Predigt für 13. Sonntag nach Trinitatis 14.09.2025 in Frickenhausen
I. Szene – Draußen auf der Straße
Draußen auf der Straße:
Ein heißer Nachmittag.
Die Sonne brennt.
In der Luft flimmert die Hitze.
Jeder Atemzug ist schwer.
Auf der Straße liegt Staub, der bei jedem Schritt aufwirbelt und sich wie ein Film auf Haut und Kleidung legt.
Vor einem Haus in Kafarnaum steht eine Frau. Maria.
Ihre Hände spielen unruhig mit dem Saum ihres Mantels.
Ihre Augen wandern immer wieder zur Tür.
Neben ihr die Geschwister Jesu.
Sie sind gekommen, weil sie sich Sorgen machen.
Maria – die Mutter.
Sie denkt zurück:
an das Kind in der Krippe,
an den Jungen im Tempel,
an die Hochzeit zu Kana.
Und jetzt?
Ihr ältester Sohn ist unterwegs, predigt, heilt und zieht die Massen an.
Doch zugleich wächst der Widerstand.
Die Schriftgelehrten halten ihn für gefährlich.
Die Verwandten hören Gerüchte, dass er „von Sinnen“ sei.
Vor ein paar Tagen wollte sie zusammen mit ihren anderen Söhnen Jesus mit sanfter Gewalt nach Hause bringen.
Das war der falsche Weg.
Das hat Maria eingesehen.
Nun möchte Maria Jesus sehen.
Sie will ihn zur Seite nehmen.
Sie will ihn schützen.
Sie möcht ihn überreden.
„Komm doch heim.
Jesus.
Wir haben Angst um dich.“,
das möchte sie ihm sagen.
2. Szene – Drinnen im Haus
Drinnen im Haus:
Es ist stickig, eng.
Schweiß mischt sich mit dem Duft von frisch gebackenem Brot, der von draußen hereinweht.
Die Menschen drängen sich dicht an dicht.
Überall sitzen sie.
Stehen an den Wänden
Drängen sich nach vorn.
Es ist kaum Platz zum Atmen.
Ellenbogen stoßen in Rippen.
Ein Kind klettert auf die Schultern des Vaters, um besser sehen zu können.
Frauen stehen am Rand, ihre Tücher in der Hand, um sich Luft zuzufächeln.
Alle wollen nahe bei Jesus sein.
Sie hängen an seinen Lippen.
Sie greifen nach seinen Händen.
Sie warten, dass er wieder ein Wort spricht.
Dass er ein Wunder tut.
Plötzlich ein Raunen.
Ein Bote drängt sich durch die Menge.
Er setzt seinen Ellbogen ein.
Er kämpft sich vor.
Sein Atem geht schnell, er ringt nach Luft, als er endlich vor Jesus steht.
„Deine Mutter und deine Brüder sind draußen.
Sie fragen nach dir.
Sie wollen dich sprechen“
Alle Blicke wenden sich Jesus zu.
Natürlich.
Jetzt steht er gleich auf.
Die Familie geht vor.
Immer.
Die Mutter. Die Brüder und Schwestern.
Das weiß doch jedes Kind in Israel.
Und dann – Stille.
Jesus rührt sich nicht.
Er hebt den Kopf.
Seine Augen schweifen über die Menge.
Es sieht Männer und Frauen,
Arme und Kranke,
Suchende, Zweifelnde.
Es sieht Mensch, die gekommen sind, weil sie sich nach Heilung sehnen, nach Hoffnung, nach Wahrheit.
Da fragt er: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?“
Und ohne wirklich auf eine Antwort zu warten,
streckt er die Hand aus und zeigt auf die, die um ihn herum sitzen.
Auf die Jünger, die Zuhörer, die Frauen und Männer am Rand.
Und er beantwortet seine Frage selbst:
„Seht: Das hier ist meine Mutter und meine Brüder.
Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter.“
3. Szene – Der Schock
Ein Schock geht durch die Menschen.
Es ist, als ob jemand einen Stein ins Wasser geworfen hätte.
Ein Schock, der Wellen durch die Menge treibt.
Köpfe fahren herum.
Augen weiten sich.
Ein Murmeln geht durch die Reihen:
„Hat er das wirklich gesagt?“
Ein Aufschrei im Inneren:
„Das kann er nicht gesagt haben!“
Es ist ein Skandal.
Die jüdische Tradition kennt nichts Wichtigeres als die Familie.
„Ehre Vater und Mutter“ – das vierte Gebot.
Ein Gebot, das wie ein Fundament das Haus trägt.
Und Jesus?
Er stellt es infrage.
Der jüdische Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin stellt fest:
Jesus beleidigt mit diesen Worten den Familiensinn der Juden.
Und ehrlich – uns verletzt es auch.
Stellen sie sich vor – ihr Sohn, ihre Tochter stünde hier und würde öffentlich sagen:
„Das ist nicht meine Mutter.
Das ist nicht mein Bruder.
Meine wahre Familie sitzt um mich herum.“
Wer von uns würde das ertragen?
Wir wären enttäuscht.
Wir wären verletzt.
Wir wären vielleicht verzweifelt.
Famile, das ist doch das Heiligste.
Oder?
Blut ist dicker als Wasser.
Die Mutter, die ihr Kind trägt.
Der Vater, der arbeitet, um das Kind groß zu ziehen.
Die Geschwister, die sich streiten und doch zusammenhalten.
4. Szene – Die Härte
Wir könnten jetzt sagen:
„Das geht nicht.
Jesus ist hier zu hart.
Das akzeptieren wir nicht“
Und doch – diese Worte stehen da.
Und nicht mur bei Markus.
Auch Matthäus und Lukas berichten es
Fast wortgleich.
Sie alle wollten, dass wir es hören.
Matthäus fügt hinzu:
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ (Mat. 10,37)
Noch härter Lukas:
„Wer nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder hasst, kann nicht mein Jünger sein.“ (Luk. 14,26)
Das ist hart.
Diese Worte brennen.
Sie tun weh.
Ich möchten am liebsten sagen: „So etwas wollen wir von Jesus nicht hören.“
Aber warum haben die Evangelisten diese Worte nicht einfach weggelassen?
Warum stehen sie da?
Mitten in der Heiligen Schrift?
Mitten in unserem Predigtplan?
Heute, an diesem Sonntag?
Jesu Worte sind wie ein Messer, das durch alte Bindungen schneidet.
Sie treffen ins Herz.
Sie tun weh.
Und doch öffnen sie auch etwas – wie ein Schnitt, der Luft an eine Wunde bringt.
Jesus übertreibt.
Radikal.
Damit wir aufwachen.
5. Szene – Der Konflikt in uns
Jesus mutet uns etwas zu.
Etwas, was wir nicht gerne hören möchten.
Er will uns aufrütteln.
Er zwingt uns, über die Reihenfolge im Leben nachzudenken.
Er sagt:
„Erst Gott – dann die Familie.
Erst der Wille des Vaters.
Dann das, was die Menschen von uns wollen.
Das ist kein Aufruf zur Lieblosigkeit.
Es ist ein Aufruf zur Klarheit.
Zur Freiheit.
Es ist, als ob Jesus uns einen Spiegel hinhält – und plötzlich sehen wir nicht nur unser Gesicht, sondern auch die Fesseln, die uns halten.
6. Szene – Der Spiegel
Schauen wir in den Spiegel.
Ganz ehrlich.
Wir alle leben in „Familen“.
Nicht nur in der biologischen.
Es gibt die Familie der Firma, die uns sagt:
„So musst du arbeiten.
So musst du funktionieren.“
Da ist dieser Blick auf die Stempeluhr, die uns sagt, wann wir wertvoll sind.
Es gibt die Familie der Nachbarschaft.
Da sind die Gardinen, die sich heben, wenn jemand anders lebt, anders liebt, anders glaubt.
„So lebt man hier.
So feiert man hier.
So redet man hier.“
Es gibt die Familie der Schule.
„So ist unsere Klasse.
So gehen wir miteinander um“
Und es gibt die Familie der Kirche.
Da ist das ehrwürdige Gesangbuch, das zu Fesseln werden kann, wenn es nicht mehr zum Singen, sondern nur noch zum Bewahren dient.“
Und wir kennen den Druck:
„Sei so wie wir.
Mach, was wir erwarten.
Sei loyal.
Sei angepasst.“
Dagegen sagt Jesus:
„Hör zuerst auf den Willen Gottes.“
Das ist unbequem.
Das kann isolieren.
Das kann kosten.
Das bedeutet:
Manchmal musst du Nein sagen.
Nein zu den Erwartungen der Eltern.
Nein zum Druck der Firme.
Nein zu den stillschweigenden Regeln der Gesellschaft.
Nein sogar zur eigenen Gemeinde, wenn sie dich vom Weg abbringt.
7. Szene – Ein Zeuge: Friedrich Spee
Einer, der dieses Nein gelebt hat, war Friedrich Spee – ein Jesuit im 17. Jahrhundert.
Er sah Frauen, die als Hexen angeklagt wurden.
Die Frauen wurden gefoltert, gebrochen, verurteilt, verbrannt.
Und er wusste: Das ist nicht der Wille Gottes.
Die „Famile Kirche“ schwieg.
Die „Famile Gesellschaft“ jubelte.
Alle waren überzeugt: Das ist Recht und Ordnung.
Aber Fiedrich Spee wagte das Ungeheuerliche:
Er Widersprach.
Er begleitete die Frauen auf ihrem Weg zum Richtplatz.
Er hörte ihre Schreie.
Er wagte es, ein Buch zu schrieben – die Cautio criminalis.
Ein Aufschrei gegen Folter und die Hexenverbrennung.
Unter falschem Namen, denn es war sehr gefährlich gegen den Chor seiner Zeit zu schreiben.
Seine Stimme war leise – aber sie durchbrach den Chor des Schweigens.
Wie eine einzelne Flamme inmitten einer Finsternis.
Als der Autor doch bekannt wurde, musste Friedrich Spee mit den Konsequenzen leben.
Die Kirche verstieß ihn.
Seine Mitbrüder entzogen ihm die Professur.
Doch Friedrich Spee war frei.
Frei gegenüber der Tyrannei falscher Familien.
Frei, weil er wusste:
Meine wahre Familie ist die, die den Willen Gottes tut.
Und er schrieb Lieder, die wir bis heute singen:
„O Heiland reiß die Himmel auf.“
„Zu Bethlehem geboren.“
Lieder, in denen eine Freiheit erklingt, die stärker war, als die Fesseln seiner Zeit.
8. Szene – Was heißt das für uns?
Was heißt es also, Jesus zu folgen?
Zuerst, es heißt nicht, die Familie gering zu schätzen
Sondern es heißt:
Sich nicht gefangen nehmen zu lassen.
Nicht gefangen in Erwartungen, die uns knechten.
Nicht gefangen in Traditionen, die uns fesseln.
Nicht gefangen in Angst, die uns lähmt.
Es heißt: freu zu werden.
Frei für den Willen Gottes.
Frei für eine Famile, die größer ist als Blut und Herkunft.
Frei für eine Gemeinschaft, die keine Grenzen kennt:
Brüder und Schwestern aus allen Völkern, allen Sprachen, allen Kulturen.
Und genau hier trifft sich unser Predigttext mit dem heutigen Sonntag.
Denn der 13. Sonntag nach Trinitatis stellt uns die Frage:
Für wen bin ich der Nächste?
Jesu neue Familie entsteht da, wo Menschen den Willen Gottes tun – und das bedeutet:
den Nächsten sehen.
Nicht wegschauen, wenn jemand leidet.
Nicht sagen: „Das geht mich nichts an.“
Sondern mit Liebe handeln – so wie der Barmherzige Samariter.
Und das ist radikal.
Es ist, als ob Jesus die Fenster unserer engen Häuser aufstößt – und frische Luft hereinweht.
Und es ist radikal inklusiv.
Denn es heißt:
Jeder und Jede kann Teil von Jesu Familie werden.
Niemand bleibt draußen – es sei denn aus eigenem freien Willen.
9. Szene – Die Einladung
Und so ist es heute wie damals in Kafarnaum.
Jesus sitzt mitten unter uns.
Er schaut uns an – in die Gesichter, die hier im Kreis um ihn sitzen.
Er breitet seine Hand aus und sagt:
„Siehe, das ist meine Mutter.
Das ist meine Schwester.
Das ist mein Bruder.
Wenn du nach dem Willen Gottes fragst,
wenn du ihn suchst,
wenn du ihn lebst,
dann gehörst du zu meiner Famile.
Dann bist du nicht allein.
Dann bist du getragen.
Dann bist du frei.
Und wirst zum Nächsten – für die, die dich brauchen.“
10. Schluss
Friedrich Spee nannte eines seiner Gedichte „Trutznachtigall“ – trotzige Nachtigall.
Eine Nachtigall,
sie singt, obwohl es Nacht ist.
Sie jubelt während die Welt im Dunkeln lieg.
Ihr Lied ist zart und zugleich trotzig stark.
So klingt die Familie Jesu.
Ein Gesang, trotzig, gegen die Angst.
Ein Gesang gegen die Enge,
gegen die Nacht.
Wir bilden eine Gemeinschaft, Jesu Familie.
Eine Familie, die frei macht von allen falschen Familien.
Eine Familie, die uns trägt –
und die uns sendet, Nächste zu sein für andere.
Heute.
Und in Ewigkeit.
Amen

