fragen. Unsere Schuld. Unsere Angst. Unser Staunen. Unsere Liebe.

    Und als er uns das sagte, als er davon sprach, dass er zum Vater zurückgeht – da kam für einen Moment Klarheit über uns.
    Wir dachten: Jetzt haben wir’s verstanden!
    Wir sagten:

    „Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in Gleichnissen.“

    Aber er sah uns nur an. Still. Fast traurig.
    Und dann sagte er:

    „Jetzt glaubt ihr? Siehe, es kommt die Stunde – und ist schon da –, dass ihr euch zerstreuen werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst.“

    Wie recht er hatte.
    Wir haben ihn allein gelassen.
    Ich auch.
    Ich bin weggerannt.
    Ich habe nicht geglaubt, nicht gehofft, nicht gebetet.
    Ich habe gezweifelt, geweint, geschwiegen.
    Ich war verzweifelt, mit meinem Versagen allein,

    Und trotzdem hat er mich wieder angesehen.
    Trotzdem hat er mir wieder die Hand gereicht.
    Trotzdem hat er mich nicht aufgegeben.

    Deshalb, Kinder, hört gut zu:
    Wenn ihr glaubt, ihr hättet Gott enttäuscht – denkt an mich.
    Wenn ihr meint, euer Glaube reicht nicht – denkt an mich.
    Wenn euch beim Beten die Worte fehlen – denkt an ihn.
    Er sagte: „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Und dann – zum Schluss – kam jener Satz.
    Ich habe ihn mir ins Herz geschrieben:

    „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

    Nicht: Ihr müsst euch überwinden.
    Nicht: Glaubt stärker, dann wird’s leichter.
    Sondern: „Ich habe die Welt überwunden.“

    Das hat mich verändert.
    Denn ich dachte immer:
    Ich muss kämpfen.
    Ich muss stark glauben.
    Ich muss mich beweisen.
    Aber er sagt: Ich habe es schon getan – für dich.
    Damit wir mitten in der Angst getröstet sind.
    Damit wir in der Angst und mit der Angst weiter leben können.

    Ja, Angst bleibt.
    Ich habe sie erlebt – als sie ihn festnahmen.
    Als er starb.
    Als wir zurückblieben.
    Als wir wieder anfingen, zu erzählen.
    Als der Widerstand kam. Als Freunde starben.
    Angst ist Teil unseres Lebens.

    Aber sie ist nicht mehr Herrscherin.
    Denn er hat die Welt überwunden.
    Nicht mit Gewalt. Nicht mit Macht.
    Sondern mit Liebe. Mit Gebet. Mit Hingabe.

    Deshalb, Kinder:
    Wenn ihr betet – tut es nicht, um Gott zu überzeugen.
    Betet, weil ihr wisst: Ihr seid schon geliebt.
    Betet nicht, weil ihr stark seid.
    Betet, weil er stark war – und ist.
    Betet in seinem Namen. In seinem Geist. In seinem Frieden.

    Er hat gesagt: „Eure Freude soll vollkommen sein.“
    Da muss nicht alles perfekt sein.
    Da hat auch Schmerz und Leid seinen Platz.
    Aber wir können von der Gewissheit erfüllt sein:
    Ich bin nicht allein. Ich darf zweifeln, Ich darf rufen.
    Ich werde gehört.

    Und das, Kinder, ist mehr, als die Welt uns je geben kann.

    Ich habe es erlebt.
    Ich – Thomas.
    Der Fragende. Der Späte. Der Suchende. Der Ungläubige.

    Und ich sage euch: Es ist wahr.

    „Der Vater selbst hat euch lieb.“
    „Bittet – und eure Freude wird vollkommen sein.“
    „Ich habe die Welt überwunden.“

    Amen.

  • Weisheit: Die Kraft, die durch alles geht

    Weisheit: Die Kraft, die durch alles geht


    Predigt über Sprüche 8,22–36 zum Sonntag Jubilate und Muttertag am11.05.2025 in der evangelischen Kirche Altdorf und in der St. Bernhardskirche in Neckarhausen

    Ein Funke in allem

    Stellen Sie sich vor, da war etwas – noch bevor irgendetwas war.
    Bevor es Licht gab.
    Bevor es Sterne gab.
    Bevor es die Erde gab.
    Bevor Berge und Täler.
    Bevor es Pflanzen und Tiere gab.
    Bevor irgendetwas sich drehte oder wuchs oder klang.
    Da war sie schon da: Die Weisheit.

    Nicht als abstrakte Idee.
    Sondern lebendig. Fröhlich.
    Sie sagt im Buch der Sprüche:

    „Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“

    Ich liebe dieses Bild.
    Weisheit ist nicht trocken, nicht verkopft.
    Sie spielt, ist kreativ, tanzt und ist neugierig.


    Weisheit ist Beziehung

    Das ist ein anderer Zugang zu Gott.
    Weisheit in der Bibel ist keine Theorie.
    Weisheit ist Beziehungswissen.

    Sie spürt, was trägt – zwischen uns Menschen,
    in unserer Gemeinschaft, im Glauben.

    „Wer mich findet, findet das Leben.“ (Spr 8,35)

    Hier steht nicht wer mich gefunden hat.
    Also nicht: Wer alles richtig macht.
    Sondern:
    Wer sich an der Weisheit orientiert, lebt tiefer, wacher, echter.

    Nicht: „Glaube dies und jenes.“
    Sondern: Lerne mit den Augen der Weisheit zu sehen.

    Was bringt Leben?
    Was zerstört?
    Was verbindet?
    Was trennt?
    Was trägt?

    Die Bibel sagt:

    „Wer mich findet, findet das Leben.“
    Weisheit ist nicht Wissen.
    Weisheit ist die Kunst, gut zu leben – in Beziehung mit Gott, mit anderen, mit sich selbst.


    Hildegard von Bingen – die, die hörte

    Im 12. Jahrhundert – Europa steckt noch tief im Mittelalter –
    hat eine Frau plötzlich wieder diese Stimme gehört:
    Hildegard von Bingen.
    Mystikerin, Heilkundige, Komponistin, Theologin.
    Und sie schreibt:

    „O Kraft der Weisheit, du hast drei Flügel: einer fliegt über die Erde, einer schwebt über dem Himmel, einer durchdringt alles mit deinem Leben.“

    Weisheit – nicht statisch
    Weisheit – als Bewegung.
    Als Schwingen Gottes in dieser Welt.
    Die Weisheit verbindet Himmel und Erde.
    Und die Weisheit fiegt mitten durch unser Leben.


    Schon die frühen Christen spürten: Das ist der Heilige Geist

    Schon in den ältesten Schriften der Bibel ist diese Weisheit mehr als Klugheit.
    Im Buch der Weisheit heißt es:

    „Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes, ein reiner Abglanz der Herrlichkeit des Allherrschers.“ (Weish 7,25f)

    Viele frühchristliche Theologen spürten darin die Nähe zum Heiligen Geist.
    Thomas von Aquin – ein großer Theologe des Mittelalters, der versuchte, Glauben und Denken zu verbinden – Der fragte:
    Wie wirkt Gott in dieser Welt?
    Eben nicht nur im Himmel, sondern in unserem Herzen,
    in der Schöpfung,
    im Denken?
    Für ihn ist die Weisheit ein göttliches Prinzip, das durch alles geht – ein Spiegel der göttlichen Ordnung.
    Und immer wieder deutet er: Diese Weisheit, die alles trägt, ist der Heilige Geist – Gottes lebendige Gegenwart eben in dieser Welt.

    Und das hat mit uns zu tun..
    Wenn wir fragen?

    Was trägt?
    Was gibt Orientierung?_
    Was hilft mir?
    Zwischen all den Stimmen, Meinungen, Reizen klar zu sehen?_

    Die biblische Antwort lautet:
    Es ist die Weisheit Gottes.
    Sie ist nicht laut.
    Sie ist nicht aufdringlich.

    Aber sie ist da!
    Wie ein innerer Kompass.
    Wie ein Atemzug Gottes mitten im Chaos.
    Wie eine Kraft, die uns leben lässt.
    Aufrecht, verbunden, klar.


    Jubilate heißt: Die Schöpfung lebt

    Jubilate – das ist der Sonntag des Aufatmens.
    Es ist nicht alles perfekt.
    Nein, da ist unsere Welt noch weit entfernt, um perfekt zu sein.
    Sondern Jubilate,
    weil Gott immer noch schafft.
    Weil seine Weisheit immer noch weht.
    Weil Leben neu anfangen kann – heute.
    In mir. In dir. In uns.

    In Christus ist diese Weisheit lebendig geworden.

    Nicht als Theorie, sondern als Berührung.
    Als Stimme.
    Als Brot.
    Als Trost.
    Als einer, der zuhört
    Als Auferstehung.
    Als einer der Leben schenkt – über den Tod hinaus.


    Und heute? Muttertag? Auch da wirkt Weisheit!

    Denn ganz ehrlich:
    Wer hat uns oft zuerst Weisheit beigebracht?
    Nicht mit großen Worten.
    Sondern mit kleinen Gesten.
    Mit einem Blick.
    Mit einem Nein, das uns beschützt hat.
    Oder einem Ja, das uns Flügel verliehen hat.

    Weisheit ist nicht laut.
    Aber sie erkennt, was zählt.
    An diesem
    Darum sage ich an diesem Tag – Muttertag-
    „Danke“
    Nicht nur für das, was getan wurde.
    Sondern für das, was getragen wurde.
    An Liebe. An Geduld. An Lebensweisheit.


    Die Einladung der Weisheit

    Die Weisheit sagt:

    „Hört auf mich – dann werdet ihr leben.“

    Ich glaube:
    Das ist kein Befehl.
    Das ist eine Einladung.

    Es ist eine Einladung zum Leben.
    Zur Tiefe.
    Zur Verbundenheit.

    Es ist eine Einladung zu einem Leben, das mit Gott in Verbindung steht.
    Das Freude kennt.
    Und Tiefe.
    Und Spiel.
    Und Sinn.

    Vielleicht hören wir heute die Weisheit flüstern –
    in einer Melodie,
    in einem Gedanken,
    in einem dankbaren Rückblick,
    in einem mutigen Schritt nach vorn.


    Amen.


    Lied nach der Predigt: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut   EG 635