Kategorie: Predigt

  • Ein Rätsel – Predigt zu Prediger 12, 1-8

    Ein Rätsel – Predigt zu Prediger 12, 1-8

    Predigt in der Lutherkirche Nürtingen 17.10.2021

    Mögen Sie Rätsel? Ich meine nicht Kreuzworträtsel oder Sudoku. Ich meine dies kleinen Rätselfragen, wie:

    Ich habe einen Rücken aber kann nicht liegen.
    Ich habe Flügel aber kann nicht fliegen
    Ich kann laufen, doch habe ich keine Beine.
    Wer bin ich?

    Wissen Sie es?

    Nun etwas schwieriger:

    Die Hüter des Hauses zittern
    und die Starken krümmen sich
    und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind.
    Finster werden, die durch die Fenster sehen.
    Die Türen an der Gasse schließen sich.
    Die Stimme der Mühle wird leise, wenn sie sich erhebt, wie wenn ein Vogel singt und alle Töchter des Gesangs sich neigen.
    Wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege.
    Wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt.

    Was ist das?

    Diese Rätsel steht in unserem Alten Testament im 12. Kapitel des Buches Koholet.
    Koholet wird euch Prediger genannt.

    Prediger? Vielleicht rumort es in ihrem Kopf.
    Prediger,
    Prediger, da war doch was? Richtig! „Alles hat seine Zeit!“

    Ach ja, das Buch Koholet.
    Alles hat seine Zeit.
    Alles kommt immer wieder.
    Letztlich ist alles menschliche Tun und Lassen nur eitel und Haschen nach dem Wind.

    Irgendwie war das für mich immer genial an der Grenze zwischen Tiefsinnigkeit und Banalität.

    Es ist um das Jahr 200 v. Chr. in Jerusalem. Kohelet beobachtet die Welt. Es sieht die Widersprüchlichkeit der Welt
    Es sieht das scheinbar Immer-Wiederkehrende. Und fragt sich deshalb, ob das menschliche Tun im Ende nicht vergeblich ist.
    Selbst die Suche nach Weisheit, dem höchsten Gut. Alles ist nur eitel und haschen nach dem Wind.

    Was hat das alles mit dem Rätsel zu tun, werden sie sich fragen. Ja, was ist mit dem Rätsel?

    Die Hüter des Hauses zittern
    und die Starken krümmen sich
    und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind.
    Finster werden, die durch die Fenster sehen.
    Die Türen an der Gasse schließen sich.
    Die Stimme der Mühle wird leise, wenn sie sich erhebt, wie wenn ein Vogel singt und alle Töchter des Gesangs sich neigen.
    Wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege.
    Wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt.

    Die Hüter des Hauses sind die Arme.
    Die Starken sind unsere Beine.
    Die Müllerinnen, von denen schon viele fehlen, sind unsere Zähne.
    Die Augen sind die finster werdenden Fester.
    Die sich schließenden Türen sind die Ohren.
    Der weiß blühende Mandelbaum unsere Haare und die beladene Heuschrecke unser schwerer Gang. Nun ist die Lösung klar: Es ist das Alter.

    Dieses Rätsel steht nicht für sich allein.
    Es geht nicht nur um das Alter, sondern auch um die Jugend.
    Der Lehrer Kohelet schreibt seinen Schülern

    Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, –

    Er ist alt geworden der Prediger.
    Er blickt auf das Leben und die Jugend zurück.
    Wehmütig vielleicht, aber nicht resigniert. Letztlich ist alles vergänglich und vieles vergeblich.
    Oft bleibt trotz aller Mühe nichts übrig.

    Trotzdem können wir eine Weite erahnen. Eine Weite, die Gott uns in unser Herz gelegt hat.
    Eine Sehnsucht, die wir spüren können. Wie wenn wir im herbstlichen Nebel ein Gefühl für die strahlende Sonne am blauen Himmel haben.
    Nur wenige Meter über uns, obwohl uns diese graue Masse noch gefangen hält.

    Es gibt mehr als unser tägliches Einerlei.

    Kohelet erahnt das.
    Oberflächlich scheint alles nur Haschen nach dem Wind. Doch da ist mehr! Während er das schreibt, alt und lebenssatt, spürt Koholet, dass er kurz vor der Erkenntnis steht. So wie wir manchmal spüren, dass jeden Moment der Nebel sich schlagartig verziehen wird und wir im Licht stehen werden.

    Alles dreht sich im Kreis.
    Trotzdem sind die Mühen nicht belanglos.

    Genieße deine Jugend, lehrt er, aber bedenke, dass alles Konsequenzen hat und du Rechenschaft ablegen musst.

    Das Leben besteht aus unzähligen vergeblichen Freuden und Sorgen.
    Es wird aufgebaut und abgerissen,
    geliebt und gehasst,
    geweint und gelacht,
    genäht und zerrissen,
    Krankheit und Genesung.

    Wir können uns darüber ärgern.
    Wir können es verdrängen. Wir können aber auch mutig durch Leben gehen. „Geh hin und iss dein Brot mit Freuden,
    trink deinen Wein mit gutem Mut;
    denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen“, denn auch das rät uns Koholet. Und wir können anderen zur Gabe Gottes, zum Lichtblick, zum Sonnenstrahl oberhalb des Nebels werden.
    Zum Versprechen, dass doch nicht alles nur Haschen nach dem Wind ist.

    Kohelet schreibt die letzten Zeilen seines Buches und gönnt sich dabei die kleine Eitelkeit, den Schülern ein Rätsel mit auf den Weg zu geben:

    Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.
    Er lächelt.
    Kohelet schließt die Augen, sieht das Licht und spürt den Frieden Gottes.
    Der Friede Gottes, der größer ist als alle unsere menschliche Vernunft und Vorstellungskraft.

    Amen

    PS: Die Lösung des Rätsels vom Anfang:
    Es ist die Nase.

  • Meine eigene kleine Hölle – Predigt zu Jesaja 38,10-20

    Meine eigene kleine Hölle – Predigt zu Jesaja 38,10-20

    Meine eigene kleine Hölle

    Jeder trägt seine eigene kleine Hölle mit sich herum.
    Jeder trägt sie mit sich.
    In sich.

    Hiskia, der König von Juda, hatte auch seine Hölle.
    In seinen besten Jahren befällt ihn eine heimtückische Krankheit.
    Er weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat.
    Er ruft: „In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre.“

    Jeder trägt seine eigene kleine Hölle mit sich herum.
    Nicht immer ist es eine schwere Krankheit.
    Vielleicht ist es der Streit in der Familie, der mich kaputt macht. Es tut weh, wenn ein Kind nichts mehr von einem willen will.
    Oder es ist der Lebenstraum, der nicht wahr werden kann.
    Oder eine Beziehung, die nicht gesund ist. Die nur noch quält.
    Eine Lebenssituation, die völlig unbefriedigend ist.

    Jeder trägt seine eigene kleine Hölle mit sich herum.
    Mancher von uns kann das offen zeigen. Spricht es aus, lässt den Tränen ihren Lauf.
    Andere können das nicht. Innen drin ist so viel Leere.
    Oder sie wollen es nicht. Lieber auf stark und unantastbar machen.
    Aber jeder trägt sie mit sich herum.

    Die Hölle

    Hölle, im Hebräischen Grundtext bedeutet es Totenreich.
    „[…] zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen“, schreit König Hiskia.
    In der alten Vorstellung der Hebräer war das Totenreich ein dunkler unwirklicher Schattenort, in dem die Toten vor sich hindämmern.
    Ein Unort.
    Ein Ort, der gottverlassener nicht sein kann.

    „Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue“, heißt es hier in der Bibel (Jes 38,18).

    Nach dieser Vorstellung ist das Totenreich, der Ort der Abwesenheit Gottes.
    Denn der Gott Israels ist ein lebendiger Gott.
    Und die Toten sind von ihm entfernt.

    Und genau das ist doch die kleine Hölle, das kleine Totenreich, das wir in uns tragen.

    Wenn das Leben an uns vorbeizieht.
    Wenn alles sinnlos ist.
    Wenn wir fern vom Leben, fern von Gott sind.

    Der Gott des Lebens

    Bei König Hiskia schlägt die Stimmung plötzlich um.
    Er bekommt von Gott noch 15 Jahre geschenkt.
    Plötzlich spricht er nicht mehr von seiner Hölle, sondern ruf in die Welt hinaus: „Er hat’s getan!“ – „Gott hat es getan!“.
    Da ist plötzlich etwas anders geworden.
    Da ist das Leben zurück gekehrt.
    Und Hiskia fühlt sich so lebendig wie noch nie.
    Seine Probleme haben sich nicht in Luft aufgelöst.
    Seine kleine Hölle ist immer noch da.
    Aber er hält am Gott des Lebens fest.

    Und er merkt:
    Es ist da in meiner kleine eigenen Hölle.
    Er kommt mit seiner ganzen Lebendigkeit in mein Leben.
    Nicht die Genesung bringt die entscheidende Veränderung. Es ist nicht so, dass Hiskia von heute auf morgen gesund ist. Sondern Hiskia erfährt den Gott des Lebens.

    An diesem Gott des Lebens hält Hiskia fest – komme, was da wolle.
    Und genau dadurch kippt die Stimmung.
    Veränderung passiert nicht, wenn sich meine kleine Hölle, mein Problem, in Luft auflöst.

    Die Veränderung geschieht, wenn ich im festen Vertrauen auf Gott dem Leben begegne.
    Wenn ich an dem festhalte, der das Leben ist und sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben.“ (Joh 11,25)
    Dann erfahre ich den Gott, der uns am Ostermorgen seine ganze Lebendigkeit beweist. Dessen Lebendigkeit auch keinen Halt vor den Pforten des Todesreiches macht.
    Der uns durch die Taufe versprochen hat, dass er uns annimmt ohne Vorbedingung, ohne Vorleistung – einfach so aus Gnade.

    Dann kann ich wirklich leben.
    Trotz meiner eigenen Hölle.

    Dann kann ich mich fest daran klammern.
    Ganz egal, was kommt.
    Ganz egal, wie sehr mich dieses Leben und diese Welt kaputt machen möchte.
    Dieser Gott des Lebens, der auferstandene Christus trägt mich.
    Lässt mich dem Abgrund standhalten.
    Und ermöglicht es mir meine Hölle zu verlassen.

    Er ruft uns zu: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben.“ (Joh 11,25)

    Amen

  • Antikes Fundraising – Predigt zu 2. Korinther 9, 6–15

    Antikes Fundraising – Predigt zu 2. Korinther 9, 6–15

    Taufgottesdienst in Beuren 03.10.2021

    Hören wir auf unseren Predigtstext aus dem 2. Brief an die Korinther 9, 6-15

    Seltsamer Predigtext

    Als ich den Text gelesen habe, da dachte ich:
    Ist das nicht ein furchtbarer Predigttext?
    Und dann auch noch für einen Tauf-Gottesdienst.
    Was für ein Durcheinander. Was will uns denn der Paulus da sagen?

    Das Einzige, was bei mir hängen geblieben ist, war der Satz: „Wer fröhlich gibt, den hat Gott lieb.“
    Ich mag es nicht, wenn so getan wird, wie wenn Gottes Liebe durch Spenden erkauft werden könnte.

    Und soviel ist schon mal klar: Hier handelt es sich um einen Spendenaufruf.
    Paulus betreibt also Fundraising.

    Als Paulus diesen Brief an die Korinther schrieb, litten die Gläubigen in Jerusalem unter Verfolgung. Das wirkte sich auch auf ihre finanzielle Situation aus. Sie hatten nicht genug und deswegen forderte Paulus die Gläubigen in Korinth auf, ihnen etwas von ihrem Geld abzugeben, um die armen Geschwister im Glauben zu unterstützen.

    Aber ehrlich, warum muss Paulus da erst dreimal um den heißen Brei herumschleichen? Sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge?

    Ich wollte schon den Text weglegen und einen anderen Predigttext aussuchen, der weniger beschwerlich ist und auch besser zu einer Taufe passt. Eigentlich gehört er ja auch zu einem Erntedankgottesdienst. Aber ich habe mich noch einmal hingesetzt und den Text ein paar mal durchgelesen.

    Auf einmal ist mir etwas aufgefallen.

    Ja, es gibt dieses Durcheinander der Gedanken.
    Und es gibt Worte wie „spärlich“, „widerwillig“, „Unwillen“ und „Zwang“, die eine negative Aura verbreiten.

    Aber es gibt auch eine ganze Menge anderer Worte:
    Fröhlich, lieb, reichlich, voll, gut, mehren, wachsen, reich, Früchte ernten, danken, überschwänglich, …

    Das hört sich doch ganz anders an.
    Das klingt positiv und vielversprechend.

    Wie kommt es, dass so viele wunderschöne Worte in diesem seltsamen Predigtext stehen?
    Vielleicht ist das eigentliche Thema des Textes ja gar nicht das Geld, die Spenden, die Kirchensteuer ….

    Vielleicht ist das eigentliche Thema des Textes: Die Lust am Leben.

    Lust am Leben – wie das?

    Zuerst geht es wohl nicht darum, dass wir zum Geben aufgefordert werden und das gefälligst auch noch fröhlich zu tun haben.
    Denn das geht gar nicht!

    Der eigentliche fröhliche Geber ist doch eher Gott.
    Diese schönen Worte stehen für den großen Überfluss, den Gott uns geben will.
    Wir können uns darauf verlassen, dass Gott reichlich gibt. Dadurch wird der Text ein echter Predigttext für Erntedank und eben auch für Taufen.

    Ich glaube, dass es praktisch in allen zentralen Texten der Bibel genau darum geht:
    Gott ist ein Liebhaber des Lebens.
    Darum will er, dass wir auch Lust am Leben haben, dass es uns gut geht.
    Darum können wir mit der Taufe von Kindern der Welt ein Zeichen geben, dass die Liebe Gottes uns geschenkt wird. Gott möchte mit uns sein, ohne dass wir uns seine Liebe erarbeiten, ohne dass wir sie uns verdienen müssen.

    Natürlich weiß die Bibel, ebenso wie auch Paulus, dass das nicht immer so einfach ist.
    Es gibt so viel in unserem Leben, das uns die Lust am Leben vermiesen kann.
    Dafür stehen die Worte „kärglich“, „Unwillen“, „Zwang“.
    So manches saugt uns die Kraft aus, wie ein Vampir.
    So manches ist ungerecht, schwer, und geht über unsere Kraft.

    Manchmal fühlen wir uns ausgelaugt, leer und ausgetrocknet.

    Eine Taufe erinnert uns daran, dass es auch diese andere Seite gibt.
    Es gibt nicht nur Schweres, sondern auch das, was uns die Lust am Leben geben kann.
    Sozusagen das Wasser, das uns zum Blühen bringen kann.

    • Liebe – dass es Menschen gibt, die uns lieben.
    • Friede – auch mit uns selbst und mit anderen Menschen
    • Zufriedenheit – das Glas ist halb voll; auch wenn es manches gibt, was es leer machen will.
    • Dankbarkeit – es lohnt sich darüber nachzudenken, wofür ich dankbar sein kann.
    • Freude – wenn und Freude begegnet, dass wir sie wahrnehmen. Bein Feiern – wenn wir Familienfeste feiern, wie heute die Taufen.
    • Früchte – auch das ist nicht immer offensichtlich, aber meist kommt etwas davon zurück von dem, was wir der Welt, den Menschen um uns geben Im Beruf, in der Familie, bei Freunden und auch bei Fremden.
    • Kinder – die uns immer wieder zum Lachen bringen, die uns ohne Vorbehalt lieben, die uns zeigen, wie unbeschwert das Leben sein kann

    Alle diese wunderschönen guten Worte sind doch wie Bestandteile eines Segens.

    Segen ist die Lust am Leben

    Schließlich ist mir ein des Teil des ersten Satzes in Auge gefallen: „Wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen.“
    Oder anders ausgedrückt: Der Segen Gottes für uns ist die Lust am Leben.

    Ja klar, das ist nicht immer spürbar. Aber wir können daran festhalten in Glauben und Hoffnung.
    Wir müssen nicht aufgeben.
    Wir müssen nicht auf den Scherben unseres Lebens sitzen bleiben.

    Gott wird seinen Segen über uns ausschütten. Das ist was er will.
    Das wirkliche Leben, die Fülle mitten in unserem Alltag. Den Segen für alles Arbeiten, Schaffen und Mühen. Den Segen der Kinder.

    Eben letztlich die Lust am Leben.

    So kann auch eine Taufe ein wirkliches Fest des Dankes , ein Erntedankfest sein.
    Ein Fest über ein neues Leben und die vielen anderen Dinge, die unser Leben so reich machen.

    Dank sei Gott für seine Gabe, die so unbeschreiblich groß ist.

    Amen

  • Klagen erlaubt

    Klagen erlaubt

    Predigt über Klagelieder 3,22‑32

    Manche Christen denken, sie dürfen nicht klagen.
    Außer über die Schlechtigkeit der gottlosen Welt.

    Sie meinen, ein Christ muss immer fröhlich sein.
    Das ist ein Irrtum, wenn auch weit ver­breitet.

    Wir Kinder Gottes dürfen durchaus klagen.
    Selbst ein ganzes Buch der Bibel steht unter der Überschrift „Klagelieder“:
    Es sind Klagegebete des Propheten Jeremia, der in seinem Leben unheimlich viel Leid erleben musste.

    Unser Predigttext ist ein Stück aus so einem Klagelied.
    Auch viele Psalmen sind Klagelieder.
    Christen dürfen also klagen – voraus­gesetzt, sie haben Grund dazu.
    Und sie wenden sich mit ihrem Klagen an die richtige Adresse.

    Unter Klagen verstehe ich nicht das das alltägliche Gejammere, das oft zu einer schlechten Angewohnheit geworden ist.
    Da wird geklagt, wenn im Supermarkt die Schlange an der Kasse zu lang ist.
    Da wird geklagt, wenn das Essen nicht schmeckt.
    Da wird geklagt, wenn das Geld nicht reicht, sich alles alles leisten zu können, was gerade in den Sinn kommt.
    Da wird geklagt, dass sich jemand ungerecht behandelt fühlt.

    Ja, in Deutschland hören wir einen nicht enden wollenden Chor von Klage­liedern, obwohl wir doch mit unserem Lebensstandard weitaus mehr Grund zum Loben und Danken haben als zum Klagen.

    Aber wer wirklich Grund zum Klagen hat, der darf auch klagen.
    Besonders dann, wenn sein normales bisheriges Leben zerstört wird.
    Wenn sich seine Träume und Hoffnungen zer­schlagen.
    Wenn kaputt geht, was er sich mühevoll aufgebaut hat.

    Die Familie aus Arweiler darf klagen. Sie haben sich ein Haus gebaut, einen Garten anlegt und ein Auto zusammen­gespart.
    Und nun ist alles weg.
    Garten, Auto und Haus mit allem, was sich darin befand.
    Sie besitzen nur noch, was sie am Leibe getragen haben, als die Flut kam.

    Oder die Frau in ihrer Lebensmitte darf klagen, die plötzlich die Diagnose „Krebs“ erhält und hört, dass medizinisch keine Hoffnung besteht.
    Sie weiß, sie wird noch dringend gebraucht.
    Auch hatte sie noch so viele Pläne und Hoffnungen für ihr Leben, und nun muss sie damit rechnen, dass es in kurzer Zeit zu Ende geht.

    Der Geschäfts­mann darf klagen, der mühsam eine Existenz gegründet hat, der Kredite aus­handelte, der von früh bis spät hart arbeitete und nun durch Corona bankrott gegangen ist.

    Auch Jeremia durfte klagen und das Volk der Juden.
    Die Babylonier hatten die ganze Stadt Jerusalem verbrannt und vom heiligen Tempel war nur noch ein trostloser Trümmerhaufen übrig geblieben.
    Die Elite des Landes, Anführer, Handwerker, Adel, Geistliche sind in die Sklaverei nach Babylon geführt worden. Die Toten sind begraben.
    Nur das einfache Volk durfte, musste bleiben. Damit das Land bestellt werden kann.

    Dieses entsetzliche Geschehen der Babylonischen Gefangenschaft ist Gegenstand vieler Klage­psalmen in der Bibel und auch der Klagelieder Jeremias.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die Stadt zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn das Haus zerstört ist

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die Gesundheit zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die berufliche Existenz zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn die menschliche Hoffnung zerstört ist.

    Ja, wir dürfen klagen, wenn das irdische Lebensglück zerstört ist.

    Wer wirklich Grund dazu hat, darf klagen, voraus­gesetzt, er wendet sich an die richtige Adresse.

    Das wird oft ein lieber, verständnisvoller Mensch sein, bei dem das Herz ausgeschüttet werden kann.
    Vor allem aber ist es unser Vater im Himmel, denn wer hätte mehr Liebe und Verständnis als er?
    Deshalb sind die Klage­psalmen und Klagelieder der Bibel allesamt nach oben gerichtet, an Gottes Adresse.
    Ja, es tut gut, sich mit allem Jammer, aller Klage und allem, was das Herz bedrückt an Gott zu wenden.

    Verhängnisvoll wäre es, sich in so einer Lage von ihm abzuwenden, den Glauben aufgeben und sich von Gott im Stich gelassen fühlen.
    Wer sich mit seiner Klage an Gott wendet, der kann die Erfahrung machen, dass Gott ihn dann tröstet.

    Von diesem Trost handelt der Abschnitt aus Jeremias Klagelied, den wir als Predigttext gehört haben.

    Es ist kein ungewisser Trost, keine nebulöse Hoffnung.
    Es ist auch kein leeres Gerede.

    Gottes Trost ist verlässlich, klar und wunderbar.
    „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind.“
    Wir leben noch – dank der Güte Gottes.
    Und wir werden weiterleben, komme, was da wolle.

    Jesus ist gestorben, damit wir ewig leben können:
    Und dieses Versprechen Gottes gilt für uns alle, ohne Einschränkung.

    Gott mag uns viel Schweres zumuten, aber verstoßen will er uns nicht.

    Leben bedeutet, dass Gott bei uns bleibt und wir bei ihm.

    Gott garantiert uns nicht, dass sich von uns erwünschte Lebens­verhältnis­se einstellen.
    Auch nicht, dass ich Besitz und Gesundheit wieder in vollem Umfang zurück­erlange.

    Aber Gott garantiert uns, dass er zu uns hält. Dass er bei uns ist und er es immer gut mit uns meint.

    „Seine Barmherzig­keit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.“

    „Teil“ bedeutet „Erbteil“ oder „Besitz“:
    Wenn ich auch alles verliere, was Natur­katastro­phen, Wirtschafts­krisen oder Pandemien mir rauben können, Gott werde ich nicht verlieren.
    Gott kann ich nicht verlieren, er bleibt mein Teil.

    „Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“

    Wenn wir mit dieser Einstellung Gott unser Leid klagen und zugleich diesen Trost erfahren, dann stellt sich die Erkenntnis ein:

    „Der Herr verstößt nicht ewig.“

    Das verstehe ich so:
    Gott mutet uns nicht andauernd und in Ewigkeit leidvolle Erfahrungen zu.
    Es sind vielmehr vorübergehende Verluste, die zwar im Augenblick sehr weh tun aber kein endgültiger Untergang sind.

    Mit anderen Worten:
    Wer Gott sein Leid klagt, der schöpft wieder Hoffnung.
    Ohne Gott kann das Klagen zur Verzweiflung führen.
    Ohne Gott muss der Mensch annehmen, er wäre nur ein Staubkorn im Universum.
    Ein Staubkorn, das vom Zufall beliebig hin und her geweht wird und am Ende vergeht.

    Mit Gott aber kann mitten im Klagelied plötzlich ein Loblied aufkeimen – wie bei Jeremia:
    „Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“

    Das ist dann auch echt. Und es muss vom Leidtragenden kommen. Nicht von außen.
    Von Außenstehenden wirkt das wie ein falscher Kalenderspruch.

    Aber wenn diese Erkenntnis von innen kommt, dann hilft diese Erkenntnis dem Klagenden ihn zu trösten.
    Sie zeigt ihm, dass Gott ihn nicht verstoßen hat.
    Sie bewahrt ihn vor der Verzweiflung.

    Diese Hoffnung gibt ungeheuer viel Kraft, das Schwere zu tragen.
    Sie beflügelt den Menschen, ganz anders mit seiner Situation umzugehen und viel mehr Geduld zu haben, als wenn die Hoffnung nicht da wäre.

    Darum glaube ich, dass wir auch dann, wenn wir berechtigten Grund zur Klage haben, unsere Klagelieder und Klagegebete mit Lob und Dank vermischen sollten:
    „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“

    Amen.

  • Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a

    Das Schlimmste ist das Schweigen – Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a

    13. Sonntag nach Trinitatis – Wolfschlugen 29.08.2021

    Unser Predigttext steht im 1. Buch Mose 4, 1-16

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Kain redet nicht mit Abel. 

    Dabei gäbe es viel zu reden:  
    Über Eva, die Mutter, die bei Kains Geburt jubelt und bei Abels nicht.  
    Über die Namen, die ihnen die Eltern gegeben haben:
    Kain lässt sich vermutlich „von erwerben/erschaffen“ ableiten,  
    Kain, der Erschaffene/Erworbene.  
    Der Name könnte auch von „Lanze“ kommen.  
    Abel dagegen heißt übersetzt „Windhauch“ oder auch „Nichts“. 

    Es sind schicksalhafte Namen, die für jedes Kind zu schwer wären.

     Was haben sich die Eltern dabei gedacht?  
    Wie können Eltern ein Kind „Nichts“ nennen?  
    Das wäre doch schon Gesprächsstoff für die Brüder genug, oder?  
    Und müsste nicht eigentlich Abel der Zornige sein?  

    Aber sie sprechen nicht miteinander. 

    Sie könnten über noch mehr reden:  
    Kain wird Ackerbauer, und Abel Viehzüchter.  
    Sie gehen verschiedene Wege – schon die ersten Menschenkinder sind verschieden, und wir sind es nach ihnen.  
    Wir haben verschiedene Berufe, verschiedene Lebensentwürfe, verschiedene Vorlieben, wir mögen verschiedene Musik, wir wählen verschieden, wir lieben verschieden…  

    Wir hätten uns so viel zu erzählen:  
    Wie siehst Du das? 
    Wie verstehst Du das? 
    Wovon träumst Du? 
    Was würdest Du heute anders machen? 

    Aber sie reden nicht miteinander, die ersten Menschenkinder.

    Das Schweigen ist das Schlimmste. 

    Und dann kommt der Tag, an dem Kain und Abel Gott opfern.
    Sie ehren ihn beide.
    Kain opfert Früchte des Feldes, Abel opfert ein Lamm. 
    Beide opfern, was sie haben.

    Aber Gott sieht nur Abel, den „Windhauch“, und sein Opfer gnädig an. 
    Kain und sein Opfer sieht er nicht gnädig an.
    Er ignoriert Kain.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Kain redet nicht mit Abel.
    Dabei gäbe es jetzt so vieles zu fragen:  
    „Warum du und ich nicht? Verstehst du das?“ 

    Kain redet auch nicht mit Gott.  
    Dabei ist gerade das das Naheliegendste:  
    „Warum, mein Gott, ignorierst du mich?  
    Ich bin doch wie Abel dein Menschenkind!  
    Sag mir, Gott, was das soll!  
    Sag mir, Gott, warum die einen leben, als würdest du sie bevorzugen – und die anderen leben, als sähest du sie gar nicht?  
    Wie soll ich mir diese Ungleichheiten erklären?  
    Was hast du, Gott, damit zu tun?“ 

    Aber Kain redet nicht mit Gott.  
    Er hätte schreien und toben können. 
    Gott zur Rechenschaft ziehen.  

    Er hätte mit Gott in einen heiligen Streit eintreten können.
    Manchmal gibt Gott ja nach.
    Manchmal lässt er sich überreden.

    Wie er sich von Mose nach der Geschichte mit dem Goldenen Kalb überreden lässt, sein Volk doch nicht zu vernichten. (2. Mose 32)  

    Oder so wie Jesus sich von der kanaanäischen Frau überreden lässt, ihre Tochter zu heilen, obwohl er zu Beginn gesagt hat: „Sie gehört nicht zu Israel. Ich bin nicht zuständig.“ (Matthäus 15, 21-28)  

    Manchmal bereut Gott sogar, was er getan hat:  
    Im Buch des Propheten Hosea stürzt Gott deswegen in eine tiefe Krise.  
    Er müsste, aber er kann sein Volk nicht verlassen; er leidet unter seinem eigenen Beschluss, und nimmt ihn am Ende zurück.
    30 x ist immerhin von der Reue Gottes in der Bibel die Rede!  

    Aber Kain versucht es erst gar nicht.  
    Er redet nicht mit Gott.
    Kein einziges Wort.
    „Du ignorierst mich?! Ich ignoriere dich.“
    So staut sich in Kain der wortlose Zorn an.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Darum ergreift nun Gott das Wort.  
    Er stellt Kain Fragen.
    Fragen, die Kain zum Reden bringen und damit Schlimmeres verhindern wollen:  

    „Warum ergrimmst du?
    Warum guckst du nach unten und schaust niemanden an?
    Wenn du Gutes tust, kannst du allen frei ins Gesicht sehen. Ist es nicht so?
    Und wenn du nicht Gutes tust, dann lauert die Sünde vor der Tür.
    Du aber herrsche über sie, damit sie nicht über dich herrscht.“ 

    Kain antwortet nicht.  
    Von Gott zur Rede gestellt verhält er sich wie ein bockiges Kind, das die Arme verschränkt und die Lippen zusammenpresst.  

    Gott hat Fragen an uns.  
    Gott ist in Sorge, dass unser bockiges Schweigen zur Brutstätte des Bösen wird.  
    Er ruft:  
    „Rede doch, Menschenkind!  
    Rede mit mir!  
    Rede dir deinen Grimm von der Seele, deinen Frust, deinen Hass, deinen Neid, dein Nichtverstehen, deine Wut – rede dir das von der Seele, bevor du dich nicht mehr selbst beherrschen kannst und deinen Verstand verlierst!“  
    Aber Kain redet nicht mit Gott.  

    Das Schlimmste ist das Schweigen. 

    Stattdessen geht er mit Abel auf das Feld.  
    Die Lutherbibel lässt Kain hier das erste Mal reden: „Lass uns, Abel, aufs Feld gehen.“  
    Aber das gibt der Originaltext nicht her.  
    Da steht einfach nur:  
    Sie gehen aufs Feld.  
    Vielleicht hat es Luther auch nicht ertragen, dass Kain nicht spricht. 

    Sie gehen schweigend aufs Feld.  
    Die Brüder hätten sich so viel zu sagen, aber sie reden nicht miteinander.  
    Aus dem schrecklichen Schweigen entsteht die furchtbare Tat.  
    Kain erhebt sich gegen Abel, er macht sich groß, the greatest, und schlägt Abel tot.  

    Jetzt ist Abel, was sein Name immer vorhergesagt hat: Er ist ein Nichts.  

    Ob Kain hofft, dass mit Abels Beseitigung in seinem Herzen jetzt Ruhe einkehrt?  

    Vermutlich.  
    Kain hat das Ventil in seinem Innern gelöst.  
    Sein aufgestauter Zorn, sein Neid – jetzt sind sie raus, sind in der Welt.  
    Und wer soll es schon gesehen haben?  
    Es gibt ja nur diesen einen Bruder.  
    Kain braucht fortan keinen Vergleich mehr mit irgendjemandem zu fürchten.  
    Sein Opfer wird in Zukunft das einzige sein.  
    Er muss mit niemandem mehr teilen.  
    Er hat alles für sich allein.  
    Jetzt muss er nicht mehr reden.  
    Jetzt – kann er nicht mehr mit Abel reden… „ 

    Da ergreift Gott ein zweites Mal das Wort.  
    Wieder stellt er Kain eine Frage: „ 
    Wo ist dein Bruder Abel?“  
    Vielleicht ist es Gottes drängendste Frage überhaupt: 
    „Wo ist dein Bruder Abel?“  

    Was antworten wir, wenn Gott uns heute diese Frage stellt: „Wo ist dein Bruder Abel?“  
    Sagen wir die bittere Wahrheit oder schieben wir die Verantwortung so lange von A nach B und B nach C und C nach D, bis sie sich verflüchtigt und niemand mehr weiß, wie die Frage eigentlich lautete:
    „Wo ist dein Bruder Abel?“ 

    Ich schau mich um in der Welt. 
    Ich sage nur: Afghanistan. 
    Die Bundestagsmehrheit hat im Mai den Antrag abgelehnt, viele gefährdete Menschen schnell zu retten. 
    Und nun ist das Desaster da. 
    Wir hätten viele rechtzeitig retten können. 
    Nun werden viele davon sterben. 

    Und aus vielen Ecken höre ich es raunen: 
    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 
    »Mir doch egal, geht mich nichts an, keine Ahnung, 
    interessiert mich auch nicht. 
    Wir können ja nicht die ganze Welt retten.« 

    Ich schaue aufs Mittelmeer. 
    Da ertrinken nach wie vor tausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. 

    »Wo ist dein Bruder Abel?« 

    Und aus vielen Ecken höre ich es rufen: 
    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 
    »Ist mir doch egal, wir können nicht noch mehr aufnehmen,  das sind doch alles nur Wirtschaftsflüchtlinge. 
    Geht mich nichts an, interessiert mich auch nicht. 
    Hauptsache, die bleiben weg.« 

    Ich sehe im Fernsehen die Bilder von »Fridays for Future«. 
    Kinder und Jugendliche gehen auf die Straße. 
    Für ihre Zukunft. 
    Das ist komisch. 

    Als ich ziemlich jung war, also vor 30, 40 Jahren, da habe ich ganz oft gehört, wie Erwachsene gesagt haben: 
    »Ich will, daß es meinen Kindern mal besser geht«. 
    Diesen Satz höre ich heute nirgendwo mehr. 
    Ganz im Gegenteil. 
    Die jungen Leute werden lächerlich gemacht: 
    »Die sollen lieber zur Schule gehen.« 
    Und sie werden gedemütigt, verspottet, in den Dreck gezogen, und in den finsteren rechten Ecken des Internets wünscht man den jungen Frauen Vergewaltigungen an den Leib. 
    Sie gehen ja nicht auf die Straße, weil sie irgendwas mehr haben wollen. 
    Sondern weil sie überhaupt noch leben wollen auf diesem geschundenen Planeten. 
    Sie wünschen sich nichts weiter als Zukunft. 
    Und die Wissenschaft bestätigt das, was sie sich wünschen. 

    »Wo ist dein Bruder Abel?« 

    »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?« 

    Das tönt aus vielen finsteren Ecken. 
    Es tönt von den Verspottern und Egoisten und denen, die einfach nur alles lassen wollen, wie es ist – 
    »nach mir die Sintflut«. 
    »Ist mir doch egal, was geht’s mich an, interessiert mich nicht, laßt mich in Ruhe, was gehen mich die kommenden Generationen an. 

    Was gehen mich die Leute in Afghanistan an? 
    Was kümmern mich die Menschen auf dem Mittelmeer? 
    Was kümmert mich fremdes Elend?« 

    „Ich weiß nicht“, sagt Kain, „soll ich meines Bruders Hüter sein?“  

    Eine handfeste Lüge gepaart mit einer frechen Gegenfrage.  
    Wir wissen, wo unser Bruder Abel ist.  
    Er ist tot.  

    Erschlagen, geköpft, zertrampelt vor den Toren eines Flughafens, aus Versehen von der sicheren Liste gestrichen, ohne bürokratisches Reisevisum stehengelassen, im Mittelmeer ertrunken, weil wir die rechten Wähler nicht verlieren und unseren Wohlstand nicht teilen wollen.  

    „Wo ist dein Bruder Abel?“  

    Gottes Stimme gellt über diesen Planeten.  
    „Was hast du getan?“  

    Das Schweigen auf diese Frage ist das Schlimmste. 

    Kain aber hat sich geirrt.  
    Von wegen „niemand hat es gesehen“!  
    Gott hat gesehen.  
    Gott hat gehört.  
    Der Mensch, der Kain ein Nichts war, ist Gott alles. 
    Der Mensch, den Kain beseitigt hat, ist bei Gott präsent.  

    Am Tag der Toten, dem Allerseelen, sprechen die Menschen in Mexiko ihre Toten mit Namen an und dann rufen sie „El esta presente“:  
    Er/Sie ist hier, gegenwärtig. 

    Kain kann Abel töten, er kann Abels Blut vergießen, aber er kann nicht verhindern, dass das Schreien des Blutes von der Erde bis zum Himmel dringt – bis an Gottes Ohren.  
    Und ehrlich, ist das in diesen Tagen auch mein Trost. 
    Gott hört das Schreien des vergossenen Blutes, es wird sich nicht in eine schnell vergessene Radiomeldung verwandeln, es bleibt Gott im Ohr, gegenwärtig, „el presente“.

    Kain hat sich geirrt, und er irrt sich ein zweites Mal: 
    Sein Bruder ist zwar tot,  
    er muss das Feld nicht mehr mit ihm teilen,  
    aber das Blut seines Bruders hat die Erde erschöpft. 
    Sie gibt ihren Ertrag nicht mehr her.  
    Das ist mehr Konsequenz als dass es Strafe ist.  
    Kain muss erkennen, dass alles zusammenhängt, der Brudermord hängt mit der Ernte zusammen, unser Umgang miteinander mit der Natur.  
    Das Netz, das Gott in der Schöpfung geknüpft hatte, ist zerrissen. 

    Am Ende spürt Kain die Schwere seiner Tat.
    Er hatte sich mit der Beseitigung seines Bruders Erleichterung verschaffen wollen, aber jetzt erkennt er: „Die Strafe ist zu schwer“, sagt er, „ich kann sie nicht tragen.“ 

    Hört Ihr es?  

    Kain bricht sein Schweigen.  
    Jetzt, wo er Angst hat, dass sich an ihm wiederholt, was er seinem Bruder angetan hat (dass er zum „Abel“ wird), da redet er mit Gott.  
    Aufrichtig.  
    Keine Lüge kommt mehr aus seinem Mund, kein frecher Spruch mehr, kein Verantwortung von sich schieben.  
    Das macht ja auch keinen Sinn mehr.  
    Kain klagt Gott: „Siehe, ich muss jetzt fort von hier. Der Acker gibt den Ertrag nicht mehr her. Darum muss ich fortgehen, unstet und flüchtig über die Erde ziehen. Wer mich findet, wird mich totschlagen.“ 

    Aber Kain irrt sich noch ein drittes, letztes Mal:  
    Gott greift dem Rad der Gewalt in die Speichen.  
    Er macht an Kain ein Zeichen, ein Tattoo, dass Menschen davon abhält, ihn, den Mörder, zu töten. 
    Kain hat ein schweres Leben vor sich, aber die Gnade Gottes geht mit ihm. 

    Die Geschichte von Kain und Abel ist unserer aller Geschichte.  
    Sie wiederholt sich jeden Tag.  
    Aber sie muss sie nicht jeden Tag wiederholen.  

    Sie wird uns erzählt, damit sie sich nicht wiederholt. 
    Schon das ist Gnade.  
    Das Schlimmste in der Geschichte ist das Schweigen. 

    Mit Gott und miteinander reden, zuhören, fragen, in die Schuhe der anderen steigen, streiten um das, was wichtig ist – ändert Geschichte.  

    Amen.