Kategorie: Predigt

  • Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten.  –  Predigt zu 1. Korinther 6,9-14.19-20

    Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten. – Predigt zu 1. Korinther 6,9-14.19-20

    Gottesdienst am 25.07.2021 in Unterensingen

    Der Predigttext für heute steht in den Korintherbriefen von Paulus im 6. Kapitel. Und das sind wirklich Briefe (im Unterschied zu anderen neutestamentlichen Schriften in Briefform, die eher theoretische Lehrschreiben sind).

    Nein:
    Zwischen Paulus und den Christen von Korinth gab es eine lebhafte Korrespondenz hin und her.
    Man kannte sich. Und man schonte einander nicht.
    Immerhin hatte der Apostel diese Männer und Frauen selbst für den Glauben an Christus gewonnen, sie getauft, ihre Gemeinde gegründet.

    Korinth, stelle ich mir vor, war das Amsterdam der Antike. Eine Stadt, schrill, laut, bunt, voller Menschen aus den verschiedensten Kulturen.
    Menschen, die exotische Speisen mitbrachten, fremde Lebensweisen.
    Götter und Götzen aller Couleur verehrte man hier.
    Händler dealten mit allem, was Geld brachte.
    Tagediebe übten ihr Gewerbe aus, ebenso wie die vielen Prostituierten der Hafenstadt. Genug wohlhabende Männer, die deren Dienste in Anspruch nahmen, gab es auch. Und dann war da noch die berühmt berüchtigte Tempelprostitution im Aphrodite-Tempel. In Korinth wurde gemäß dem Motto: „Alles ist erlaubt“ gelebt.

    Und dem konnten sich offenbar auch die getauften Christen nicht immer entziehen. Paulus hatte jedenfalls Grund, ihnen einige deutliche Worte zu schreiben:

    Wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden?
    Täuscht euch nicht!
    Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben.
    Und solche sind einigen von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes

    Lutherbibel 2017 1. Korinter 6, 9-11

    Was für eine Liste von Lastern!

    Haben die Korinther Christen wirklich ein so verdorbenes Vorleben mitbrachten?
    Oder spricht so ein Text eher Bände über seinen Verfasser?

    Über Paulus als verklemmten, leibfeindlichen Typen, der offensichtlich ein Problem mit Frauen hatte.
    Und der zusätzlich noch ein Problem hatte mit Sexualität, mit der Freude am Essen und einem guten Tropfen… Also mit allem, was Spaß macht.

    Und sind es nicht Bibeltexte wie dieser, die jahrhundertelang Verheerendes in den christlichen Kirchen anrichteten? Die schuld sind an der engen Sexualmoral der Kirche.
    Die als Rechtfertigung für die physische und psychische Gewalt in evangelischen Einrichtungen und Diakonissenhäusern diente.

    Die zu Vertuschung, Machtmissbrauch in kirchlichen Kreisen missbraucht wurde. Die zu einer unbegründeten Homophobie führte. Ja, grundlegend zur Abwertung der leiblichen Seite des Menschseins beitrug.

    Ganz unschuldig an diesen Verformungen sind Paulus‘ Texte wohl nicht. Andererseits hat man sie oft auch missverstanden oder missverstehen wollen. Lesen wir weiter.

    Paulus an die Korinther:

    Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichtemachen. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe.

    Luterbibel 2017 1. Korinther 6, 12-13

    Alles ist mir erlaubt.

    An vier Stellen zitiert Paulus dieses damals unter den Griechen beliebte Motto.
    Er lehnt es nicht ab.
    Er sagt vielmehr: Ja, stimmt! Für Christen mehr als alle anderen. Wer in Christus lebt, ist frei, alles zu tun. Es gibt keine Verbote. Essen ist Ernährung und keine religiöse Handlung. Und du darfst mit jedem zu Tisch sitzen – Sünder oder gerecht, gläubig oder Heide.

    Frei heißt aber auch: Ich bin verantwortlich für mein Tun. Ich muss die Grenzen für mich setzen und entscheiden, was ich vor Gott vertreten kann und wann ich anfange, mich von Dingen gefangen nehmen zu lassen.

    Ich muss selbst darauf achten, ob ich im Ausleben meiner Freiheit nicht die Freiheit des anderen einschränke, ihn verletzte, beschäme oder bevormunde.

    Auch aus dieser Perspektive könnten wir Paulus‘ Lasterkatalog lesen – nicht von den Tätern her formuliert, sondern aus Sicht der Opfer.

    Dann hört es sich womöglich ganz anders an. Dann klingt es so: Niemand soll aus Not zur Prostitution gezwungen sein! Und niemand soll diese Not ausnutzen. Niemand – weder Frau noch Mann, weder Kind noch Erwachsener – darf als Sexualobjekt benutzt werden. Niemand soll geschmäht, gemoppt, durch üble Nachrede verleumdet oder ausgeraubt werden.

    Paulus beendet seine Rede nicht ohne eine klare Ansage, was der Maßstab sein soll für unser freies, vor Gott verantwortetes Leben – auch im Umgang mit dem eigenen Körper.

    Oder wisst ihr nicht,

    dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist,

    der in euch ist und den ihr von Gott habt,

    und dass ihr nicht euch selbst gehört?

    Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.

    1. Korinther 6,19-20

    Von wegen leibfeindlich! Für den Juden Paulus ist Glaube und die Zugehörigkeit zu Christus eine höchst leibliche Angelegenheit.

    Der Jude Paulus muss mit dieser Sichtweise bei den griechisch geprägten Korinthern einiges aufgewühlt haben. Denn die Griechen sahen im Körper nur eine Hülle, in der der eigentliche Mensch mit Seele und Geist wohnt. Den einen von ihnen war er störendes Gefängnis und musste möglichst kasteit werden durch Askese und Entsagung. Andere gaben sich zügellosen Ausschweifungen hin in der Meinung, diese körperlichen Dinge hätten ja eh nichts mit ihnen selbst zu tun.

    Die Bibel erzählt anders vom Menschen. Sie sieht die Menschen stets in seiner Ganzheit von Seele, Geist und Leib. So handeln und so glauben die Menschen der Bibel immer auch mit ihrem Leib.

    Gottes Liebe verkündigen geht nicht ohne Hände, die einander halten. Seine Vergebung weiterschenken geht nicht ohne Augen, die einander sehen. Seine Fürsorge predigen geht nicht ohne Speisung für die Hungernden und Kleidung für die Frierenden, Besuch bei den Einsamen.

    Der Gedanke, Glaube könne reine Kopfsache sein, war Paulus vollkommen fremd.

    Wie nahe wir ihm da sind, das hat Corona uns gezeigt. Gottesdienst, ohne zu singen, dafür mit Maske und Abstand, ist machbar. Digitale Andachtsformen sind eine bereichernde Ergänzung. Frauenfrühstück über ZOOM eine witzige Erfahrung und der Start ins neues Jahr ohne Sekt und Umarmungen waren besser als nichts.

    Und doch! Es lässt sich nicht leugnen, dass uns, als „Gemeinschaft der Heiligen“, eine wesentliche Dimension fehlt, wenn das körperliche, leibhaftige Beisammensein gestrichen wird.

    Darum preist Gott mit eurem Leibe.

    Ein Mann ging diese Woche durch Radio, Fernsehen und Internet:  Hubert Schilles, der „Baggerheld von der Steinbachtalsperre“, der nicht Held genannt werden will. Achtzehn Meter unter dem Wasserspiegel räumte er mit seinem Bagger bei Lebensgefahr einen zugelaufenen Abfluss der Talsperre frei. Mit 68 und als Chef eines großen Tiefbauunternehmens hätte er auch einen Mitarbeiter schicken können. Aber gerade wegen der Gefahr, so sagt er im Interview, musste er den Job selbst machen. Und fügt hinzu: „Mit Hilfe von Gott hat das gut funktioniert. Ich bin ein gläubiger Mensch. Du Herr, musst wissen, was passiert`, habe ich gesagt. Und ich hatte keine Sekunde Angst.“ Wenn das kein Beispiel ist, wie ein Mensch seinen Schöpfer preist! Nicht nur mit Worten und Gedanken, sondern mit seinem Leib.

    Was nehmen wir aus unserer Begegnung mit Paulus und seinen korinthischen Christen in die kommende Woche mit?

    Gott mit dem Leib preisen.

    Den Gedanken nehme ich mit und damit verbunden die Anregung, den christlichen Glauben ohne Scheu noch mehr als ein leibliches füreinander-Dasein zu leben. Wer krank ist, alt oder gebrechlich, wird das Gefühl teilen, dass der Körper zum Gefängnis werden kann. Er braucht unser tatkräftiges Mit-Zupacken, unseren liebevollen Blick und manchmal einen stützenden Arm.

    Mein Leib – ein Tempel des Heiligen Geistes.

    Auch das nehme ich mit. Warum nicht dem Schöpfer bewusst auch einmal Danke sagen;  dafür, dass ich einen Körper habe, der mich alles im Leben, das Schöne wie das Schmerzliche, sinnlich erfahren lässt. Dass ich Hände habe, die ich reichen kann.
    Ein Geschenk ist das – vor allem in Pandemiezeiten. Dass ich Beine habe, die gehen, laufen und Rad fahren können. Dass ich atme, singe, die Lungen sich füllen, das Zwerchfell sich spannt. Danke, Gott, für meinen Körper!

    Und das dritte, was ich mitnehme: Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten.

    Einmal wieder verstärkt darauf achten:
    Was tut meinem Körper eigentlich gut? Und was nicht? Wo bin ich in Anhängigkeiten, aus denen ich mich mit Gottes Hilfe gern befreien möchte? Und: Wie möchte ich als ganzer Mensch mit Geist, Seele und Leib mit anderen in Beziehung treten? Dass ich, soviel an mir liegt, niemanden herabsetze, bedränge oder für meine Wünsche in Besitz nehme. Dass ich in jedem Mitmenschen ein von Gott geheiligtes Leben sehe. Ein Leben, das leben will, selbstbestimmt, wertgeschätzt und frei.

    Amen

  • Vertrauen – Elia am Bach Krit und bei der Witwe zu Sarepta – Predigt zu 1. Könige 17,1–16

    Vertrauen – Elia am Bach Krit und bei der Witwe zu Sarepta – Predigt zu 1. Könige 17,1–16

    Gottesdienst in Aichtal-Aich am 18. Juli 2021

    Was es heißt Hunger zu haben weiß ich.
    Wenn ich Hunger habe, dann gehe ich an den Kühlschrank und hole mir da etwas raus. Dann ist der Hunger wieder gestillt.
    Wenn der Kühlschrank leer ist, dann gehe ich einkaufen und fülle ihn wieder.

    Wie es ist Hunger zu haben und diesen Hunger nicht stillen zu können. Also nicht für kurz wegen einer Diät oder einer Fastenkur, sondern wirklich Hungern. Ohne die Möglichkeit an Essen heranzukommen.
    Das weiß ich aus eigener Erfahrung nicht.

    Ich kenne Geschichten über Hunger aus dem Krieg und der direkten Nachkriegszeit.
    Ich kenne Hungergeschichten aus Eritrea, der Sahelzone.
    Hungergeschichten aus heutiger Zeit.
    Hungergeschichten, bei denen Menschen wirklich an Nahrungsmangel gestorben waren.
    Gott sei Dank mussten weder ich noch meine Kinder so etwas erleben.

    Eine solche Hungergeschichte bekommen wir im Buch 1. Könige 17,1–16 erzählt.

    Etwa Im Jahr 860 vor Christus, also vor etwa 3000 Jahren, gerät die Ordnung der Welt aus den Fugen.
    Der Himmel verschließt sich – wochenlang, monatelang sind keine Wolken zu sehen, kein Regentropfen zu spüren.
    Das kostbare Wasser verdunstet, der Erdboden trocknet aus.
    Menschen und Tiere verlassen mit ungewissem Ziel ihre Heimat.
    Totenstille über dem ganzen Land.

    Aber dann bekommt die grenzenlose Öde Namen und Gesichter. Da ist der Prophet, die Witwe und ihr einziger Sohn.
    Ein Drama spielt sich vor unseren Augen ab. Wir sehen eine weinende Mutter, Holzstücke für ein Feuer zusammentragen, um ein letztes Brot für sich und ihren Sohn zu backen, eine Henkersmahlzeit. Ein Bild des Grauens.

    Dies ist Vergangenheit, gewiss!
    Auch heute ereignen sich Krisen, hier und auf der ganzen Welt.
    Eine Ausnahmezeit wie die Coronakrise lässt uns dies hautnah erleben.
    Für uns hier in Aich führt die Krise nicht zur Katastrophe.
    Ganz im Gegensatz zu anderen Teilen in der Welt.
    Dort schlägt das Virus in voller Härte zu.
    Dort wo Menschen bereits durch Krieg und Hunger aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
    Dort wo Menschen schon in normalen Zeiten mit dem Hunger leben müssen.
    Dort wo Menschen auf Grund ihres Glaubens verfolgt und getötet werden – darunter auch viele Christen.
    Dort ist die Welt katastrophal.

    Wir befinden uns in Israel. Ahab ist der aktuelle König über Israel.
    Von ihm heißt es ein Kapitel zuvor, dass er Böses tat, und zwar mehr als alle Könige, die vor ihm waren.
    Er hat sich vom Gott Israels abgewandt und mit seiner Frau unterstützen er den Baals-Kult. Baal war ein Wettergott, der Wind, Wolken und Regen beherrscht. Indem er die Dürre beendet, ist er Spender der Fruchtbarkeit.

    So wahr der HERR, der Gott Israels, lebt, vor dem ich stehe: Es soll diese Jahre weder Tau noch Regen kommen, ich sage es denn.“ Das ist die Kampfansage des Elia, als Prophet Gottes gegen Baal und somit auch gegen Ahab.
    Da kommt einer aus der Provinz, baut sich vor dem König auf und macht ihn und sein Gott lächerlich.

    Natürlich schäumt König Ahab vor Wut und er gibt den Befehl Elia töten zu lassen.
    Elia muss sofort fliehen. Zum Glück hat Elia – er ist ja Prophet – einen heißen Draht zu Gott. Und Gott sagt ihm: „Verschwinde sofort von hier. Wandere nach Osten und verstecke dich am Bach Krit. Aus dem Bach kannst du trinken und es werden Raben kommen, die dich versorgen werden.“

    Elia vertraut Gott.
    Er versteckt sich nicht bei Verwandten oder Bekannten.
    Er packt sich auch nicht noch schnell ein Überlebenspäckchen.
    Er tut das, was Gott sagt, und wandert direkt zu dem Bach.
    Und tatsächlich: Raben bringen ihm Brot und Fleisch.
    Elia hat erst einmal alles, was er zum Leben braucht. Gott hat sein Versprechen gehalten und er sorgt für ihn.

    Doch dann, eines Tages, merkt Elia, dass der Bach immer weniger Wasser hat – denn es regnet nicht mehr.
    Das hatte Elia dem Ahab ja auch an den Kopf geworfen:
    Gott würde es nicht mehr regnen lassen, weil er und nicht Baal der Spender der Fruchtbarkeit ist.
    Nun bekommt auch Elia die Auswirkungen dieser Tatsache zu spüren.
    Wieder redet Gott zu Elia:
    Gehe nach Sarepta. Das ist fünf Tagesmärsche entfernt. Kurz hinter der Grenze zu Israel.
    Dort habe ich einer Witwe befohlen, dich zu versorgen.

    Was wird sich Elia gedacht haben?
    Alles klar! Eine Witwe wird mich versorgen. Eine, die selbst nichts hat. Wie soll das funktionieren?
    Witwen gehörten damals zu dem Ärmsten der Armen, oft waren sie auf Almosen angewiesen.
    Elia – der große Mann Gottes – abhängig von einer Witwe.
    Wieder muss Elia vertrauen – auf Vorschuss.
    Er kann sich absolut nicht sicher sein:
    Kann diese Witwe ihn tatsächlich versorgen? Nach menschlichem Ermessen ist das höchst unwahrscheinlich.
    Soll er wirklich fünf Tagesmärsche durch die Wüste auf sich nehmen?
    Was, wenn er am Ende feststellt, dass es umsonst war?
    Zudem liegt Sarepta außerhalb von Israel.
    Wer sollte ihm da sonst wohl gesonnen sein und ihm von den ohnehin knappen Lebensmittel etwas abgeben?

    Aber Elia wagt es zu vertrauen.
    Er tut das total Widersinnige.
    Er unternimmt diesen Gewaltmarsch durch die sengende Sonne.
    Er macht sich von einer Frau abhängig, die nicht einmal im Traum genügend zum Überleben besitzen dürfte.
    Irgendwie demütigend.
    Irgendwie verrückt.
    Aber Elia vertraut!
    Er vertraut, dass Gott ihm den Tisch decken wird.

    Perspektivwechsel:
    Nun schauen wir uns die Geschichte aus dem Blickwinkel der Witwe an.
    Wir wissen nicht, wie sie heißt. Aber wir wissen, sie hat einen Sohn und sie wohnt in Sarepta, was in Sidon liegt.
    Sie ist also keine Israelitin. Sie gehört zu dem Volk, dass den Wettergott Baal anbetet.
    Und sie leidet darunter, dass dieser Wettergott Baal seinen Job nicht tut.
    Es hat seit Wochen und Monaten nicht geregnet.
    Die Saat auf den Feldern ist nicht einmal aufgekeimt, sie ist gleich verdorrt.
    Die Menschen leben nur noch von ihrem Vorräten.
    Und sie, die Witwe?
    Von welchen Vorräten soll sie schon leben?
    Es gibt keine Versicherungen, kein Sozialsystem in Sidon.
    Im Nachbarland Israel sind die Menschen angewiesen den Witwen und Waisen zu helfen. Von allem ein bisschen abzugeben. Aber hier in Sidonien gibt es keine Barmherzigkeit.
    Und in Sarepta, was „Schmelzofen“ bedeutet, scheint sogar die Sonne besonders unbarmherzig.

    Der Tag ist gekommen, an dem die Witwe in ihren Mehltopf und ihren Ölkrug schaut.
    Einmal, zweimal: Ja, heute ist der Tag.
    Heute wird sie die letzten kleinen Brotfladen backen.
    Dann sind alle Vorräte an Öl und Mehl aufgebraucht.
    Sie sieht sich und ihren Jungen, wie sie das letzte Brot teilen.
    Er wird das größere Stück bekommen.
    Sie werden schweigend dasitzen und kauen.
    Bitteres Brot.

    Sie sieht es vor sich, ein paar Stunden später, wie er wieder Hunger bekommen wird.
    Er ist ja schon so dürr geworden in den letzten Wochen.
    Sie möchte die Vorstellung beiseite schieben, aber sie kann nicht.
    Die Bilder schleichen sich immer wieder in ihren Kopf:
    Wie er weinen wird, weil sie ihm kein Brot mehr gibt.
    Wie er Schmerzen bekommt.
    Wie er sie fragend ansieht, nicht verstehen kann, warum seine Mama ihm nicht den Hunger stillt.
    Wie er schwach werden wird.
    Wie der Lebensglanz aus seinen Augen verschwindet.
    „Wer wird uns finden?“, schießt es ihr durch den Kopf, „wer wird unsere Körper begraben?“

    Und dann wird sie zornig.
    Geht zum Hausaltar des Wettergottes und schreit ihn an: „Warum tust du das? Warum schickst du keinen Regen? Siehst du nicht das wir verhungern? Ich habe dir immer geopfert, aber jetzt hilfst du uns nicht. Nicht mal der Junge wird durchkommen. Du bist kein Gott!“
    Wütend fegt sie die Götterfigur vom Altar.
    Sie zerbricht in viele Stücke.
    Die Frau erschrickt. ‚Was habe ich getan?‘
    Doch dann denkt sie: ‚Das ist jetzt auch egal.‘
    Sie kehrt die Scherben zusammen, setzt sich hin und weint.
    In ihrem Herzen schreit sie: „Wenn es irgendeinen wahren Gott gibt, dann hilf mir! Ich tue alles, wenn du mich und meinen Sohn vor dem Tod rettest! Schicke mir Hilfe!“

    So ähnlich wird der Tag dieser Frau ausgesehen haben.
    Gott muss ihr irgendwie begegnet sein.
    Denn als er Elia aufgefordert hat, nach Sarepta zu gehen, hat er ihm zugesagt, dass er einer Witwe befohlen hat, Elia zu versorgen.
    Wie sich dieser Befehl genau zugetragen hat, davon ist uns nichts berichtet.

    Nun geht sie hinaus, sie will Holz sammeln für die Backstelle.
    Sie hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben.
    Da kommt ein Fremder daher, der ruft ihr etwas zu.
    Sie erschrickt.
    Besuch hat sie wirklich nicht erwartet.
    Wer besucht schon eine Witwe und ihr Kind, die verhungern?
    Es will doch keiner daran erinnert werden, dass da zwei sind, die sterben, wenn man ihnen nichts abgibt.

    Seit Wochen ist niemand mehr vorbeigekommen.
    Sie schaut den Mann skeptisch an. Ein Fremder, wahrscheinlich ein Israelit.
    Er sieht auch nicht so aus, als ob er ihr helfen könne.
    Zerlumpt, ungewaschen. Ausgetrocknet. Das ist der Eindruck, den der Fremde auf sie macht.
    Hoffentlich ist der nicht bösartig!
    Da ruft er ihr zu: „Hole mir doch bitt ein wenig Wasser in einem Gefäß, dass ich trinke.“
    Sie schaut ihn skeptisch an.
    Der hat wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
    Wasser ist unbezahlbar geworden.
    Selbst die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Region ist der Trockenheit in den letzten Wochen zum Opfer gefallen.

    Was wird der Witwe durch den Kopf gegangen sein?
    Ist es Mitleid?
    Resignation?
    Wenn wir eh sterben, dann kann er auch noch einen Schluck Wasser abhaben.

    Oder ist es schon eine Ahnung, dass hier etwas Seltsames passiert?
    Auf jeden Fall geht sie ins Haus, um Wasser zu holen.
    So ermutigt, wird der Fremde dann aber doch ein bisschen frech:
    „Bitte, bring mir auch ein bisschen Brot mit!“

    Sie dreht sich um.
    Sie fasst es einfach nicht:
    „Du weißt gar nicht, was du da sagst!
    Bei deinem Gott, falls es ihn gibt, ich habe nur noch eine Hand voll Mehl und einen Tropfen Öl im Haus.
    Gerade genug, um noch einmal zu kauen.
    Und ich habe einen Jungen, der liegt im Bett, ist krank und abgemagert, und ich werde jetzt für ihn und mich Brot backen, und dann essen wir das zusammen und dann sterben wir.“

    Der Fremde ist nicht entsetzt, er entschuldigt sich nicht.
    Er bedrängt sie auch nicht.
    Sondern er sagt wieder so etwas Aberwitziges:
    „Fürchte dich nicht!
    Tue, was du vorhattest.
    Aber zuerst backe mir den Brotfladen und bring ihn mir heraus.
    Dann kannst du in dein Haus gehen und dir und deinem Sohn etwas backen.
    Denn mein Gott, der wahre Gott, den es wirklich gibt, lässt dir sagen:

    Dein Mehl im Topf und dein Öl im Krug werden nicht ausgehen, solange diese Hungersnot anhält. Bis es wieder regnet, wirst du immer genug haben. Ihr werdet nicht verhungern.“

    Was wird der Frau wohl durch den Kopf gegangen sein?
    In diesem Moment…?

    Irgendwie muss Gott diese Frau vorbereitet haben.
    Eine Mutter hätte sonst niemals einem Fremden das Brot ihres Kindes gegeben.
    Gott muss ihr Hilfe zugesagt haben obwohl sie diesen Gott nicht kennt.
    Mit dem alten, der in Scherben liegt, hat sie keine guten Erfahrungen gemacht.
    Sie kennt diesen zerlumpten, unverschämten Mann nicht, der da vor ihr steht.
    Wie soll sie ihm glauben?
    Was, wenn er nicht die Wahrheit sagt?
    Was, wenn er lügt, um an ihr Brot zu kommen? Und sie dann mit leeren Händen dasteht.
    Was wird aus dem Jungen, der in seinem Bett auf sein letztes Brot wartet?

    Es ist Wahnsinn!
    Was soll sie tun?
    Sie setzt alles auf eine Karte. Sie geht hinein und bereitet dem Mann seinen Brotfladen zu.
    Die ganze Zeit gehen ihr dieselben Fragen, dieselben Ängste und Phantasien im Kopf herum.

    Das Brot ist fertig.
    Sie geht an der Kammer des Sohnes vorbei.
    „Nein!“, schreit ihr Herz.
    Doch sie geht weiter.
    Mechanisch setzt sie einen Fuß vor den anderen.
    Reicht dem Mann das Gefäß mit dem Wasser – und – das letzte Brot.

    Er bedankt sich.
    Nickt mit dem Kopf zum Haus hin. „Geh wieder rein. Backe dir und deinem Sohn etwas!“
    Sie dreht sich um, sie traut sich kaum zu gehen.
    Mit jedem Schritt wächst die Angst.
    Was wird sie finden?
    Hat er sie betrogen?
    Ist sie nur eine dumme Frau, die zu beschränkt ist, sich und ihren Sohn angemessen zu verteidigen?

    Sie geht hinein, geht zur Feuerstelle.
    Nimmt den Topf vorsichtig in die Hand, blickt mit Herzklopfen hinein.
    Ihr Herz setzt einen Schlag aus.
    Da ist Mehl! Da ist wieder Mehl drin!
    Sie greift nach dem Krug, schaut nocheinmal ungläubig hinein und beginnt zu – lachen.
    Sie lacht und lacht und lacht. Sie kann nicht mehr aufhören.
    Die Anspannung der letzten Wochen fällt von ihr ab, zusammen mit der Todesfurcht.

    Der Junge ruft aus der Kammer. Sie läuft hin, lachend.
    Hebt ihn hoch und trägt ihn in die Küche.
    Seine Augen werden größer und größer, als er in die Gefäße schaut und auch er lacht mit ihr.
    Seine Augen bekommen wieder Leben.
    Die Frau backt Brote. Viele Brote.
    Sie holt den Fremden von draußen ins Haus.
    Zusammen essen sie.
    Die Witwe, ihr Sohn und der Mann Gottes bis sie nicht mehr können.
    Und immer noch ist Mehl im Topf und Öl im Krug.
    Das Herz der Frau ist randvoll mit Dankbarkeit.
    Sie weiß es ganz fest in ihrem Herzen:
    Mehl und Öl werden nicht mehr ausgehen, bis die Hungersnot vorbei ist.
    Sie werden überleben – sie werden leben!
    Denn der wahre Gott, der Gott der Israeliten ist mit ihnen, und er hat es ihr versprochen.

    Elia und die Witwe … was beide besonders auszeichnet ist ihr Vertrauen.
    Vertrauen auf Vorschuss.
    Vertrauen ohne zu wissen, ob es belohnt wird – oder ob sie bitter enttäuscht werden.
    Und das in Situationen, die so existentiell sind.

    Vertrauen auf Vorschuss… eigentlich geht das doch gar nicht anders.
    Sonst ist Vertrauen ja kein Vertrauen.
    Und doch, wer von uns hat ein solches Vertrauen?

    Ich weiß nicht, ob ich auf Gottes Wort hin zum Bach Kerit gegangen wäre – ohne mich noch auf etwas anderes zu verlassen…
    Ich weiß nicht, ob ich nicht enttäuscht gewesen wäre, als der Bach versiegte und die Raben nicht mehr kamen.
    Ich weiß nicht, ob ich es geglaubt hätte, wenn Gott mir gesagt hätte, dass mich jemand versorgen wird, der selbst nichts hat.
    Ich weiß nicht, ob ich mein letztes Brot, das Brot meiner Kinder, abgegeben hätte, nur weil jemand sagt, es werde schon neues Brot da sein.

    Vertrauen auf Vorschuss – also wirkliches, echtes Vertrauen.
    Vertrauen auf den wahren Gott, der mir helfen kann, wenn es sonst keiner mehr kann.
    Ich glaube, die meisten von uns wollen Gott gerne so vertrauen.
    Aber es ist echt schwierig, so zu vertrauen.
    Und man kann ein solches Vertrauen nicht erzwingen.
    Auch nicht in sich selbst.

    Aber man kann es wagen.
    Und es kann einem geschenkt werden.
    Vertrauen wächst, wenn wir gute Erfahrungen machen.
    Wenn wir immer wieder erfahren: auf Gott kann ich mich 100% verlassen.
    Er lässt mich nicht im Stich.
    Er sorgt für mich.
    Gott sehnt sich danach, dass wir ihm vertrauen.
    Er will uns mit Vertrauen segnen und beschenken.
    Er will für uns sorgen und uns einen Tisch decken.

    Egal wie die Not aussieht.
    Er will unseren Mangel beseitigen, denn er hat im Überfluss und er gibt dir gerne im Überfluss.

    Er lädt uns ein:
    Mein Kind, vertraue mir.
    Amen

  • Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten – Predigt zu 1. Korinther 1, 18-25

    Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten – Predigt zu 1. Korinther 1, 18-25

    Gottesdienst in Neckartenzlingen am 04. Juli 2021 – Predigttext: 1. Korinther 1, 18-25

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23

    Dieser Satz ist eine Kampfansage.
    Ein gekreuzigter Gesalbter Gottes, ein gekreuzigter Christus.

    Damit widerspricht Paulus allen Träumen, allen Träumen der Religion von Stärke und Überlegenheit.
    Er sagt auch ganz deutlich: Das Wort vom Kreuz ist für die einen eine Torheit, Unfug und für die anderen ist es schlichtweg dumm.

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23
    • ein Skandal für die Frommen in Israel
    • ein Unsinn für die Griechen

    Was meint Paulus damit?
    Was ist das, dieses Wort vom Kreuz?
    Und warum wird ihm so heftig widersprochen?

    Der Traum von der Stärke

    Da ist zuerst der Traum von der Stärke. Jedes Kind träumt ihn. In Israel wird gesagt: „Wir sind schwach und unterlegen, aber Gott kann alles. Der Messias, der wird alles gut machen. Der wird alles richten. Der wird mit gewaltiger Hand dreinschlagen und uns zu unserem Recht verhelfen.“

    Jesus und Paulus legen hier Widerspruch ein.
    Als Jesus seinen Jüngern sagte: „Mein Weg führt ans Kreuz“(Mt 16, 21-26), da ruft Paulus ganz ohne Nachdenken und aus vollem Herzen: „Nein, oh, nein, das darf auf keinen Fall passieren. Gott bewahre dich davor!“ Aber Jesus dreht sich um zu Petrus und sagt: „Weiche von mir Satan. Du denkst so wie die Menschen denken und nicht wie Gott denkt.
    Bei den Freunden Jesu selbst fängt es also an: Sie möchten ihn – verständlicherweise – gern stark und mächtig sehen. Darum verstehen sie Jesus nicht, wenn er sagt: „Ich werde leiden. Und das ist gut so.“

    Paulus sagt in seiner Sprache:

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23

    Die Geschichte vom Leid

    Wir müssen uns die Geschichte, die Leidensgeschichte Jesu, noch einmal genauer anschauen.
    Matthäus erzählt von der Kreuzigung Jesu:
    Alle kommen und schauen zu, wie Jesus da hängt, hilflos und verlassen, seinen Peinigern ausgeliefert.
    Jetzt spotten sie.

    Im Spott sind sie sich einig, die Priester und Soldaten: „Anderen hast du geholfen. Jetzt hilf dir selber. Dann wollen wir auch glauben. Wenn du der Messias, der Gesalbte Gottes bist, dann steig herab vom Kreuz! (Mt 27, 40ff)“
    Sie glauben, einer, der Gott auf seiner Seite hat, der kann nicht am Kreuz hängen.
    Wer Gott auf seiner Seite hat, der kann nicht leiden, der muss nicht leiden.
    Wer Gott auf seiner Seite hat, der muss stark und mächtig sein.
    So denken sie.
    Und sie sind sich einig im Auslachen. Sie sind sich einig im Spott über den Jesus, der am Kreuz hängt.

    Wir lachen Jesus heute so nicht aus. Aber auf den Glauben, dass es den frommen Menschen gut gehen muss, auf den fallen viele immer wieder herein. Außerhalb und auch innerhalb der Kirche.

    Einer, der am Kreuz hängt, hat ausgespielt. Da hat Gott nichts zu suchen.

    Einer , der sich nicht durch Machtzeichen ausweisen kann, der komme nicht von Gott.

    Deshalb ist das Kreuz Jesu – und das Wort vom Kreuz – ein Skandal für viele.

    Und da ist die Angst. Niemand möchte der Dumme sein. Deshalb wird zur Zeit des Paulus bei den gebildeten Griechen nach Weisheit gefragt. Diese beschäftigen sich damit, wie man das Leben durch Klugheit, durch gute Gedanken so einrichten kann, dass man immer wieder gut wegkommt. Eben so, dass man auf keinen Fall der Dumme ist.

    Weisheit, sie soll frei machen von der Welt und ihren Zwängen.
    Diese Sehnsucht nach der Weisheit, die den Hintergrund versteht, diese Lust auf geheimes Wissen, das Menschen zu Überlegenen machen soll, auch die feiert heute fröhliche Wiederkehr. Und wer daran glaubt, an das Wissen und die Weisheit und die Wahrheit und die Macht, der kann nur lachen, wenn Paulus sagt:

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 23

    Das Wort vom Kreuz

    Das Wort vom Kreuz, das heißt:
    Erzählen und Reden von einem Menschen Gottes, der selber schwach und unterlegen ist und der am Kreuz jämmerlich verreckt.
    Das Wort vom Kreuz ist ein Skandal für die Frommen und ein Unsinn für die Klugen – zur Zeit des Paulus bei den Juden und den Griechen.
    Bei uns ist das nicht anders. Wir müssen uns da nichts vormachen.

    Wenn ich genauer hinhöre, dann merke ich: Diese Botschaft vom Kreuz – sie widerspricht auch mir selbst.
    Ich habe keinen Grund über Menschen zu lächeln, diWir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.e über den Gekreuzigten Christus den Kopf schütteln.

    Ich habe selber etwas in mir:
    – von den Menschen, die Stärke und Macht-Beweise fordern und endlich etwas von der Macht Gottes sehen wollen.
    – und von den Menschen, die nach überlegener Weisheit suchen.

    Paulus schreibt:

    Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 25

    Das ist ein starker Satz.

    Aber ist der auch wahr?
    Da stirbt jemand unter Schmerzen – viel zu jung.
    Und wir fragen: Wo ist da Gott? Warum sehe ich nichts von ihm?
    Und auf einmal geht es mir wie denen, die Paulus Juden und Griechen nennt. Man müsste doch etwas von Gottes Nähe merken. Es müsste doch etwas sichtbar werden. Stärke oder wenigstens ein Sinn.
    Und wir, wir sehen nichts.
    Paulus aber weist auf den gekreuzigten Jesus.

    Kann das sein?
    Ist Gott da, wo wir es uns nicht vorstellen können?
    Ist Gott auch gerade dort, wo wir nicht weiter sehen?

    Matthäus erzählt weiter: Jesus aber schrie laut auf und rief:

    Eli, Eli, lama asabtani? … Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

    Lutherbibel 2017, Matthäus 27, 46

    Am Kreuz betet er den 22. Psalm, der mit diesen Worten beginnt.
    Am Kreuz schreit Jesus nach Gott.

    Jesus stirbt, wie er gelebt hat: mit dem Gotteswort auf den Lippen.
    Jesus stirb im verzweifeltem Vertrauen, dass Gott allein Hilfe ist im Leben und im Sterben.
    Jesus ruft nach Gott und glaubt an Gott. Auch da, wo niemand mehr etwas sieht. Wo Gottes Nähe nicht mehr erfahren werden kann und nicht mehr spürbar ist.

    Das Wort vom Kreuz, das sagt:
    Gott war bei diesem Jesus. Er hat ihn nicht verlassen, dort in der Nacht des Leidens. Im „Nicht-mehr-Können“ und im „Nicht-mehr-verstehen“, da ist Gott da.

    So zeigt Jesus uns einen anderen Gott. Nicht einen Gott der Überlegenen und Starken.
    Nicht einen Gott der Macht und Weisheit und der Religiosistät.
    Nicht den Gott einer Kirche, die großen Einfluss hat und andere ausschließt.

    An Jesus sehen wir den Gott, der da ist bei den Leidenden und Schwachen, so wie bei Jesus am Kreuz.
    Deshalb ist der Gekreuzigte der Retter, der Heiland.

    Erzählen von Gott

    Und nun müssen wir anfangen zu Erzählen von diesem Jesus. Seinem Weg.

    Jesus hat nicht Gottlose fromm gemacht.
    Er ist zu ihnen gegangen und hat gesagt: „Gott hat euch lieb. Kommt, esst mit mir. Folget mir nach“.
    So sind im Jüngerkreis Jesu auch Zöllner und Sünder zu finden.

    Jesus hat nicht gesagt: „Wir helfen nur unseren Freunden.“
    Er erzählt von dem Fremden, der da hilft, wo Priester und Levit wegschauen und nicht helfen.

    Es gibt unendlich viel zu erzählen, was die einen fröhlich und die anderen ärgerlich gemacht hat.
    Die Ärgerlichen, die haben Jesus ans Kreuz gebracht.
    Aber er hat sich nicht gerettet.
    Und er vertraut nicht der Stärke.
    Er sagt im Garten Gethsemane eindeutig:

    Wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen

    Lutherbibel 2017, Matthäus 26,52

    In dem, was es da von Jesu törichter Liebe und von seiner liebenden Schwäche zu erzählen gab, da fange ich an, ein wenig zu begreifen, warum das Wort von dem gekreuzigten Christus ein Glück ist.
    Und ich fange an, ein wenig zu ahnen, was Paulus meint, wenn er schreibt:

    Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.

    Wir aber predigen Christrus, den Gekeuzigten.

    Lutherbibel 2017, 1. Korinther 1, 25+23

    So schreibt Paulus.

    An diesem Wort vom Kreuz wird sich eine christliche Gemeinde und ihr Tun und Lassen messen lassen.
    Gott ist auf der Seite der Opfer und der Schwachen.
    Die Liebe, mit der Jesus gelebt hat und gestorben ist, die zählt allein.

    So kann die Predigt vom Kreuz Jesu zur Gotteskraft werden, zur Kraft für die Schwachen.

    Auch zur Kraft für uns.

    Amen.

  • Vom verlorenen Garli, Schafen, Silberstück und anderen Dingen – Predigt zu Lukas 15,1–10

    Vom verlorenen Garli, Schafen, Silberstück und anderen Dingen – Predigt zu Lukas 15,1–10

    Predigttext zu Lukas 15, 1-10

    Vom verlorenen Garli

    Die kleine Miriam liegt im Bett und kann nicht schlafen. Ihr Garli ist nicht da.
    Diese Stoffpuppe, die sie seit der Geburt begleitet. Heiß geliebt, das ist dem Garli auch anzusehen.
    Doch nun ist er weg. Miriam kann ohne ihren Garli im Arm nicht einschlafen. Sie fängt an zu weinen obwohl Papa am Bett sitzt und sie zu trösten versucht.

    „Garli, mein Garli, wo bist du?“ schluchzt sie. „Ich schau nach dem Garli!“ versucht der Vater sie zu beruhigen.

    Er sucht im Kinderzimmer unter der Kleidung, die Miriam ausgezogen hat. Er schaut unter dem Bett nach. In der Spielkiste. Ist der Garli vielleicht im Bad vergessen worden – nein, leider nicht.
    Wo kann er nur sein – jetzt wird auch der Vater leicht unruhig. „Was mache ich, wenn ich ihn nicht finde?“ „Wo kann er nur sein?“

    Nirgends ist der Garli zu finden. Miriam wird immer verzweifelter.

    Endlich wird der Vater fündig: Unter dem Küchentisch. Dort hat ihn Miriam nach dem Abendessen liegen gelassen.

    Überglücklich nimmt Miriam den Garli in den Arm. Ein letzter Schluchtzer und dann kann sie endlich überglücklich einschlafen.

    „Vom Suchen, finden und sich freuen“ erzählen die beiden Gleichnisse, die Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten vor Augen stellt.
    Es hat sich herumgesprochen, dass Jesus Sünder annimmt und mit ihnen isst. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die zu ihm gekommen sind, dulden das nicht. Ihrer Meinung nach verstößt Jesus mit seinem Verhalten gegen die Gesetze der Tora.
    Jesus stellt die Tora nicht in Frage, er hinterfragt das Bild, das sie von Gott haben.

    Im ersten Gleichnis geht es um einen Hirten, der eines von seinen hundert Schafen verloren hat.
    Der Hirte macht sich auf die Suche, scheut keine Mühe und sucht solange, bis er es findet. Als er es gefunden hat, nimmt er es auf die Schulter und trägt es nach Hause zu den anderen
    neunundneunzig Schafen. Die Herde ist wieder komplett. Die Freude des Hirten ist groß.
    Erfreut läuft er zu seinen Freunden und Nachbarn. Sie sollen sich mit ihm freuen, dass er sein verlorenes Schaf wieder gefunden hat.

    Vom verlorenen Schaf

    1 Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören.
    2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
    3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
    4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?
    5 Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude.
    6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
    7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

    Lutherbibel 2017 – Lukas 15, 1-7

    Im zweiten Gleichnis erzählt Jesus von einer Frau, die einen Silbergroschen verloren hat.
    Eifrig sucht sie das Geldstück. Als sie es in ihrem dunklen fensterlosen Haus nicht finden kann, zündet sie ein Licht an, leuchtet jede dunkle Stelle aus, nimmt einen Besen zur Hand und fegt in allen Ecken. Endlich hört sie ein Klirren, die Münze kommt zum Vorschein.
    Beglückt nimmt sie das wieder gefundene Geldstück in die Hand und teilt ihre Freude mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen.

    Vom verlorenen Groschen

    8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet?
    9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte.
    10 So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

    Lutherbibel 2017 – Lukas 15, 8-10

    Wer etwas wiederfindet, hat zuvor etwas verloren. Dem Finden geht ein Verlust voraus.
    Der Hirte hat ein Schaf verloren, die Frau ein Silberstück.

    Das Schaf ist dem Hirten wichtig. Er lässt für das eine Schaf neunundneunzig andere zurück.
    Die Drachme ist der Frau wertvoll, sie setzt viel Energie dafür ein, dass sie dieses Geldstück wiederfindet.

    Warum ist dem Hirten das eine Schaf so wichtig?
    Warum der Frau das Silberstück?

    Das eine Schaf vermehrt kaum den Gesamtwert der Herde.
    Vielleicht möchte der Hirte nicht, dass ihm auch nur eines fehlt.
    Vielleicht gehört er noch zu den Hirten, die jedes einzelne Schaf kennen und eine Beziehung zu ihren Tieren haben.
    Solch ein Hirte ist unglücklich, wenn auch nur eines verloren geht.
    Solch ein Hirte ist in Sorge. Was kann dem Tier nicht alles passieren?
    Getrennt von der Herde wird es nicht überleben. Wilde Tiere werden es reißen, wenn er es nicht rechtzeitig findet.
    Womöglich hängt es in einer Felsspalte fest, kann sich aus eigener Kraft nicht befreien.

    Ein guter Hirte leidet mit, wenn auch nur einem einzigen Tier etwas zustößt.

    Und wie ist es mit dem Silberstück?
    Der materielle Wert des Geldstückes schwankte in der Antike.
    Es ließen sich mit Silberstücken ein Ochse erwerben.
    Drohte eine Inflation, verlor die Drachme an Wert, es wurde das Silber gestreckt.
    Im alten Orient kann das Geldstück auch ein Teil der Mitgift oder des Brautschmuckes einer Frau sein.

    Der Frau ist das Silberstück wichtig, sonst würde sie nicht so akribisch mit großem Aufwand suchen. Selbst wenn der materielle Wert der Münze gering sein sollte, hat er ideelle Bedeutung.

    Das ist wie mit dem Garli des kleinen Mädchens, das ohne seine Puppe nicht einschlafen kann. Der Garli hat keine Bedeutung, weil er materiell einen großen Wert darstellt. Der Garli hat Bedeutung, weil er dem Kind am Herzen liegt.

    Wer auf die Suche geht, hat etwas verloren. Es gibt Verluste, die sind nicht schwerwiegend, sie sind einfach nur ärgerlich. Es gibt aber auch Verluste, die lösen großen Schmerz aus.

    Vom verlorenen Menschen

    Da ist Thomas, ein Mann in unseren Tagen. Thomas hat seine Frau verloren. Nicht, dass sie gestorben ist, nein, sie hat ihn verlassen. Nach nur 7 Jahren möchte sie die Ehe mit Thomas beenden.
    Er ist fassungslos und verletzt. Es reißt ihm den Boden unter den Füßen weg.

    Sie haben sich ein gemeinsames Leben aufgebaut, haben Kinder bekommen, hatten Pläne für die Zukunft.
    Wie werden die Kinder die Nachricht aufnehmen?
    Was soll er seiner Schwester sagen, seinen Arbeitskollegen, was den Verwandten und dem Bekanntenkreis?
    Thomas ist verstört und völlig aus der Bahn geworfen.
    Es zerreißt ihm das Herz. Seine Liebe möchte ihn verlassen. Seine Gedanken überschlagen sich und lassen ihn nicht zur Ruhe kommen.

    Wie soll er weiterleben? Wo soll er nun wohnen? Was wird aus den Kindern?
    Thomas hätte nie geglaubt, dass er je in eine solche Situation kommen könnte. Ihre Ehe war ihm immer ein stabiles Fundament gewesen. Ja, es hatte die eine oder andere Schwierigkeit gegeben, das konnte er nicht leugnen. Aber er hatte nie das Gefühl gehabt, dass er je in eine solche Situation kommen könnte
    „Hast du einen anderen?“, war seine erste Frage. „Ich mochte noch einmal Schmetterlinge im Bauch fühlen.“, war die Antwort. Sie bräuchte einen Neuanfang.
    Neuanfang, das kann Thomas nachvollziehen, das will er auch. Wenn er zurück denkt, so muss er sich eingestehen, dass die letzten Jahre nicht harmonisch waren.

    Auch er möchte einen Neuanfang aber mit ihr.
    Thomas wendet seine ganze Kraft auf, um seine Frau zu bewegen, sich auf einen gemeinsamen
    Neuanfang einzulassen. „Es gibt immer Möglichkeiten“, versucht er sie zu überzeugen: „Du musst nur wollen.“ „Nein“, hat sie gesagt „ich sehe keinen Sinn darin.“ Sie ist konsequent.

    Mit der Zeit merkt Thomas, dass er verloren hat.
    Seine Bemühungen sind gescheitert. Er wird Sie nicht zurück gewinnen können.
    Thomas fühlt sich verlassen und allein.
    Er fühlt sich wie das verloren gegangene Schaf oder wie das Silberstück, das auf
    dem Boden liegt.

    Es gibt Geschichten vom Verloren-Haben und vom Verloren-Sein.
    Nicht jeder Kraftaufwand führt zum Erfolg.
    Nicht immer ist am Ende Freude über Verlorenes, das wieder gefunden worden ist.
    Nicht immer wird am Ende alles gut.

    In den beiden Gleichnissen vom verlorenen Schaf und dem verlorenen Geldstück gibt es ein Happy-End.
    Die beiden Gleichnisse gehen deswegen gut aus, weil Gott selbst der Hirte ist, der die Seinen nicht im Stich lässt.
    Gott selbst ist die Hausfrau, die unermüdlich sucht und nicht aufgibt, bis sie das Geld wiederfindet.

    Worauf sollen wir bauen, wenn unsere Bindungen sich auflösen?
    Wo sollen wir hin, wenn wir schutzlos umherirren?
    Wem können wir vertrauen, wenn wir am Boden liegen?

    Sicherlich auf Gott und seiner Hilfe.
    Gott lässt von den Seinen nicht. Wir gehören zu ihm.

    Wenn wir verloren gehen, geht er uns nach.
    Er sucht solange, bis er uns findet. Gott gibt uns nicht auf, auch wenn wir uns aufgegeben haben.
    Wie der Hirte sich das verlorene und womöglich verletzte Schaf auf die Schulter legt und es nach Hause trägt, so trägt Gott uns, wenn wir verletzt sind.
    Wie die Frau jede Ecke ausleuchtet und das Silberstück findet, so überlässt Gott uns nicht der Dunkelheit.
    Wie die Frau das Silberstück aufhebt, so hebt Gott uns auf, wenn wir am Boden liegen.

    Vom Finden

    Gott kommt, um das Verlorene zu suchen und das Verletzte zu verbinden, so wie Jesus, der gesagt hat: „Ich bin gekommen, das Verlorene zu suchen und das Verirrte zurück zu bringen.“ (vgl. Lk 19,10)

    Manche Pharisäer und Schriftgelehrte verurteilen Jesus.
    „Er nimmt die Sünder an und isst mit ihnen“, werfen sie ihm vor.
    Sie haben nicht verstanden, dass er ihnen ihre Bemühungen, nach Gottes Geboten zu leben, nicht klein redet.
    Sie haben nicht verstanden, dass Jesus möchte, dass sie nicht auf andere Menschen herabblicken, die das nicht so erfolgreich praktizieren wie sie.

    Er will ihnen sagen: „Ihr habt es doch gar nicht nötig, euch über andere zu erheben“.
    Gott hat neunneunzig Gerechte eben so lieb wie einen, der verloren war und wieder gefunden ist. Das eine Schaf bedarf in der Not Gottes besonderer Hilfe, die neunundneunzig kommen im Moment ohne ihn aus. Sie bleiben ja nicht ganz ohne Schutz. Die treuen Hirtenhunde passen auf sie auf.
    Mit der Frau im Gleichnis verhält es sich ähnlich.
    Das verlorene Silberstück braucht zwar nicht wie das Schaf ihre Hilfe. Aber wenn sie das eine Silberstück nicht findet, könnte sie den Ochsen nicht kaufen oder der Brautschmuck wäre nicht komplett.

    Getragen vom guten Hirten, können wir auf jeden neuen Tag hoffen.
    In der Gewissheit, dass Gott uns sucht, wenn wir verloren gehen, können wir beruhigt schlafen. Beruhigt, so wie Miriam, als sie ihren Garli im Arm halten konnte.

    Und auch Thomas darf sich der Obhut Gottes anvertrauen. Sein Leben geht weiter.
    Er darf sich Gottes Hilfe sicher sein.

    Gott führt alles zu einem guten Ziel. Am Ende wird Freude sein.
    Amen.

  • Jesus und Nikodemus

    Jesus und Nikodemus

    Predigt zu Johannes 3,1–8

    Nachtgespräch

    Es ist eine der Nächte, die man nicht vergisst.
    Ich stelle mir eine laue Sommernacht vor. Zwei Freunde sitzen zusammen auf der Terrasse hinter dem Haus. Jeder mit einem Glas Rotwein vor sich auf dem Tisch. Sanft streicht der Wind durch die Zweige. Der Mond wirft sein silbernes Licht auf die Welt. Am Himmel glänzen die Sterne.

    Die beiden Männer reden.
    Je später die Stunde, umso größer werden die Dinge, über die sie sprechen.
    Es sind die Dinge hinter den Dingen, die sie ergründen wollen:
    Woher komme ich?
    Wohin gehe ich?
    Wie kommt Leben in mein Leben?

    Die großen Themen, die großen Fragen des Lebens, brauchen manchmal die Nacht, um ans Licht zu kommen.

    Es ist eine Nacht, die man nicht vergisst. Die Gespräche rühren an die Geheimnisse des Lebens.
    Sie sind kostbar, die Geheimnisse und die Gespräche!

    Auch wenn man Jahre später nicht mehr genau weiß, was eigentlich geredet wurde, das weiß man noch:
    Es ist wichtig gewesen, ungeheuer wichtig.
    Einzelne Worte und Bilder tauchen wieder auf, schwebend wie der Wind.
    Die Erinnerung daran, wie ich mich gefühlt habe in so einer Nacht, taucht wieder auf.
    Es begleitet mich bis heute.

    Da war eine Ahnung vom Leben hinter dem Leben.

    Sympathischer Sympathisant

    Nikodemus kommt zu Jesus in der Nacht.
    Eine Nacht, die auch das Johannesevangelium nicht vergisst.
    Zwei Mal wird es uns, seine Leserinnen und Hörer, später daran erinnern (1).
    Damit wird unterstrichen:
    Es ist wichtig gewesen, ungeheuer wichtig, was da geredet wurde.

    Nikodemus ist nicht irgendwer.
    Er ist eine prominente Persönlichkeit, Mitglied des Obersten Gerichts.
    Warum kommt er in der Nacht?

    Scheut er das Licht der Öffentlichkeit?
    Will er mit Jesus allein sein und ungestört mit ihm »von Lehrer zu Lehrer« (2) reden?
    Weiß er um die besondere Qualität der Nachtgespräche?

    Alles ist möglich. Das darf auch so stehen bleiben.
    Es steht uns nicht zu darüber zu urteilen, ob Nikodemus eher Tadel oder Lob verdient.
    Auf jeden Fall kommt er voller Bewunderung: »Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust.«

    Nikodemus ist ein Sympathisant und selber sympathisch offen.
    Er blufft nicht.
    Er gibt Jesus die Ehre und Würde, die ihm zustehen.
    Er weiß, dass Jesus etwas Besonderes ist und etwas Besonderes bringt – »von Gott«.

    Das führt direkt zum Kern der Sache.

    Antwort auf eine ungestellte Frage

    Die beiden Männer reden in der Nacht.
    Sie reden über die großen Fragen.
    Aber sprechen sie wirklich miteinander?

    Oder reden sie aneinander vorbei? Diesen Eindruck kann man ja schon haben.

    Denn Jesus antwortet dem Nikodemus: »Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.«
    Ist das eine Antwort auf die würdigende Gesprächseröffnung des Nikodemus?
    Und auf welche Frage antwortet Jesus?
    Nikodemus hat doch gar keine Frage gestellt!

    Oder antwortet Jesus doch?
    Auf eine heimliche, leise Frage, die in den Worten von Nikodemus steckt.
    Diese heimliche Frage lautet:
    Wenn du ein Lehrer von oben bist.
    Wenn du von Gott kommst und göttliche Zeichen in diese Welt setzt – was wird denn nun anders werden?
    Denn: Wenn einer von Gott kommt. Wenn einer Gott in diese unsere Welt hineinträgt, dann muss die Welt doch anders werden!
    Dann muss es doch noch einmal neu und anders anfangen in ihr.
    Dann muss diese dunkle Welt doch hell werden.
    Dann muss sich das Unverständliche doch klären und das Elend ein Ende nehmen.
    Dann muss es doch auch bei mir noch einmal neu und anders anfangen.
    Dann muss auch mein Leben hell und klar und liebevoll werden!

    Da sind Nikodemus und Jesus nun ganz nah beieinander.
    Und ich glaube, wir sind da auch ganz nah dabei.

    Alles auf Anfang?

    Jesus antwortet sehr wohl auf diese leise, versteckte Frage.
    Aber was für eine Antwort gibt er!
    >>Nur wer von neuem, von oben her geboren wird, kann das Reich Gottes sehen.
    Der sieht und spürt, wie Gott hier und jetzt wirkt.
    Für den ist Gott da, in der Welt und hinter der Welt. <<

    Wir suchen unseren Weg in der Welt.
    Wir suchen seine, Gottes Zeit in unseren Stunden.
    Wir suchen Leben, wahres Leben in all dem Vorläufigen, das durch unsere Hände geht.  

    Von neuem geboren werden: wie schön wäre das!
    Noch einmal völlig neu anfangen dürfen. Ohne die Last meiner bisherigen Lebensgeschichte.

    Das Leben noch einmal von vorne leben ohne die schicksalhafte Bindung an die eigene Herkunft.
    Denn: »Familie ist Schicksal.
    – Gewiss, vieles von dem, was uns glücklich oder unglücklich machen kann, haben wir selbst gewählt:
    Studium, Beruf, Ehepartner.
    Aber die folgenreichste Quelle von Glück oder Unglück, die Familie, in die wir hineingeboren wurden, haben wir uns nicht ausgesucht.

    Familie ist nicht hintergehbar, nicht korrigierbar.
    Keiner und keine wurde gefragt.
    Mit diesem Gepäck treten wir an, mehr noch: Wir selbst sind dieses Gepäck.« (3)

    Wie schön wäre es, zum allerersten Anfang zurückzukehren. Die Reset-Taste zu drücken. Alles auf Anfang zu setzen.
    Das ganze System »Leben« neu zu starten!

    Aber das geht nicht, meint Nikodemus. Kein Mensch kann das. Das kann nicht einmal Gott.
    Und wenn doch, dann wäre das neue Leben doch wie das alte, nur anders.

    Viele von uns sehnen sich in diesem Frühsommer ja auch gar nicht so sehr nach dem großen Neuanfang.
    Sondern wünschen sich, einfach wieder zur »Normalität« zurückkehren zu können.
    Viele wünschen sich, dort anknüpfen zu können, wo und wie sie sich vor gut einem Jahr befunden haben.
    Andere wünschen sich, dass es nun nach den Erfahrungen der vergangenen Monate doch noch einmal neu und anders anfängt.
    Bei uns, zwischen uns und in dieser Welt.

    Wir haben in der letzten Zeit viel von »Verwundbarkeit« und »Sterblichkeit« gehört und erfahren.
    Dazu bilden Jesu Worte einen hilfreichen und notwendigen Kontrast:
    >>Du bekommst das Leben noch einmal neu geschenkt.<<

    Die Philosophin Hannah Arendt sieht in einem Neuanfang immer ein Wunder.
    Sie schreibt: »Der Neuanfang […] ist immer das unendlich Unwahrscheinliche, er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.« (4)

    Verachtet das >>Fleisch<< nicht!

    Auch die Geburt »aus Fleisch« ist ein Wunder.
    Gerade hat eine Bekannte ein Kind geboren.
    Sie hat es lange, sehnlichst erwartet.
    Sie hat es mit Dankbarkeit zur Welt gebracht.
    Es ist ein Kind der Liebe.
    Nicht nur eine Geburt aus dem Fleisch.

    »Geist« und »Leib« dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
    Das hat schon zu viele Opfer gekostet.
    Auch der Bereich unserer Körperlichkeit – Haut und Knochen und Muskeln und Organe – verdanken wir Gott.

    Und auch der »Geist« lässt sich spüren, wie er im Alltag des Lebens wirkt und wir ihn körperlich wahrnehmen:
    »Du hörst sein Sausen wohl.«

    Noch einmal anders »zur Welt« kommen

    Gottes Geist würdigt das Leben.
    Er heilt es und eröffnet ihm einen neuen Horizont.

    Ich sehe plötzlich, was ich bisher nicht gesehen habe.
    Ich sehe mich selbst anders.
    Ich merke: Ich bin nicht in meiner Unzulänglichkeit gefangen.

    Gewiss: Sie gehören zu mir.
    Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht, meine ganze Ohnmacht, meine Verzagtheit:
    Sie gehören zu mir.

    Aber ich gehöre ihnen nicht.
    Ich gehöre woanders hin.
    Ich gehöre zur Familie Gottes.
    In dieser Familie stehen Gott als Vater, Christus als Sohn und wir als Kinder in einem Verhältnis zueinander, das nicht enger gedacht werden kann. Und das trotzdem Raum zur Entfaltung lässt, einen »Atemraum der Freiheit« (6).

    So komme ich noch einmal anders »zur Welt«, sozusagen mit dem Blick von oben her.
    Mein Leben öffnet sich »wie eine Blüte«.  

    Nikodemus sagt: Ich kann nicht.
    Und er hat Recht.
    Niemand kann sich das selber geben.
    Jesu Antwort heißt deshalb auch nicht: Du musst dich ändern. Du musst dein Leben ändern.
    Jesus sagt: Gott kann.
    »Ein Wind wird kommen …«. »Von oben her« wird es dir widerfahren.  
    Du kannst die Antwort nicht selbst finden.
    Du kannst sie dir schon gar nicht selber geben.
    Die Antwort muss dich finden, sie muss zu dir kommen.

    Und sie kommt zu dir!
    Denn das ist die Antwort:

    Sei bereit gefunden zu werden,
    sei bereit berührt zu werden,
    das Sausen zu hören.

    Der Wind,
    der Geist,
    das Feuer ist da.

    Wer sich von der Antwort finden lässt,
    wer sich berühren lässt,
    dem verwandelt sich die Frage in Staunen:

    Dass das geschehen kann!
    Das ist Leben.
    Wahres Leben.
    Neu geschenktes Leben in all dem Vorläufigen.
    Seine Zeit in meinen Stunden.
    Gottes Reich!   

    Amen.

    (1) Siehe Johannes 7, 51; 19, 39
    (2) Johannes 3, 2.10
    (3) .Jens Jessen, Das wächst sich nicht aus, in: DIE ZEIT, Nr. 4 vom 21. Januar 2021, Seite 33.
    (4) Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 7. Aufl., München 2008, Seite 216f.
    (5) Zit. n. Maren Gottschalk, Wie schwer ein Menschenleben wiegt: Sophie Scholl. Eine Biografie, München 2020, Seite 176.
    (6) Hilde Domin, Das Gedicht als Augenblick von Freiheit, München – Zürich 1988, Seite 48.