Kategorie: Matthäus

  • Volkstrauertag und Weltgericht

    Volkstrauertag und Weltgericht

    Predigt zu Matthäus 25, 32-46 am 19.11.2023 in der Veitskirche in Nehren

    Der Staat Israel verleiht seit seiner Staatsgründung im Jahre 1948 an Nichtjuden, an Ausländerinnen und Ausländer den Ehrentitel: „Gerechter unter den Völkern“. Es werden Menschen geehrt,  
    die während des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges Juden geholfen haben, den Nazi-Schergen zu entkommen. 

    Erinnern sie sich noch an den Text unserer Schriftlesung? Wie der Hirte die Schafe und Böcke trennt? 

    Jesus setzet voraus, dass bestimmte ethische Regeln immer und überall gelten.  Diese Regeln sind aus sich selbst heraus wahr.  Selbst dann, wenn sie niemals verkündet wurden.  Selbst dann, wenn sie nicht bekannt wären. 

    Denn beide Gruppen in dieser großen Rede Jesu, 
    die Schafe zur Rechten und die Böcke zur Linken, reagieren erstaunt,  
    als der Weltenrichter ihnen die ethischen Maßstäbe für ein menschliches Leben vorhält:  Mitleid zu haben mit den Hungernden; 
    die Armen zu nicht beschämen, sondern ihnen ihre Armut zu lindern und ihre Würde zurückzugeben; 
    den kranken Nachbarn besuchen  
    oder auch jemanden, der gefangen ist  

    Das haben die einen, ohne groß nachzudenken, getan.  Die anderen, ebenfalls ohne nachzudenken, versäumt.  

    Am heutigen Volkstrauertag geht es um die ethischen Maßstäbe, die jeder Mensch wissen kann. Die immer und überall gelten.  Denen sich kein Mensch zu keiner Zeit und an keinem Ort, entziehen kann. 

    Der hochrangige SS-Mann Adolf Eichmann hatte sich bei seinem Prozess in Jerusalem darauf berufen, dass er nur Befehle ausgeführt habe. Er für sein Tun deshalb nicht verantwortlich zu machen sei. Und genau das, sagt Jesus, genau das geht nicht. 

    Der Menschensohn wird, wenn er Gericht hält,  
    nicht einzelne Menschen nach links oder nach rechts weisen.  So haben es die KZ-Schergen mit den Juden getan:  Wer arbeiten konnte, kam auf die rechte Seite,  
    und wer nach links sortiert war, 
    der ging auf kurzem Wege in die Gaskammern.  

    Der Weltenrichter versammelt die Völker zum Gericht und richtet die Völker.  
    Dieses Bild ist den Juden aller Zeiten vollkommen geläufig.  

    Es stammt aus dem Propheten Jesaja und trägt bei den Theologinnen und Theologen den Titel: „Völkerwallfahrt zum Zion.“ Am Ende der Zeit  
    – so der Gedanke dieses Bildes – 
    werden alle Völker Gott als den wahren Gott erkennen. 
    Sie werden zu ihm pilgern und seine Gebote halten.  

    Und die Vorstellung Jesu über das Jüngste Gericht ist:  Da sitzt eben nicht irgendein eifersüchtiger, despotischer Gott auf den Richtthron, der vollkommen willkürlich nach selbst gesetzten Regeln urteilt.  

    Sondern:  
    Das letzte, das Jüngste Gericht folgt genau den Maßstäben, die jeder Mensch aus sich selbst heraus erkennen kann.  Regeln, die jeder Mensch aus sich selbst heraus halten kann.  Ja, die jeder Mensch halten muss oder er verhält sich böse. 

    Hin und wider höre ich Menschen sagen: Die Chinesen, die haben eine andere Ethik als wir. Die russische Regierung  
    oder meinetwegen auch Wladimir Putin in einsamer Größe denkt eben in anderen Kategorien als der Westen und handelt nach anderen Maßstäben. 

    Die Rechten in unserem eigenen Lande:  Die Neo-Nazis, die Reichsbürger oder auch Teile der AfD wollen bestimmen, wer zu unserem Volk gehört und dabei das Recht außer Kraft setzen. Das Recht, dass, wer einen deutschen Pass besitzt, auch Deutscher oder Deutsche ist.  Egal ob mit Kippa oder Kopftuch.  Egal ob mit Geburtsort Teheran, Tel Aviv oder in Nehren.  

    Wir reden auch oft von westlichen Werten, von europäischen Werten, von den Werten, die durch die Aufklärung vermittelt sind. 

    Annalena Baerbock jettet durch die Welt als Engel der Menschenrechte  
    und eckt damit an in China und in der Türkei und anderswo.  Aber sie hat recht! 

    Die Menschenrechte sind universal.  Und sie sind es nicht, weil wir Europäerinnen und Europäer oder weil die Amerikaner sie eingesetzt haben.  Sie sind aus sich selbst heraus gültig.  

    Niemand musste sie erst setzen oder beschließen.  Wenn man sie gefunden hat, dann leuchten sie  unmittelbar ein. 

    Die Aufklärung heißt auf Englisch „Enlightning“ – „Erleuchtung“  Das, was in der Aufklärung gefunden wurde,  
    ist nicht willkürlich gesetzt, sondern wurde entdeckt. Das war immer schon da und wird immer gelten.  Es mag im Mittelalter verschüttet gewesen sein.  Es mag im Dunkel gelegen haben.  Aber es war immer da. 

    Und die Denker der Renaissance haben das Licht der Aufklärung auf den Leuchtern entfacht:  von Martin Luther und Erasmus von Rotterdam  
    über René Descartes, Gotthold Ephraim Lessing 
    und dem großen Immanuel Kant. 

    Oder die die Vordenker der Französischen Revolution mit ihren Werten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.  

    Da wurde der Menschheit mit einem Mal klar:  
    Es kann keine Sklaven mehr geben.  
    Es kann nur freie und gleiche Menschen geben.  

    „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, das war nicht das Diktat eines Herrschers oder eines wenig souveränen Gottes.  Das war die Erkenntnis der Vernunft.  Das war, was alle Menschen längst hätten wissen können.  Das ist ein absoluter Wert.  „Absolut“, das heißt losgelöst von jedem Herrscher, von jeder Religion, von jeder Weltanschauung.  

    Und das muss einfach gelten:  Alle Menschen haben gleiche Rechte.  Die Menschenwürde gilt für jedermann.  Das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit;  das Recht auf Freiheit. Das kann mit Vernunftgründen nicht bestritten werden.  Darauf kann jeder Mensch kommen,  
    weil es eben die Wahrheit ist. 

    Und ein universeller Wert ist es auch,  dass wir unseren Mitmenschen helfen,  
    dass wir sie in ihrer Armut nicht beschämen,  
    dass wir ihnen in Krankheit und im Sterben nahe sind  
    und dass wir ihnen in der Verfolgung helfen.  

    Dass Menschen Kriege führen,  
    dass sie sich gegenseitig abschlachten. Das ist kein universeller Wert.  Und das kann jeder Mensch wissen. 
    Auch Putin, auch die Terroristen in Gaza. Das hätten eben auch ein Adolf Hitler und ein Adolf Eichmann wissen können.  

    Wir sollen so handeln, wie wir selbst behandelt werden wollen.  Das ist Kants berühmter kategorischer Imperativ. 

    Und das steckt auch in unserem Predigttext:  Es geht um simple Mitmenschlichkeit. 

    Eichmann wurde in Israel verurteilt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.  Aber wir müssen viel weiter gehen. 

    Wir dürfen keinen Krieg vom Zaun brechen.  Wir müssen uns ans Recht halten, auch ans internationale Recht.  Und wenn wir etwas im Recht für falsch halten,  dann müssen wir es auf friedlichem Wege ändern.  

    Wir dürfen kein fremdes Territorium an uns reißen und auch kein Seegebiet, das uns nicht gehört.  Da geht es zumeist um Bodenschätze.  

    Das können wir auf das Übertragen, woran uns der Volkstrauertag erinnert:  Der Zweite Weltkrieg war ein verbrecherischer Krieg.  Das Nazi-Reich war ein abgrundtief böses Regime.  

    Wer Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung umbringen lässt,  
    der ist böse, abgrundtief böse.  Da kann er noch so viel Autobahnen gebaut haben.  Da gibt es kein Vertun.  Da gibt es keine Entschuldigung.  Das ist eindeutig. 

    Es kann keine vernünftige Ethik geben,  
    die das Töten von Menschen rechtfertigt.  Und das weiß jeder Mann und jede Frau. Wer an der Tötung von Zivilisten mitgewirkt hat, 
    in den Konzentrationslagern oder bei den Massakern im Krieg,  
    hat verbrecherisch gehandelt.  Trotz Handelns unter Befehl oder unter entsprechenden Gesetzen.  

    „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das ist das Stichwort.  Jeder weiß, dass man keine Menschen tötet,  
    auch nicht für Volk und Vaterland, 
    und schon gar nicht für die Reinheit der Rasse oder ähnlichen Humbug.  

    Das verbietet uns die Vernunft. Und auch Gott. 

    Jesus fordert in seiner großen Rede vom Jüngsten Gericht nicht, dass wir uns an die Zehn Gebote halten.  Er geht nicht die Gebote durch.  

    Sein Weltenrichter fragt einzig und allein nach den universellen Geboten der Menschlichkeit. Nach den Geboten, die aus sich selbst heraus klar sind.  Und genau diese Gebote der Menschlichkeit  hat das Dritte Reich verfehlt. 

    Hitler hat versucht, den Deutschen die Menschlichkeit auszutreiben.  Seine „Anständigkeit“ war vom Hass und vom Vernichtungswillen geprägt.  Sie war abgrundtief böse.  Das Nazi-Reich war ein böser Staat.  

    Das muss man heute auch von Russland sagen  und von der palästinensischen Hamas.  Da gibt es kein Vertun.  

    Das Böse muss benannt werden, damit es nicht siegt.  Und das tue ich hiermit.  

    Die große Gerichtsrede Jesu verbietet uns aber nicht, um unsere Gefallenen zu trauern. Sie zu beweinen und zu beklagen:  

    Die Soldaten der beiden Weltkriege, die Gefallenen in Afghanistan und Mali, den Vater, den Bruder oder andere Verwandte.  Auch die Frauen und Kinder, die im Bombenhagel der Alliierten zu Tode gekommen sind. Oder die Toten an der deutsch-deutschen Grenze.  

    Ihr Schicksal dürfen und sollen wir betrauern.  Unseren Schmerz müssen wir nicht unterdrücken.   

    Genau das ist es ja, was Jesus erwartet:  Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, Solidarität im Leid, im Schmerz.  Jeder getötete Soldat,  jede getötete Zivilistin,  jede vergewaltigte Frau,  jede Geisel, jedes verschleppte Kind und jeder getötete Flüchtling  war und ist Opfer des Krieges,  ob auf der einen oder auf der anderen Seite. 

    Wir dürfen aber auch nicht vergessen,  
    die deutschen Kräfte waren die Täterinnen und Täter,  von denen alles ausging. In vielen Fällen haben sie sich unmenschlich verhalten. 

    In den Konzentrationslagern oder bei Massenerschießungen. Oder bei der Reichskristallnacht. 

    Im deutschen Namen wurden furchtbare Verbrechen begangen. An den Juden, an den Polen, an den Russen und Ukrainern,  an Italienern und Griechen  und ich weiß nicht, wen ich noch alles nennen soll.  Und das müssen wir anerkennen.  Es ist und bleibt eine gewaltige deutsche Schuld.  

    Deutschland hat den Krieg vom Zaun gebrochen.  Niemand sonst.  

    Auch wenn wir, die wir diese Zeit nur aus der Geschichte kennen, daran keine Schuld mehr tragen,  so dürfen wir die Verantwortung für all das Schreckliche trotzdem nicht von uns weisen.  

    Die Schuld unserer Vorfahren und unsere Verantwortung verpflichten uns,  für Israel einzutreten und für die Ukraine.  

    Und das heißt mit Blick auf Israel:  Wir sollten Israel nicht nur helfen,  sondern es auch davor bewahren, eine ähnliche Schuld auf sich zu laden in Hinblick auf die Palästinenser.  Denn in dieser Gefahr sehe ich Israel in diesen Tagen.  

    Wir tragen eine besondere Verantwortung in der Welt, denn unser Volk hat furchtbare Schuld auf sich geladen.  Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen.  Unser Land hatte den moralischen Kompass verloren und einen grausamen Weg eingeschlagen.  

    Unser Kompass muss für immer die Barmherzigkeit und die Mitmenschlichkeit Jesu sein. Das Mitgefühl mit Menschen jeder Herkunft und jeder Hautfarbe.  Dabei geht es nicht darum,  dass wir alle aufnehmen müssen, die zu uns kommen. Das können wir wohl nicht.  

    Sondern es geht darum, dass wir im konkreten Fall, von Angesicht zu Angesicht, menschlich bleiben. Weil wir Mensch sind und wir es mit Menschen zu tun haben.  Daran kann es keinen Zweifel geben.  Jeder Mensch verdient Menschlichkeit.  

    Der Maßstab im Jüngsten Gericht gilt für alle Völker. Für jeden und jede von uns. 

    Es wird nicht gefragt werden, ob wir jedes der Zehn Gebote, so wie sie Israel einst verkündet wurden, bis zum letzten i-Tüpfelchen gehalten haben.  Der Maßstab ist, ob wir uns an die Menschlichkeit gehalten haben. Unserem Mitmenschen gegenüber, wer auch immer er oder sie sei.  

    Wer einen Krieg lostritt, fällt durch im Jüngsten Gericht.  Ob er Hitler oder Putin heißt oder ein Anführer der Hamas ist.  

    Aber auch George Bush der Ältere hat nach 9/11 den Irak zu Unrecht überfallen.  Dadurch hat der Westen furchtbare Schuld auf sich geladen.  Gerhard Schröder gehörte damals nicht zur „Koalition der Willigen“.  Das rechne ich ihm hoch an. 

    Kriege setzen die Menschlichkeit außer Kraft.  Das kann jeder Mensch begreifen, das fühlt jedes Kind.  Und mehr als simple Menschlichkeit wird im Jüngsten Gericht von uns nicht verlangt. 

    Das Jüngste Gericht ist keine Beichte.  Das Jüngste Gericht fragt ganz simpel nach der Menschlichkeit.  Und das Gebot der Menschlichkeit folgt aus unserem Mensch sein.  

    Die „Gerechten unter den Völkern“,  die der Staat Israel nach dem Holocaust geehrt hat und immer noch ehrt, haben nicht die Gebote Israels befolgt.  Sie sind in bösen Zeiten Mensch geblieben  und haben sich ihre Menschlichkeit bewahrt.  So sind sie gewissermaßen die Heiligen inmitten der Kriege unserer Zeit. 

    Amen. 

  • Gott ist anders!

    Predigt zu Matthäus 25, 14-30 im Zuge der Nürtinger Sommerpredigtreihe „Ich seh was, was du nicht siehst“

    Als ich das Motto der Sommerpredigtreihe „Ich seh was, was du nicht siehst“ hörte, musste ich sofort an das Gleichnis von den Talenten aus dem Matthäusevangelium denken.
    Das ist ein Gleichnis, das mich schon lange beschäftigt und sich dadurch für mich gewandelt hat.
    Ich seh es jetzt mit anderen Augen.
    Ich seh etwas, was ich vorher nicht gesehen habe.

    Hören wir uns den Text aus der Lutherbibel, Mathäus 25, 14-30 an.

    Ein reicher Mann hat drei Sklaven. Dieser Reiche gibt, vor seiner Abreise, drei seiner Knechte Geld. Sie sollen es während seiner Abwesenheit verwalten.
    Bei seiner Rückkehr fordert er von den Knechten sein Geld zurück.
    Knecht eins und zwei haben sein Geld verdoppelt.
    Knecht drei hat nicht damit gearbeitet.
    Deshalb wird der dritte Knecht bestraft und die zwei anderen belohnt.

    Meist wird dieses Gleichnis so gepredigt:
    Gott schenkt den Menschen unterschiedliche Talente.
    Diese müssen wir Christen einsetzen, um die Welt besser zu machen.
    Auch ich habe das Gleichnis schon so ausgelegt.

    Soweit kein Problem.

    Aber diese Stelle!
    Als der Reiche das Geld von dem dritten Knecht entgegen nimmt, sagt der Reiche:
    „Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern.“

    Das hat doch nichts mit einem gütigen, barmherzigen Gott zu tun.
    Das kann doch Jesus nicht so gemeint haben.
    Jesus, der mit den Sündern an einem Tisch saß und sagte: „Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut,
    mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (Lukas 15, 7)
    Darum lassen sie mich die Geschichte anders erzählen:

    Ein Superreicher sucht zuverlässige Verwalter für sein Geldvermögen.
    So gibt er drei Sklaven jeweils eine große Summe Geld, bevor er außer Landes geht: fünf Talente, zwei Talente, ein Talent.

    Talent – heute verstehen wir darunter eine besondere Fähigkeit, eine Begabung.
    In der Antike war es eine Gewichtseinheit, mit der Geld gemessen wurde.
    Ein Talent entsprach 60 Minen.
    Eine Mine entsprach 100 Drachmen oder römische Denare.
    Die fünf Talente, die der erste Sklave erhält, sind also 30 000 Denare.

    Es geht also um 48.000 Denare.
    Das ist eine kaum vorstellbare Summe für diejenigen, die das Gleichnis hören.
    Im Vergleich dazu:
    Ein Tagelöhner in der Landwirtschaft verdiente einen Denar pro Tag.
    So wird es im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erzählt. 1
    Das konnte im Leben nicht erarbeitet werden.

    Es geht also um große Geschäfte. Doch für den Besitzer sind die Talente nur „Peanuts“. Bei seiner Rückkehr sagt er, dass er die Sklaven nur „im Kleinen“ testen wollte.2 
    Die Erfolgreichen belohnt er nun mit den wirklich großen Aufgaben.

    Erfolgreich heißt in diesem Fall: Der erste Sklave hat weitere 30 000 Denare erwirtschaftet, der zweite 12000.
    Der dritte allerdings hat sich der Aufgabe verweigert und das ihm anvertraute Geld einfach vergraben.

    Als der Herr den Sklaven zur Abrechnung ruft und nur genau die Summe zurückerhält, die er ihm anfangs gegeben hat, wird er zornig und macht ihm Vorwürfe: Er hätte das Geld doch zur Bank bringen können, dann hätte er zumindest Zinsen erhalten. Der Sklave wird zur Strafe für seine Weigerung, den Besitz des Reichen zu vermehren, in den Folterkeller geworfen, wo ihn „Heulen und Zähneklappern“ erwarten.3

    Das Gleichnis wirft ein Licht auf die Finanzwirtschaft zur Zeit des Neuen Testaments.
    Es geht um viel Geld.
    Die beiden Sklaven haben zusammen 42 000 Denare Gewinn erwirtschaftet.
    Solche Summen können durch Arbeit in der Landwirtschaft oder in kleinen Handwerksbetrieben nicht erarbeitet werden.
    Sie können, wie heute, nur in der Finanzwirtschaft zustande kommen.
    In diesem Fall vermutlich durch Steuer- und Pachteintreibungen, verbunden mit einer gnadenlosen Ausbeutung der Bevölkerung.

    Im ersten Jahrhundert nahm die Land- und Besitzkonzentration in den Händen weniger reicher Großgrundbesitzer enorm zu – und ebenso Armut, Versklavung und Arbeitsmigration.4
    Urkunden und andere literarische Zeugnisse aus römischer Zeit zeigen, dass in Judäa die Verschuldung weite Bevölkerungsgruppen betraf.
    90 % der Menschen gehörten zur Unterschicht, die meisten davon waren sehr arm, viele lebten sogar unterhalb der Grenze des Existenzminimums.

    Wenn die Ernte schlecht ausfiel, musste das Geld für das neue Saatgut geliehen werden. Allerdings oft gegen horrende Zinsen, die bis zu 60 % im Jahr betrugen.
    So war es oft nicht möglich die Darlehen zurückzuzahlen.
    Verkauf von Land und Vieh oder sogar Familienangehörige in die Schuldsklaverei waren die Folge.

    Von der Gewalt der Schuldeneintreibung zeugen vielfältige Quellen.
    Wenn sich die Verschuldeten durch Flucht entzogen, wurde das nähere Umfeld, die Familie oder Dorfgemeinschaft in Haftung genommen, bis das Geld gezahlt wurde.

    Auch die Eintreiber selbst waren oft Sklaven.
    Im römischen Finanzwesen waren an vielen wichtigen Stellen Sklaven eingesetzt, auch in der Verwaltung ganzer Städte.
    Das war praktisch für diejenigen, die das Geld besaßen:
    Die Sklaven waren abhängig und konnten gefoltert werden, wenn sie versagten.
    Und:
    Nur in begrenztem Maße konnten sie in die eigene Tasche wirtschaften, denn sie selbst waren auch Besitz, gewissermaßen Produktionsmittel für ihre Herrschaften.

    Als Ausgangspunkt für den ersten jüdischen Aufstand gegen Rom nennt der jüdische Historiker Flavius Josephus die Verbrennung von Schuldverschreibungen im Jahr 66 n. Chr.5
    Die Menschen waren verzweifelt angesichts der sie erdrückenden Schuldenlast und wehrten sich gegen die römische Besatzung. Der Krieg dauerte über vier Jahre und kostete Tausende von Menschenleben. Er verschärfte die wirtschaftliche Situation weiter.
    In der Nachkriegszeit, in der die Evangelien aufgeschrieben wurden, litten die Menschen unter großer Not, Hunger und daraus resultierenden Krankheiten.
    Das Matthäusevangelium ist vermutlich in Antiochia in der römischen Provinz Syrien aufgeschrieben worden.
    Hier lebten die Jesus-Nachfolgenden in den Elendsvierteln der Großstadt.
    Sie beobachten sehr kritisch, welche Macht das Geld hat und wie es Menschen in seinen Bann zieht. „Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon, dem Geld“ heißt es in Kapitel 6.6
    Sie wissen genau, wie das Geld erwirtschaftet wird, das die erfolgreichen Sklaven ihrem Herrn geben.

    Diejenigen, die das kritisieren, stehen auf der Seite des dritten Sklaven.
    Er begründet seine Weigerung, das Geld zu vermehren so: „Du bist ein harter Mensch, der erntet, wo er nicht gesät hat und einsammelt, wo er nicht ausgeteilt hat.“ (V.24)
    Er sagt die Wahrheit klar heraus und weigert sich bei der Ausbeutung der armen Bevölkerung mitzumachen.
    Er ist der Held der Geschichte, der sein mutiges Handeln mit seinem Leben oder zumindest mit seiner Gesundheit bezahlt.7

    Nach der Gleichnis-Theorie von Luise Schottroff steht das Wichtigste manchmal nicht im Text, nämlich: Die Antwort der Hörenden.

    Luise Schottroff versteht diese Aufforderung an die Hörenden, das Erzählte mit dem Reich Gottes zu vergleichen, als zentrales Element des Gleichnisses. Sie sollen im Anschluss selbst aktiv werden und über das Gehörte sprechen:
    „Gleichnisse“, so Luise Schottroff, „wollen auf eine Antwort hinaus, sie wollen die Hörenden dazu anleiten, über Gottes Handeln in der Geschichte und Gegenwart nachzudenken und sich in eine Beziehung zu Gott zu setzen.
    Deshalb gehören die Wendungen, die zum Vergleichen auffordern, zwingend zum Gleichnis.

    Wie würde ich mich verhalten?
    Ist es klug, das Geld zu vergraben?

    Der dritte Sklave handelt gemäß biblischer Ethik, er verweigert sich einem System, das von Menschen Zinsen fordert. Für den Talmud ist das Vergraben die beste Lösung, um zur Verwahrung gegebenes Geld zu sichern.8

    Aber auch das schützt den dritten Sklaven nicht.
    War es richtig sein Leben zu riskieren?
    Hätte er das Geld nicht wenigstens zur Bank bringen können?
    Und: Hätte ihn das gerettet?

    Er sagt die Wahrheit: „Du bist ein harter Mensch, der erntet, wo er nicht gesät hat und einsammelt, wo er nicht ausgeteilt hat“.
    Dafür wird er in den Folterkeller geworfen.

    Die beiden anderen Geldverwalter sind auch Sklaven, sie werden zu Mittätern in einem System, das sie entmenschlicht und bereichern sich an denjenigen, die in einer ganz ähnlichen Situation sind.

    Was bringt sie dazu: Angst, Habgier?
    Sind sie loyal zu ihrem Herrn, weil sie den Wunsch haben aufzusteigen, sich mit dem erwirtschafteten Geld freikaufen zu können?

    Woher kommt der Mut des dritten Sklaven, anders zu handeln?

    Das Gleichnis lässt vieles offen, auch die Bewertung seines Verhaltens.
    Er löst das System nicht auf, langfristig wird ein anderer an seine Stelle treten.
    Doch sein Verhalten zeigt, dass eine Unterbrechung der Gewalt möglich ist, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
    Er hat niemandem Geld abgepresst, niemanden in Schuldhaft genommen.

    Zu überlegen, wie Gerechtigkeit konkret in ihrem Alltag verwirklicht werden kann, ist die Aufgabe der zuhörenden Gemeinschaft.

    Wir haben nicht mit solchen immens großen Geldsummen zu tun, doch strukturell stehen wir oft vor derselben Frage:
    Wo mache ich mit – und wo verweigere ich die geforderte Loyalität? Welchen Preis wäre ich bereit dafür zu zahlen?
    Wie verhalte ich mich gegenüber einem Finanzsystem, das von globaler Ungerechtigkeit profitiert?

    Habe ich die Standhaftigkeit, mich nicht daran zu beteiligen und nach Alternativen zu suchen?
    Wenn ich Aktien besitze, frage ich danach, woher der Profit stammt, der die Finanzwirtschaft mit Gewinnen bereichert, die höher sind als bankübliche Zinsen?

    Ich frage mich oft, was mich davon abhält, auf meine eigenen Verstrickungen zu schauen und mir klar zu machen, dass auch ich zu den Menschen gehöre, „die ernten, wo sie nicht gesät haben“, wenn ich gedankenlos andere mit dem Geld auf meinem Sparkonto arbeiten lasse.

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“
    Biblische Texte sprechen eine klare Sprache, wenn es um Ökonomie geht und prangern das Unrecht an den Verarmten an.
    Das Matthäus-Evangelium, aus dem das Talente-Gleichnis stammt, warnt an vielen Stellen vor einer Vergöttlichung des Geldes:
    Wo Dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.9
    Es verurteilt ungerecht angehäuften Reichtum und stellt sich parteilich auf die Seite der Armen.
    Es fordert auf, hinzuschauen, die alltägliche Gewalt wahrzunehmen – und immer auch nach der eigenen Beteiligung zu fragen.

    „Ich seh was, was du nicht siehst!“

    Amen

    **************************************************************************

    1. Mt 20, 1-16 ↩︎
    2. Vgl. Mt 25,21.23. ↩︎
    3. Vgl. Mt 25,30. ↩︎
    4. Einen guten Überblick über Landbesitz in Judäa in römischer Zeit bietet der Artikel von Willy Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9). Ein Beitrag zur Geschichte der Bodenpacht in Palästina, in: ders. Gerechtigkeit lernen.
      Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte, F. Crüsemann/ R. Kessler (Hg.), Gütersloh 1999, 165-204.3 ↩︎
    5. Josephus, Bell. Jud. II, 426f. ↩︎
    6. Mt 6,24 ↩︎
    7. Vgl. Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh (2005), 2. Aufl. 2007, 290-294, vgl. auch 239-246. Zur Auslegung des Gleichnisses vgl. auch Marlene Crüsemann, Wahre Herrschaft: Das Gleichnis von den Talenten und das Gericht Gottes über die Völker – Matthäus 25,14-46, in: Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen, Marlene Crüsemann /Claudia Janssen / Ulrike Metternich (Hg.), 2014, 56-69. ↩︎
    8. Zum biblischen Zinsverbot vgl. Rainer Kessler, Artikel: Zins/Zinsverbot, in: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (2009), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35406/ ↩︎
    9. Mt 6,21.7 ↩︎
  • Gabe Gottes

    Gabe Gottes

    Predigt zu Matthäus 9, 9-13
    gehalten in der Schlaitdorfer St. Wendelin-Kirche am 5. Februar 2023

    Hier finden Sie den Predigttext aus dem Matthäusevangelium 9, 9-13

    Lesen wir den ersten Satz dieses Abschnittes einmal in Zeitlupe, also Stückchen weise:

    Als Jesus von dort (Kapernaum) wegging, sah er einen Menschen.

    Er sieht einen Menschen.
    Ich sehe einen Menschen.
    Ich sehe ihn als das, was er ist. Ein Mensch.

    Wie ich. Wie du.
    Ohne besondere Merkmale – abgesehen von den Merkmalen Mensch.

    Wir lesen weiter:

    Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen.

    Er ist also nicht nur ein Mensch.
    Er ist auch ein Zöllner.

    Oder ein Arzt.
    Oder ein Kirchengemeinderat.
    Oder ein Arbeitsloser.
    Oder ein Politiker.
    Oder ein Straßenkehrer.
    Oder ein Student.
    Oder ein Hilfsarbeiter; eine Lehrerin; ein Patient.

    Ich sehe nicht mehr den Menschen, sondern den Arzt, den Zöllner, den Hilfsarbeiter, den Patienten. Die philippinische Krankenschwester.

    Mir fällt sofort alles ein, was ich über Zöllner, Lehrerinnen, Arbeitslose weiß oder zu wissen glaube.

    Das alles überlagert die Tatsache, dass er einfach ein Mensch ist.

    Wenn wir weiter lesen, lernen wir auch seinen Namen kennen:

    Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus.

    Matthäus: Das ist Hebräisch und heißt übersetzt: „Gabe Gottes.“
    Dieser Mensch am Zoll hat in den anderen Evangelien einen anderen Namen.
    Matthäus verwendet hier einen Kunstgriff, den ihm Jahrhunderte später der Filmemacher Alfred Hitchcock nachgemacht hat.
    Sehr zur Freude des Publikums ist Hitchcock in seinen Filmen immer irgendwo selber aufgetreten. Matthäus tritt hier, an dieser Stelle, in seinem Evangelium auf.
    Er setzt sich auf den Stuhl des Zöllners und sagt:
    „Auch ich bin ein Teil dieser Geschichte, obwohl ich nicht persönlich dabei war.“

    Das wissen wir von den anderen Evangelien, die nennen nämlich den Zöllner Levi.

    Nicht nur dieser eine, dieser Zöllner heißt Matthäus.
    Auch alle, die sich das Essen gemeinsam mit Jesus schmecken lassen, und alle anderen, von denen jetzt schon die Rede war, heißen Matthäus.

    Es ist eine Runde, in der nichts anderes Bedeutung hat:
    Beruf, Herkunft, Bildung, Vorleben, Familienstand.
    Nichts zählt.
    Nur dass sie alle, jeder Einzelne, Matthäus, eine Gabe Gottes sind. Das ist bedeutsam.
    Und alle, die wir noch nicht genannt haben.
    Die Liste ist so lang, dass wir sie nie komplett kriegen:
    Die Schwiegermutter und die Schwiegertochter sind Matthäus.
    Die Nachbarin mit der keifenden Stimme.
    Ja, auch – ihr wartet sicher schon darauf, dass ich das endlich sage – Ihr hier in Schlaitdorf seid alle Matthäus.

    Alle, alle sind sie Matthäus.

    Und Matthäus, haben wir uns gemerkt, das heißt Gabe Gottes.
    Nicht alle wissen das.
    Oder nicht alle wollen es wissen.

    Da sind die Wichtigen und Gescheiten, und alle, die sich dafürhalten.
    Sie sagen zu Jesus: Der Name dieser Leute ist Sünder.
    Das stellt uns vor die Frage: Kann ein Mensch, der Gabe Gottes heißt, ein Sünder sein?

    Das griechische Wort, das gewöhnlich mit Sünder übersetzt wird, ist frei vom Wirkstoff Moral.
    Das griechische Wort bedeutet ursprünglich:
    Verfehlen, nicht treffen, verlieren, einbüßen.

    Matthäus, der Mensch dessen Name Gabe Gottes ist, kann in die Irre gehen.
    Er kann sein Ziel verfehlen.
    Er kann abirren und abschweifen.
    Er kann sich verlieren – In Gedanken, auch in sich selbst.
    Im Wald und auf der Heide.
    Im Dschungel der Paragraphen und den Ansprüchen der Gesellschaft, seiner Freunde und Bekannten.
    Er kann seinen Verstand einbüßen.
    Seine gesunde Urteilskraft und das Augenmaß für sein Tun einbüßen.

    Und wir können, wie alle Besserwisser und Selbstgerechten dieser Welt ihm dann neue Namen geben: Versager, Verbrecher, Schmarotzer. Störenfried. Nervensäge.
    Jeder dieser neuen Namen trifft wahrscheinlich auch auf eine gewisse Weise zu.

    Wir können ihm aber auch seinen wirklichen Namen lassen, Gabe Gottes.
    Dann kommen wir in der Nachfolge Jesu vielleicht auf die Idee, diesen Matthäus zu fragen: „Was kannst du in unsere Welt einbringen. Denn schließlich bist du eine Gabe Gottes. Wofür also hat Gott dich denn der Welt gegeben?“

    Lesen wir weiter:
    Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

    Wenn ein Mensch seinen Namen Matthäus, Gabe Gottes, tragen darf, prägt das das Klima.
    Hierzulande hat sich ein Klima der Verachtung ausgebreitet.
    Hört einmal auf die Zwischentöne, wenn in der Öffentlichkeit von Lehrern, Politikern, Polizisten, Ärzten die Rede ist.
    Über alle wird Verachtung gegossen.
    Wir schwimmen gesellschaftlich in einem Verachtungssee.
    Und die Kinder, die sich mit dem Lernen plagen, werden schon ganz früh darin gebadet.

    Komm in unsere Mitte, geh mit uns, tu mit uns, was wichtig ist.
    Diese Einladung weckt die Lebenskräfte und aktiviert diesen Matthäus.
    Die Verachtung flieht.

    Ich bin gewöhnlich sparsam mit Appellen in Predigten. Aber heute bitte ich euch:
    Lasst nicht zu, dass hier bei uns Menschen verachtet werden.
    Wir alle gewinnen, wenn wir diese Gaben Gottes dazu ermutigen, das einzubringen, was ihnen von Gott möglich gemacht ist.
    Matthäus, der Evangelist, der sich selbst in seiner Geschichte zum Zöllner gemacht hat, erzählt es uns auf ganz eigene Weise.

    Dafür sei Gott Lob und Preis in Ewigkeit.

  • Predigt zu Matthäus 17, 1-9

    Predigt zu Matthäus 17, 1-9

    gehalten am 29.01.2023 in der Neckartenzlinger Martinskirche

    Ich habe es oben auf dem Gipfel eines Berges erlebt.
    Die Welt erscheint in einem anderen Licht:
    Gipfelerfahrungen.

    Alles sieht ganz anders aus, irgendwie deutlicher.
    Klarer als sonst und als anderswo.

    Die Welt hüllt sich in Schweigen, 
    keine gewohnten, vertrauten Geräusche – und wenn, dann nur ganz aus der Ferne.
    Vielleicht  Kuhglocken, das Rauschen eines Wasserfalls, das Brummen einer Motorsäge.
    Die Welt erscheint entfremdet. Verändert. Verklärt.

    Gipfelerfahrungen verändern. 

    Nicht unbedingt gleich die ganze Welt, 
    nicht unbedingt die Realität des gesamten Alltags, 
    jedenfalls nicht unbedingt direkt und sofort. 

    Wer schon einmal einen hohen Berg bestiegen hat, der weiß, wie anstrengend das ist.
    Aber es ist ein tolles Gefühl, wenn es geschafft ist. 

    Alles ist so weit weg, was mich sonst verfolgt, bedrängt oder ablenkt. 
    Dazu kommt die Klarheit der Farben und Formen,
    Blumen und Felsen,
    die Intensität des Lichtes.

     Zusätzlich kann ein gemeinsamer Anstieg verbinden,
    kann die Gipfelerfahrung noch intensiver machen. 

    Gipfelerfahrungen können auch erschreckend sein.

    Aufrührend.
    Wenn alles Bisherige in Frage gestellt wird.
    Wenn Zweifel an der Richtigkeit meiner Pläne Zweifel aufkommen. 
    Zurückliegendes taucht aus einem anderen Blickwinkel wieder auf. 

    Gipfelerfahrungen können auch ausgesprochen ernüchternd sein. 

    Schließlich muss ich irgendwann wieder vom Berg runter! 
    Die Empfindungen und Erkenntnisse verblassen mir nur zu schnell,
    ich kann sie oft genug nicht festhalten. 

    Hören wir auf unseren Predigttext aus dem Matthäusevangelium 17, 1-9 .

    Vorgeschichte

    Nach 6 Tagen nahm Jesus Petrus, Jakobus und Johannes mit auf einen Berg.

    Was war den da vor 6 Tagen geschehen?
    War es der Höhepunkt oder der Tiefpunkt?

    Jesus frage seine Jünger: Was sagen die Menschen, wer ich bin.
    Da antworteten seine Jünger. „Einige sagen, du wärst Johannes der Täufer oder Elias oder Jeremia oder ein anderer Prophet.“
    Und als Jesus seine Jünger fragte: „Und was glaubt ihr?“
    „Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn.“, antwortete Petrus.
    Jesus erwiederte: „Du bist Petrus, auf diesem Fels möchte ich meine Gemeinde bauen.“

    Wie mag sich da der Petrus gefühlt haben?
    Er wurde durch Jesu Wort geradezu geadelt. Ein Hochgefühl machte sich in Petrus sicherlich breit. Die Jünger fühlen sich in der Gemeinschaft geborgen und sonnen sich im Ruhm ihrer Bewegung.
    Das war sicherlich ein, wenn nicht der Höhepunkt im Leben der Jüngerinnen und Jünger.

    Nur um kurz darauf ins Bodenlose abzustürzen, denn Jesus kündigte sein Leiden an.
    Dass er sich den Machthabern ausliefert. Dass er gefoltert wird. Dass er am Kreuz sterben wird.
    Dass er auferstehen wird.
    Petrus in seiner etwas hemdsärmeligen Art nahm Jesus beiseite und versuchte es Ihm auszureden.
    Doch Jesus reagierte nicht wie erwartet: „Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“
    Das war sicherlich ein Tiefpunkt.

    Aufstieg

    Eine Woche müssen die Jünger nun in diesem Wechselbad der Gefühle gelebt haben, da nimmt Jesus seine engsten Mitarbeiter mit auf einen Berg und hier scheint gerade das Gegenteil zu geschehen.

    Berge sind in der Bibel immer Plätze, an denen es zu Begegnungen mit Gott gekommen ist.
    Ich denke da vor allem an den Berg Sinai. Dort begegnet Mose Gott und bekommt den Bund für sein Volk und die 10 Gebote geschenkt.

    Auf diesem Berg wurde Jesus verklärt. Was geschieht da?
    Was bedeutet das?
    Hier wird es beschrieben: sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. 
    Er wirkt wie angestrahlt von großen Scheinwerfern.

    Gottes Herrlichkeit

    In der Bibel ist die Herrlichkeit Gottes ein Lichtglanz. Für die Menschen unerträglich. Deshalb musst Mose, als er vom Berg Sinai herunterkam, auch sein Gesicht verhüllen.
    Es ist ein Zeichen für Gottes Wirklichkeit im Kontrast zu unserer Welt mit ihrer vergänglichen Sichtbarkeit.

    Was hier Jesus und seine engsten Jünger mit ihm erleben, passiert in dem Augenblick als die Entscheidung für den Leidensweg und das Kreuz gefallen ist. In dem Augenblick strahlt das Licht auf. Plötzlich wird der Vorhang weggezogen und Gottes Wirklichkeit hüllt Jesus ein und mit Ihm seine engsten Schüler.

    Und sie sehen Mose und Elia und hören sie miteinander sprechen.
    Beide, Mose und Elia, stehen als Säulen für Gottes Geschichte, für die Propheten.
    Gott redet durch sie direkt mit seinem Volk.
    Nie zuvor und danach, außer Jesus, hatte keiner so direkten Kontakt mit Gott gehabt als Mose.
    Und Elia ist eine Säule der alten Propheten.
    Und die Gemeinschaft dieser drei sagt, dass jetzt die Geschichte Gottes zur Vollendung kommt.
    Sie reden miteinander. Wir wüssten gerne über was sie geredet haben. Es wird nicht berichtet.
    Es bedeutet, hier sind Verheißung und Erfüllung im Gespräch. Hier spitzt sich die Geschichte Gottes zu.

    Und was geschieht bei den Jüngern in dem Moment?
    Festhalten wollen sie ihn!

    Einer prescht voran.
    Petrus, der ist bekannt für sein vollmundiges Bekenntnis und seine direkte Art.
    Ihm ist klar, dass er gerade etwas äußerst Ungewöhnliches miterlebt hat.
    Das möchte er bewahren. 
    Ganz pragmatisch packt er die Sache an. 

    Ich finde es sehr verständlich, wenn  er sagt:
    “Ach, wenn es doch immer so sein könnte!
    Hier bleiben wir, hier ist es gut!“ 

    „Verweile doch, o Augenblick, du bist so schön.“ 

    Aber Licht festhalten?

    Das klingt doch schon sehr nach den berühmten Schildbürgerstreichen.
    Auch dort war es schon nicht gelungen, das Licht in Säcken in ihr fensterloses Rathaus zu tragen. 

    Auf dem hohen Berg scheinen die drei und Jesus dem Himmel etwas näher. 

    Die Macht des Himmels geht auf die Erde über.
    Die Kraft Gottes erreicht diese  Welt;
    fast immer recht verborgen, doch manchmal urplötzlich sichtbar und spürbar.
    So wie dann an Pfingsten.

    Die Szene der Verklärung Jesu kann einer Ikone verglichen werden

    Da gibt es eine sichtbare obere Schicht mit bunte Farben und ganz zuletzt aufgetragenen Lacken. 

    Und es gibt eine untere Schicht – den Goldgrund – der bei jeder Ikone zuerst auf das Holz kommt und ihr den Glanz des Echten, Wahren und Wertvollen geben soll. 

    Durch die aufgemalten Bilder und Motive leuchtet immer wieder einmal der Goldgrund hindurch. 

    Und so leuchtet auch in unserer Welt, in unserem Leben, hin und wieder Gottes Gegenwart besonders glänzend durch. 

    Es ist ein schöner Gedanke, dass wir unser Leben auf einen Goldgrund malen können, wie auf einer Ikone! 

    Petrus bekommt leuchtende Augen:

    Hier lasst uns Hütten bauen! 

    Petrus sucht den Weg des Eindeutigen:

    Eine Hütte für Christus, um festzuhalten, dass er Herr ist über mein Leben.
    Verlässlicher Halt in meiner schwankenden Lebensgeschichte. 

    Hütten für Mose und Elia.
    Ein Heiligtum,
    etwas zum Festhalten und Anfassen.
    Einen Ort schaffen, wo Gott verfügbar ist. 

    Auf dem „Berg der Verklärung“ stehen in Israel nach langer, wechselvoller Geschichte zwei Kirchen – eine griech. orth. und eine röm. kath..
    Beide Konfessionen konnten sich im Streit um das Gelände und um die Darstellung der Verklärung nicht einigen. 

    Für Petrus sind Mose und Elia die Verbindung zum Früher.
    Für ihn sind sie Garanten für Gottes Zusage an uns Menschen. 

    Petrus zielt auf End-Gültiges

    Er will Halt bieten, Autorität, religiöse Heimat.
    Damit würde er auch heute bei vielen offene Türen einrennen und auf begeisterte Zustimmung stoßen. 
    Die Sehnsucht nach Sicherheit, nach unverbrüchlicher Glaubensgewissheit ist in unserer Zeit sehr groß.
    Und gleichzeitig ist die Gefahr groß im Vordergründigen stecken zu bleiben, 

    Wie Hütten auf dem Berg bauen und vielleicht gar nicht mehr zu merken, dass sich der Glanz schon längst verflüchtigt hat… 
    Wie Festhalten und Festschreiben um jeden Preis: So ist es und nicht anders.
    Das macht die Angst nicht kleiner.
    Es führt eher dazu, dass jede Anfrage als Angriff erlebt wird und ungeheuer bedrohlich wirkt.
    Das führt dazu, dass sich Menschen oder ganze Gemeinden abschotten. 

    Das ist keine tragfähige Kraft für das Leben. 

    So verlässt Petrus im Sturm der Mut. 
    Er kann das Scheitern nicht aushalten in Gethsemane. 
    und der Angst nicht standhalten, als der Hahn kräht. 

    Gipfelerfahrungen, wie diese,
    sind nicht herstellbar, zu erzwingen oder einzufordern.

    Sie sind Geschenk und Herausforderung zugleich. 

    Wenn sich Gott zeigt und für einen Moment der Goldgrund der Ikone durchscheint, erstrahlt Gottes Zusage in deinem Leben. 

    Die Stimme

    Die Stimme gehört dazu, im Predigttext mysteriös aus den Wolken.

    In der Bibel ist die Wolke immer ein Signal für den Grenzübergang zwischen Gottes unsichtbarer Welt und der unseren sichtbaren Wirklichkeit.
    Die Stimme wie auch während der Taufe Jesu und auch im Psalm 2.

    „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“

    Sie erschrecken.

    Weshalb erschrecken sie da?

    Wirklichkeit Gottes.
    Wenn Gott in seiner Wirklichkeit in unser Leben hereinkommt
    In meinen eigenen Überlegungen und Meditationen.
    Manchmal auch als zufällig hingeworfener Satz eines anderen.
    Auch Wegweisungen gehört dazu.
    „Ihn sollt ihr hören!“ hatte übrigens auch schon Maria bei der Hochzeit zu Kana gesagt. 

    Wenn Gottes Wirklichkeit in unser Leben hereinbricht, dann sprengt es unsere Vorstellung.
    Das läuft nicht immer im Wohlfühlmodus ab.
    Es bestätigt uns nicht immer und wir wollen sagen: „Ja, so soll es bleiben!“.
    Deshalb kann Angst durchaus die angemessene Reaktion sein.
    Wenn wir spüren, wir haben es nicht mehr mit unserer eigenen Meinung zu tun, sondern Gott sagt seine Meinung.

    „Dies, Jesus, ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören!“

    Deshalb gibt es bis heute keine andere Botschaft.
    Ich mache es heute bei ihnen, bitte sagen sie es weiter:

    Jesus ist die Schlüsselfigur.

    Lesen sie die Bibel.
    Lesen sie, was Jesus gesagt hat.
    Lesen sie was er getan hat.
    Sehen sie ihn an, um ihn kennen zu lernen. Um ihm zu vertrauen.
    Das ist Gottes Stimme in unserer Welt. Das ist, was wir brauchen.

    Zum Glauben gehört …

    Zum Glauben gehört das Hin- und  Her-gerissen sein
    zwischen Angst und Schrecken und dem „Fürchtet euch nicht“
    zwischen Karfreitag und des österlichen Glanzes der Verklärung und Erleuchtung. 

    Und die Ernüchterung nach der Gipfelerfahrung folgt auf den Fuß:
    die Erscheinung ist verschwunden, nur noch Jesus ist zu sehen.
    Da fragen sich die drei : „Haben wir das gerade nur geträumt?“

    Jedenfalls müssen sie wieder herunter vom Berg. 

    Das stelle ich mir ziemlich schwierig vor. 
    Sie dürfen nichts von dem erzählen, was sie erlebt haben! 

    Nebenbei: vielleicht lässt es sich auch kaum erzählen?
    Wenn schon die Erfahrungen einer ganz normalen Bergbesteigung so schwer zu vermitteln sind? 

    Dennoch sind Petrus, Jacobus und Johannes sicherlich  nicht so zurückgekommen, wie sie aufgebrochen sind. 

    Angerührt sind sie. 
    Wieder aufgerichtet, nachdem der Schrecken sie zunächst umgeworfen hatte. 
    So werden sie Jesus als  Auferstandenen wiedersehen. 

    Auferstehung mitten im Leben.
    Aber handfester, alltäglicher.
    Jesus fasst sie an, um sie aus dem Schrecken zurückzuholen.
    Vielleicht legt er ihnen beruhigend die Hand auf die Schulter.
    Er ergreift ihre Hand, um sie vom Boden wieder hochzuziehen. 
    Ein Widerspruch gegen die alltägliche Gewissheit:
    „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen…“ 

    Am Übergang von der Epiphaniaszeit zur Passionszeit gewinnt diese Geschichte eine ganz eigene Bedeutung: 
    Hier berührt der herrlich leuchtenden „Morgenstern“ den elend leidenden Gekreuzigten. 

    Beides zusammen macht das Ganze aus.
    In Christus wie in jedem einzelnen Menschen.

    Gipfel – und Tiefenerfahrungen gehören zusammen. 
    Sternstunden und der krähende Hahn. 

    Und manchmal verklärt sich etwas – wie von selbst. 
    Der Goldgrund scheint durch.

    Das Leben wird transparent für Gottes Gegenwart.  

    Amen  

  • „Fürchtet Euch nicht!?“ Predigt zu Matthäus 14, 22-33

    „Fürchtet Euch nicht!?“ Predigt zu Matthäus 14, 22-33

    Fürchtet Euch nicht!

    Fürchte dich nicht!

    In der Bibel kommen diese Worte, ich selbst habe es nicht gezählt, 124 mal vor.

    Aber je öfter mir so etwas gesagt wird, je skeptischer werde ich.

    „Fürchte dich nicht, du musst keine Angst haben – alles wird gut“.
    Wenn ich das höre, denke ich: Das ist doch wie „Pfeifen im Wald“.

    Wenn die Angst angesprochen wird, dann ist sie doch längst da.

    Mir helfen jedenfalls keine Apelle gegen die Angst.

    Ja, auch ich habe manchmal Angst.

    Glauben Sie, dass, wer an Gott glaubt, keine Angst haben darf?

    Müssen wir furchtlose Glaubenshelden sein?

    In der Bibel finden wir oft Menschen, denen Ängste und Furcht nicht fremd sind.

    „Deine Wellen überfluten mich“ (Ps 42,8), klagt einer im Gebet.
    „Die Angst meines Herzens ist groß“ (Ps 25,17),
    „des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen; ich kam in Jammer und Not“ (Ps 116,3).

    Wir müssen uns mit der Angst auseinandersetzen. Es führt kein Weg daran vorbei.
    Angst gehört zum Leben.
    Leben ohne Angst gibt es nicht.

    Wir müssen immer wieder Wege aus der Angst finden. Doch wie könnte so ein Weg aussehen?

    Nicht, wenn wir die Angst um jeden Preis unterdrücken, verbieten oder vermeiden wollen.
    Auch können wir sicherlich nicht die Angst bekämpfen oder in einem heroischen Kraftakt überwinden.

    Wenn wir in eine lebendbedrohliche Situation geraten oder uns auf einem gefährlichen Irrweg befinden, dann sagt uns die Angst: „Mach was! Hau ab oder kehre um, ändere dein Leben, sonst ist es vorbei!“
    Das ist die wichtige Botschaft der Angst.
    Bei Gefahr läuft bei Krokodilen, Igeln oder Pantoffeltierchen eine automatische Reaktion ab.
    Dies sichert deren Überleben oder eben nicht.

    Im Gegensatz dazu haben wir Menschen ein lernfähiges Gehirn. Es ist in der Lage Wege aus der Angst zu suchen und immer wieder auch zu finden.

    Angst haben hat etwas mit Nachdenken zu tun. Nur wer Nachdenken kann, der kann Angst haben.
    Wir Menschen sind Suchende.
    Wir sind deshalb auch in der Lage Wege aus der Angst zu suchen und zu finden.

    Ich finde, das ist eine tröstliche Botschaft mitten von allem war mir gerade Angst macht.
    Angst vor der Zukunft.
    Angst vor Krankheit,
    Angst, wie es mit der Pandemie weitergeht.
    Angst, vor Ansteckung und so weiter und so weiter ….

    Wege aus der Angst zu finden, bedeutet ausprobieren.
    Suchen, was möglich, sinnvoll, realistisch und mit dem eigenen Leben vereinbar ist.

    Keiner von uns ist ein Superheld, der immer die richtige Lösung weiß.
    Es braucht manchmal viele Gespräche und viel Vertrauen, damit Risiken und Möglichkeiten abgewogen werden können. Bis sich ein Weg öffnet, der einen nächsten Schritt erlaubt.

    Es gibt eine biblische Geschichte, die einen Weg aus der Angst nacherzählt.

    Jesus geht über das Wasser
    22Sofort danach (Anmerkung: Nach der Speisung der 5000) drängte Jesus die Jünger in das Boot zu steigen. Sie sollten an die andere Seite des Sees vorausfahren. Er selbst wollte zuerst noch die Volksmenge verabschieden.23Als die Volksmenge weggegangen war, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Es war schon Abend geworden und Jesus war immer noch allein dort.24Das Boot war schon weit vom Land entfernt. Die Wellen machten ihm schwer zu schaffen, denn der Wind blies direkt von vorn.25Um die vierte Nachtwache kam Jesus zu den Jüngern. Er lief über den See.26Als die Jünger ihn über den See laufen sahen, wurden sie von Furcht gepackt. Sie riefen: »Das ist ein Gespenst!« Vor Angst schrien sie laut auf.27Aber sofort sagte Jesus zu ihnen: »Fürchtet euch nicht! Ich bin es. Ihr braucht keine Angst zu haben.«
    Petrus findet Halt bei Jesus
    28Petrus sagte zu Jesus: »Herr, wenn du es bist, befiehl mir über das Wasser zu dir zu kommen.«29Jesus sagte: »Komm!« Da stieg Petrus aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus.30Aber auf einmal merkte er, wie stark der Wind war. Da bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Herr, rette mich!«31Sofort streckte Jesus ihm die Hand entgegen und hielt ihn fest. Er sagte zu Petrus: »Du hast zu wenig Vertrauen. Warum hast du gezweifelt?«32Dann stiegen sie ins Boot und der Wind legte sich.33Die Jünger im Boot warfen sich vor Jesus nieder. Sie sagten: »Du bist wirklich der Sohn Gottes!«

    Basisbibel Matthäus 14,22-33

    Mitten in der Nacht – das ist ein ziemlich gutes Bild für die Angst.

    Denn in der Nacht passieren Dinge, die wir nicht im Griff haben.
    Geräusche, die nicht einzuordnen sind.
    Träume, die uns aufschrecken.
    In der Nacht verstärkt sich das Gefühl völlig alleine zu sein.
    Weil die Augen die Dunkelheit nicht durchdringen können.
    Weil sich alles, was wir bei Tageslicht unter Kontrolle haben, sich fremd und ungreifbar anfühlt.

    Die Vorstellung, dass wir einer Bedrohung hilflos ausgeliefert sind, macht Angst.
    Die Vorstellung, dass wir eine Bedrohung nicht rechtzeitig erkennen können, macht Angst.
    Die Vorstellung, dass wir keine geeigneten Mittel zur Hand haben, um die Bedrohung abwenden zu können, macht Angst.
    Die Vorstellung, niemanden zu finden, wenn ich alleine nicht mehr weiterweiß, macht Angst.

    Allein schon diese Vorstellung löst in uns ein gewaltiges Durcheinander aus.
    Erst, wenn wir wieder etwas finden, an dem wir uns ausrichten können, hört dieses Durcheinander auf.

    Es geht darum, einen „inneren Kompass“ zu finden.
    Gibt es etwas, was mir so wichtig ist, dass ich danach alles ausrichte?
    Mein Tun und Lassen; auch im Traum?

    Das muss ich für mich selbst herausfinden.
    Wir wissen es alle – tief in unserem Inneren.
    Wir müssen es nur finden.

    Es ist eine Erfahrung, die viele Menschen machen:
    Selbst, ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich tun, richten sie sich danach aus.

    Was passiert mit den Jüngern im Boot?
    Wie ist das mit ihrem Kompass?
    Was hilft, damit es einen Weg aus der Angst gibt?

    Der Kompass, so viel ist klar, ist nicht einfach Jesus.

    Du musst nur glauben, sagen manche – dann ist die Angst weg.

    Aber das stimmt nicht!

    Das haben schon so viele erlebt:
    Mitten in der Nacht – da kann dieser Jesus aussehen wie ein Gespenst.
    Kein Wunder, dass die Jünger vor Furcht aufschreien und sich – so stelle ich es mir vor – erstmal im Boot wegducken. Vielleicht geht der Spuk weg, wenn wir nicht hinschauen!

    Das ist eine Möglichkeit. Augen zu und wegducken. Manchmal hilft es ja.
    Manchmal kann es eine gute Strategie sein, nicht immer hinschauen oder alles hautnah an sich herankommen zu lassen. Manchmal sagt mir mein innerer Kompass: Du musst nicht stark sein.

    Andere haben andere Strategien. Petrus zum Beispiel redet den, der da so geisterhaft daherkommt, an. Vielleicht erinnert er sich an die Sache mit der Nachfolge. Schließlich hat es schon ein paarmal geklappt, wenn Jesus Menschen gerufen hat. Die sind dann mitgegangen, obwohl das nicht immer einfach war.

    Die haben sich Jesus zum Vorbild genommen. Was der kann, das kann ich auch.

    Sich in der Angst zurückziehen oder nach vorne gehen.

    Beides können sinnvolle Strategien sein.

    Manchmal legt sich die Angst und Verwirrtheit beim genauen Hinschauen. Wenn es möglich ist zu überlegen:
    Was wäre ein hilfreicher Schritt?
    Was hat schon mal geholfen?
    Was traue ich mir zu?
    Wofür gibt es Unterstützung und von wem?
    In welche Richtung zeigt der Kompass jetzt?

    Manchmal greift keine dieser Strategien.
    Manchmal rutscht uns der Boden unter den Füßen weg,
    Manchmal versinken wir in Angst und Dunkelheit.

    Nicht einmal die, die schon viel mit Jesus erlebt haben, können sich darauf verlassen, dass es immer gut geht.
    Nicht einmal die, die sich schon oft auf seine Worte verlassen haben. Die sich hinausgewagt haben.
    Nicht einmal die, von denen alle anderen sagen: Der muss es doch schaffen, wer, wenn nicht der ….

    Ist einer womöglich selber schuld, wenn das Wasser nicht fest wird unter seinen Füßen und es ihn nun bis zum Hals steht?
    Hättest du mehr geglaubt, fester gehofft, drängender gebetet!

    Da muss ich nicht nur durch Angststürme gehen, sondern bekomme auch noch gesagt:
    Wieder nicht genug gebetet.
    Wieder nicht genug geglaubt.
    Wieder nicht genug gehofft.

    Du Kleingläubiger?

    Kleinglauben. Oligopiistos.

    Das ist ein Wort, das im Matthäusevangelium immer wieder vorkommt. Immer wenn es darum geht, die Situation der Jüngerinnen und Jünger zu beschreiben, wenn sie Jesus begegnen.
    Es ist eine Art Bestandsaufnahme.
    Gerade in diesen Momenten, in denen gespürt wird, dass einem die Angst überflutet:
    kleiner Glaube, großer Zweifel, Riesenangst….

    Und dann passiert es. Genau in diesem Moment, in dem das mit dem Kleinglauben und dem Zweifel ausgesprochen wird.
    Es ist so unspektakulär, wird fast nebensächlich erwähnt: Und sie traten in das Boot …, Petrus und Jesus. Beide zusammen.
    In dieses Nussschalenboot mitten in der aufgewühlten Angstsee.
    Und der Sturm merkt, dass er jetzt keine Macht mehr hat. Und er legt sich. Und es wird still …

    Wege aus der Angst.
    Diese Geschichte ermutigt mich, die Angst ernst zu nehmen.
    Weil hier die Angst nicht weggeredet wird.
    Weil sie mich anregt, auszuprobieren, was sich womöglich schon bewährt hat: Gemeinsam mit anderen, die auch Angst haben, nach einem Ausweg zu suchen.

    Vertrauen

    Aber manchmal hilft das alles nicht.
    Manchmal geht es vor allem darum, mitten in der Angst wieder das Vertrauen zu finden.
    Sich mit dem zu Verbinden, dem vertraut werden kann.
    Da geht es nicht nur um einen Menschen, der Helfen will. Mit Zuspruch, Unterstützung oder einem „Komm“ mit ausgestreckter Hand.

    Da geht es um mehr.
    Da geht es um Liebe.
    Da geht es um Geborgenheit.
    Und da geht es um Dinge, die mit Worten allein nicht ausreichend beschrieben werden können.

    Auch in dieser Geschichte von der Angst mitten in der Nacht gibt es diesen besonderen Moment, wo Worte nicht reichen.
    Was geschieht, geschieht ohne Worte. Sollen wir es Offenbarung nennen?

    Dann stiegen sie ins Boot und der Wind legte sich. Die Jünger im Boot warfen sich vor Jesus nieder. Sie sagten: »Du bist wirklich der Sohn Gottes!«

    Die Jünger erlebten auf einmal, was dieses „Fürchte dich nicht“ mitten in der Angst bedeutet.
    Das „Fürchte dich nicht“ ist im Boot mit ihnen. Ist da, lässt sich anfassen und ansprechen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

    In diesem Moment geht Jesus hinein in die Angst, in meine Angst, in mein Nussschalenboot mitten in der aufgewühlten See.
    Er steigt mit ins Boot, obwohl er es wirklich nicht müsste.
    Aber da ist er, mitten im Boot.

    Einander nicht allein lassen in der Angst. Das ist schon viel.
    Dabei hilft es mir zu wissen, dass die Angst menschlich ist, dass sie zu uns Menschen gehört.
    Ohne Angst können wir uns nicht weiter entwickeln. Sie ist eine Chance zu lernen, neue Möglichkeiten zu lernen.

    Deshalb ist es gut, die Angst genau anzuschauen, sich mit ihr vertraut zu machen. Denn nur wenn ich ihr nicht ausweiche, kann ich entdecken, was mir Mut macht. was mich vertrauen lässt, was mich beruhigen kann.

    Aber der innerste Kern, weshalb dieses „Fürchte dich nicht“ wirken kann, sind nicht Worte. Es braucht ein Du, das mitten in der Angst anwesend ist.
    Jedes „Fürchte dich nicht“ in der Bibel ist eine Kurzfassung der Zusage Gottes: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir … Ich bin dein Gott …
    So Redet Gott uns mitten in der Angst an.
    So ermutigt er uns zum Du.

    Es ist die Intimität und Nähe einer Liebesgeschichte.
    Der, der mich in solchen Momenten anspricht, der hört mein ganz leises, fast stimmlos geflüstertes „Du“.
    Dann kann es passieren, dass ich mich angesehen und angesprochen fühle.
    Mitten in meiner Angst. Nach Halt suchend.
    Wenn ich auf die Wellen starre, mit einer Seele, die vertrauen will und doch immer wieder zweifelt in meinem Nussschalenboot in rauer See.

    Dieses „Fürchte dich nicht“, das gilt auch mir. Mitten in meiner Angst. Gibt mir ein Gesicht, eine Melodie, ein Wort, eine Hand.

    Dieses Wort Gottes: „Ich bin da“ ist tröstend und ermutigend.
    Dieses Wort Gottes Ist ein Weg aus der Angst.

    Gott sei Dank – und Amen.