Kategorie: Johannes

  • Die Auferweckung des Lazarus – Johannes 11, 1-45

    Die Auferweckung des Lazarus – Johannes 11, 1-45

    Predigt am 05.10.2025 in Nehren

    Vor ein paar Tagen habe ich per Whatsapp ein Bild zugeschickt bekommen. Darauf waren nur die drei Worte: „HEUTE SCHON GELEBT?“

    „HEUTE SCHON GELEBT?“
    Die Frage hat mich nachdenklich gemacht.
    Erfahre ich mich als lebendiger Mensch?
    Lustvoll, spontan, initiativ, mit Elan und Frische, in Bewegung, in Entwicklung, in Beziehung zu anderen?

    Oder läuft das Leben an mir vorbei?
    Habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen?
    Vergrab ich mich?
    Habe ich den Lebensmut verloren, sehe keinen Sinn mehr, fühle mich am Ende?
    Habe keine Erwartungen mehr?
    Alles ist mir egal.
    Nach mir die Sintflut.
    Alles stinkt mir.

    „HEUTE SCHON GELEBT?“
    Es gibt nicht nur am Ende des Lebens das Grab auf dem Friedhof.
    Nein, es gibt die Gräber im Leben.
    Wenn das Leben jetzt schon erstarrt, erdrückt, abgestorben ist.
    Wenn das Leben, mitten im Leben, begraben ist.
    In Gräber, in die man sich selber gelegt hat oder in die einen andere hineingedrängt haben.

    Es gibt Situationen, da töten Blicke.
    Wenn uns ein Wort tödlich verletzt, regelrecht umhaut.
    Es gibt das Mundtotmachen unter Menschen, das Totschweigen und die Totenstille.

    Es gibt Beziehungen, die sind so verfahren, so aussichtslos am Nullpunkt, dass der andere für einen „erledigt“ ist, „lebendig tot“.

    Kennen sie die Sprüche:
    Mit dem ist nichts los.
    Der kann sich einbalsamieren lassen.
    Den kannst du vergessen.
    Der ist für mich gestorben.

    Werden da nicht Menschen in Leinentücher eingewickelt und lebendig begraben?
    Bereitet sich da nicht der Geruch des Todes aus, wie bei Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt?

    „HEUTE SCHON GELEBT?“

    Es wird viel gestorben in unserer Welt.
    Natürlich muss jeder/jede von uns sterben.
    Ich denke an die vielen Verkehrstoten, Krebstoten.
    Die Toten in der Ukraine, in Israel, in Gaza, in Afganistan und sonstwo in dieser unseren kriegerischen Welt.

    Mitten im Leben sind wir auf vielerlei Weisen vom Tod umfangen und keine Todesanzeigen machen eine Notiz davon.
    Für mich hat das Tödliche viele Namen und Gesichter.
    Dazu gehört auch der Tod durch Beziehungslosigkeit, der Gefühlsstarre und der Angst.
    Auch dieser Tod schnürt uns die Kehle zu.
    Nimmt uns die Luft zum Atmen.
    Wir kommen uns eingesperrt vor, wie in ein Grab.
    Es ist eng, dunkel und muffig.

    Beim Propheten Ezechiel heißt es:
    „So spricht Gott der Herr, ich öffne eure Gräber und hole euch aus euren Gräbern heraus!“
    Gemeint waren nicht die Gräber auf den jüdischen Friedhöfen in Israel, sondern das Volk in der babylonischen Gefangenschaft.
    Es befand sich in einer hoffnungslosen Lage, eingeschlossen wie in ein Grab, mehr tot als lebendig.
    Doch der Prophet verheißt das beinahe Undenkbare:
    die Rückkehr der Verbannten, die Heimkehr in ihr Land.
    Gott wird sein Volk herausführen wie einst aus Ägypten, es aufrichten und ihm neues Leben schenken.

    Jesus ruft am Grab von Lazarus:
    „Wälzt den Stein weg!“ (Weg mit dem Stein!)
    „Bindet ihn los!“ (Weg mit den Leinentüchern!)
    „Lazarus komm heraus!“ (Heraus aus deiner Totenhöhle!)

    Die Grundbewegung heißt: Heraus aus den Gräbern!
    Aus den Gräbern der Angst, der Resignation, der Enge, der Isolation, der Traurigkeit und der Verzweiflung!

    Die Grundbewegung geht ins Weite, ins Licht, ins Vertrauen, hin zu neuen Ufern und Horizonten.

    Nicht der Tod und auch nicht die vielfältigen Tode vor dem Tod sind das Letzte.
    Wenn wir am Ende sind, ist Gott nicht am Ende.
    Wenn wir nicht mehr weiterwissen, fängt Gott erst an.
    Wennenn wir keine Rettung mehr sehen, ist für Gott noch alles möglich.
    Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages.
    Der Tiefpunkt wird zum Ausgangspunkt für neue Hoffnung.

    Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben.
    Gott ist und bleibt ein Liebhaber des Lebens.
    Er will, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben.

    „LAZARUS KOMM HERAUS“, ruft Jesus
    Setzen wir für Lazarus unseren eigenen Namen ein!
    „Alex“ komm heraus aus der Höhle deiner Selbstverschlossenheit,
    „Berta“ komm heraus aus dem Kreisen um dich selbst.
    „Chris“ komm heraus aus deiner Engherzigkeit.
    „Doris“ komm heraus aus deinem Misstrauen, aus deinen Minderwertigkeitskomplexen oder auch aus deinem Stolz!
    „Egon“ komm aus dem Grab deiner Angst, aus deiner Lieblosigkeit, aus deinen falschen Anhänglichkeiten und Abhängigkeiten, deinen Süchten und deiner Gier!

    Komm heraus!
    Das geht uns alle an.
    Steh auf aus deiner Sünde!
    Werde ein neuer Mensch!
    Lass dich herausholen aus deinen Gräbern.
    Komm heraus ins Leben!

    „WÄLZT DEN STEIN WEG“, ruft Jesus.

    Das dürfen wir auf uns selbst anwenden.
    Was hält mich vom Leben ab?
    Welche Steine liegen auf mir, die hindern, blockieren, mich erdrücken, Leben ersticken?
    Ängste, Hemmungen, die Unfähigkeit, mich selbst anzunehmen?

    „Wälz den Stein weg“
    der Enttäuschung, des Grolls, der Verbitterung.
    „Wälz den Stein weg“ der Sturheit und Hartherzigkeit.
    Bei Gott ist kein Mensch verloren.
    Er schreibt niemanden ab.
    Bei ihm ist die Tür immer offen.
    Auch du hast mehr Spielräume und Möglichkeiten als du denkst.

    Wälz den Stein des Hasses und der Rache weg!
    „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir Erbarmen hatte?“

    Wälz den Stein der Vorwürfe und Vorurteile weg!
    Sag nicht: da ist nichts mehr zu machen.
    Der oder die ist für mich gestorben!
    Ein hoffnungsloser Fall!

    „BINDET IHN LOS“, ruft Jesus.

    Hören wir auch diese Worte auf uns hin!

    Womit verstecke ich mein Gesicht?
    Was schnürt mich ein?
    Wo fühle ich mich gefesselt, innerlich, äußerlich?
    Habe ich mir selbst diese Fesseln angelegt oder andere?

    „Bindet ihn los!“
    Lass los, was dich an deine dunkle Vergangenheit bindet!
    Lass los, was das Leben in dir tötet!
    Leg ab, was deine Gegenwart erstickt, erdrückt!

    Sorge für das, was in dir angelegt ist.
    Pflege es behutsam!
    Lass es blühen, wachsen!
    Werde, was du sein kannst!

    Manchmal ist es sehr mühsam, den Stein wegzuwälzen.
    Es kann sehr schwer sein.
    Allein schaffen wir es nicht.

    Auch die Binden, die einschnüren und fesseln, zu lösen, ist nicht einfach.
    Wie unfrei sind wir oft und können uns nicht selbst befreien.

    „Wälzt den Stein weg! Löst die Binden!“ das sagt Jesus zu den Umstehenden.
    Lazarus ist auf die Hilfe anderer angewiesen.
    Andere müssen den Stein wegwälzen.
    Andere müssen seine Binden lösen.
    Andere müssen ihm helfen, frei zu werden und ins Leben zu kommen.

    Auch wir brauchen den anderen, wir brauchen einander.
    Wir brauchen die Brüder, die Schwestern.
    Wir brauchen geistliche Gemeinschaft, geistliche Begleitung.
    Wir sind aufgerufen, von Jesus gerufen, einander liebevoll von manchmal zentnerschweren Steinen zu befreien.
    Wir können uns gegenseitig liebevoll aus Gebundenheiten und Fesseln zu helfen.
    Damit wir als „Auferweckte“ in dieser Welt miteinander leben können.

    Liebe Schwestern und Brüder!

    Die Auferweckung des Lazarus ist mehr als eine Wundergeschichte. Es ist eine Glaubensgeschichte.
    In ihr geht es nicht darum, dass ein Toter ins Leben zurückfindet, der dann früher oder später doch wieder sterben muss.
    Es geht vielmehr darum, dass ich ins Leben komme.

    Denn „Glauben“ heißt im Johannesevangelium nichts anderes als vom Tod ins Leben kommen.
    Aus den Gräbern herauszukommen, wo vorgewälzte Steine und viele Binden lebensunfähig machen.
    Herauskommen aus dem Grab der Selbstsucht und Gottferne in die Nähe Gottes, in die Freude und Freiheit der Kinder Gottes.
    Das Ziel ist die Beziehung zu dem, der von Grund auf liebt und uns die Schuld vergibt.
    Eine Beziehung zu dem, der nicht nur Liebe hat, sondern Liebe ist.
    Ja, dessen Wesen Liebe ist.

    „Stark wie der Tod“ – stärker als alle Tode – „ist die Liebe!“

    Darum geht es beim Glauben.
    Wer an mich glaubt, sagt Jesus.
    Wer auf Gott vertraut.
    Wer auf ihn seine ganze Hoffnung setzt.
    Der muss nicht bis ans Ende der Tage auf seine Auferstehung warten.
    Der ist im Glauben bereits auferstanden.

    Für den Glaubenden ist der Tod eigentlich gar kein Tod mehr, kein Ende,
    Für den Glaubenden ist der Tod kein Schlusspunkt, eher ein Wendepunkt.
    Vor allem ist er ein alles verheißender Doppelpunkt.
    Denn das Leben, das wir in Christus jetzt schon haben und das er uns schenkt überdauert selbst den Tod.
    Es ist stärker als der Tod.
    Wer an Christus glaubt, hat – nicht wird haben, sondern hat.
    Wer an Christus glaubt, hat Anteil am göttlichen Leben.
    Das ewige Leben hat in ihm schon begonnen.

    Als Marta einwendet: „Ich weiß, dass er auferstehen wird, bei der Auferstehung am letzten Tag“, da sagt Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Jesus korrigiert die Antwort der Marta entscheidend. Und er fügt hinzu: „Glaubst du das?“

    Diese Frage ist ganz wichtig.
    Da wird nämlich die ganze Provokation, die in der Lazarusgeschichte steckt, deutlich.

    „Glaubst du das?“ fragt Jesus auch uns.
    Die Antwort darauf entscheidet, ob wir österliche Menschen sind oder nicht.

    Im Angesicht des Todes, im Umkreis von Grab und Verwesung, heute mitten in den vielen Namen und Gesichtern von Grab und Tod:
    glaubst du, dass Jesus das Leben ist.
    Dass er die Auferstehung aus der Sinnlosigkeit und den Zwängen des Todes in seinen vielfältigen Erscheinungsformen schon jetzt möglich ist und geschieht?

    Diese Frage: „Glaubst du das?“ ruft in Marta ein großartiges Messiasbekenntnis hervor, das sich durchaus mit dem des Petrus messen kann: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“

    Marta gehört zu den Sterblichen, von denen Jesus sagt: „Wer mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der hat (nicht er wird haben, sondern der hat) das ewige Leben. Er kommt nicht ins Gericht, sondern ist (nicht wird, sondern ist) aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.”

    Weil Christus die Auferstehung und das Leben ist, können und dürfen wir jetzt schon als österliche Menschen das Leben wagen und jetzt schon aus der Kraft der Auferstehung leben, die uns einmal – unwiderruflich – ganz erfüllen wird.

    So dürfen wir mit Marta bekennen: „Ja, Herr, ich glaube.“
    Und dieses Bekenntnis bleibt nicht nur ein Wort auf unseren Lippen, sondern wird uns im Glauben geschenkt und im Leben getragen. Christus selbst ist mitten unter uns – nicht fern, nicht entrückt, sondern gegenwärtig.

    Im Abendmahl erfahren wir dies auf besondere Weise:
    Wir empfangen das Brot des Lebens.
    Wir trinken aus dem Kelch des Heils.
    Hier wird die Verheißung Jesu greifbar: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
    Das dürfen wir fühlen und schmecken.

    Wenn wir essen und trinken, dann feiern wir nicht nur eine Erinnerung.
    Wir werden in die Kraft seines Lebens hineingenommends.
    Wir dürfen schon jetzt aus der Fülle seiner Auferstehung leben – und zugleich hoffen wir auf das Mahl in Gottes Reich, wo alle Tränen abgewischt sein werden.

    Darum sind alle zu seinem Tisch eingeladen:
    Menschen, die glauben und zugleich zweifeln.
    Menschen, die suchen und hoffen.
    Wir alle sind von Christus selbst eingeladen, der spricht: „Kommt, denn es ist alles bereit.“

    Amen

  • Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

    Die Wahrheit suchen – und dem Leben begegnen

    Predigt zu Johannes 5,39–47 am 1. Sonntag nach Trinitatis in der Nürtinger Lutherkirche am 22.06.2025

    Liebe Geschwister,
    es ist eine irritierende Szene, die Johannes uns überliefert:
    Menschen, die in den Schriften nach dem ewigen Leben suchen und dabei an dem vorbeigehen, der das Leben selbst ist.
    Der, der Leben schenkt, steht vor ihnen
    und sie schlagen die Tür zu.

    1. Gutes Tun – Verfolgung erfahren

    Dieser Text ist 2000 Jahre alt.
    Er beschreibt die Reaktion Jesu auf den Vorwurf, dass er Gottes Wille mißachte, weil er am Sabbat einen Menschen geheitl hat.
    Ich bin mir sicher:
    Die Szene, die Johannes beschreibt, ist bis heute aktuell.
    Wie oft eckt gutes Tun an bestehenden Traditionen an.
    Dann rückt das Gute in den Hintergrund und der Verstoß gegen die guten Sitten in den Vordergrund.

    Das ist kein rein biblisches Phänomen.
    Victor Hugo hat das im 19. Jahrhundert eindrücklich beschrieben:
    In seinem Roman Les Misérables stiehlt Jean Valjean ein Brot –
    nicht aus Gier, sondern um seine hungernde Familie zu retten.
    Doch dieser Akt der Fürsorge wird als Verbrechen verurteilt.
    Er wird gebrandmarkt, weggesperrt, lebenslang verfolgt –
    nicht weil er böse war, sondern weil er gegen die Ordnung handelte.

    Was zählt mehr: Das Leben eines Kindes – oder das Gesetz?
    Was zählt mehr: Gerechtigkeit – oder das Einhalten der Form?

    Diese Frage stellt sich bis heute.

    Auch heute geraten Menschen in Verruf,
    weil sie das Richtige tun – aber nicht so, wie es vorgesehen ist.
    Man denke an die Seenotretterinnen und -retter im Mittelmeer:
    Sie retten Ertrinkende vor dem Tod.
    Und doch werden sie angeklagt, verurteilt, kriminalisiert.
    Warum?
    Weil sie gegen bürokratische Vorgaben oder politische Interessen handeln.
    Weil sie nicht wegschauen – sondern handeln.
    Weil sie Leben retten, wo andere sich abschotten.

    So wird das Gute verdächtig.
    Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
    Die Wahrheit wird unbequem.

    Jesus sagt:
    „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt.“
    Aber er weiß auch:
    Das Leben ist nicht immer konform.
    Die Liebe geht manchmal Umwege.
    Die Wahrheit sprengt oft unsere Normen.

    So wird das Gute verdächtig.
    Die Barmherzigkeit wird zur Provokation.
    Die Wahrheit wird unbequem.

    Und genau das zeigt Jesus in unserer Bibelstelle:
    Er heilt – und wird dafür verurteilt.
    Er rettet – und wird dafür abgelehnt.
    Weil er nicht ins Schema passt.
    Weil seine Wahrheit nicht mit der gewohnten Ordnung übereinstimmt.

    Ich finde:
    Diese Stelle im Johannesevangelium ist keine historische Fußnote.
    Sie ist ein Spiegel.
    Ein Spiegel in unserer Zeit.
    Ein Spiegel für uns.
    Für unseren Umgang mit der Wahrheit.
    Für unsere Gottesbeziehung.

    2. Wahrheit erkennen – oder bestätigen wollen?

    „Ihr meint, in den Schriften habt ihr das ewige Leben – und sie sind es, die von mir zeugen“, sagt Jesus.
    Das klingt zunächst gar nicht falsch.
    Wer in der Bibel liest, sucht doch nach dem, was trägt.
    Sucht nach Orientierung, nach Leben.

    Aber Jesus macht deutlich:
    Suchen reicht nicht!
    Jesus stellt uns entscheidente Frage:
    Bin ich bereit, der Wahrheit zu begegnen? Auch wenn sie mich in Frage stellt?

    Und diese Wahrheit ist nicht ungefährlich.
    Sie legt offen, wo wir versagt haben.
    Wo wir uns selbst genug waren.
    Wo wir uns lieber bestätigen als verändern lassen wollen.

    Jesus macht deutlich:
    Die Wahrheit Gottes hat ein Ziel: Das ewige Leben, die lebendige Beziehung.
    Es geht nicht um Wissen – sondern um Wandlung.
    Es geht nicht um Argumente – sondern um Begegnung.
    Begegnung nicht nur mit Gott, sondern auch mit den Mitmenschen.
    „Was ihr dem geringsten meiner Brüder/Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“
    Auch das stammt von Jesus

    3. Ehre suchen – aber wo?

    Jesus sagt:
    „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die vom einzigen Gott kommt, nicht sucht?“

    Das ist entlarvend.
    Denn es trifft einen wunden Punkt – auch noch heute.
    Wir richten uns oft nach dem, was andere von uns denken.
    Wir suchen Anerkennung.
    Wir suchen Zustimmung.
    Wir suchen Klickzahlen.
    Selbst im Glauben kann es geschehen, dass wir nur das hören wollen, was uns bestätigt.
    Was in unserer Blase, unserer Umgebung, unserer Gemeinde als Wahr angesehen wird, wird schnell zur einzigen Wahrheit.
    Und alles andere?
    Wird aussortiert.

    Das macht es einfach.
    Wir blenden das Unpassende aus.
    Wir sortieren das für uns Passende als Wahr ein und verteufeln das Unpassende als fake news.
    Aber echte Wahrheit.
    Die göttliche Wahrheit.
    Die ist oft unbequem.
    Denn sie fragt: Wem willst du gefallen – Menschen oder Gott?

    Gottes Wahrheit ist keine Waffe.
    Sie ist keine Waffe in Debatten, sondern eine Kraft, die verwandelt.
    Sie will nicht verletzen, sondern heilen.
    Sie zeigt uns wer wir wirklich sind.
    Sie zeigt uns unsere Unvollkommenheit.
    Unsere Fehler.
    Unseren Unglauben.
    Unsere Zweifel.
    Aber sie zeigt uns auch:
    Du bist ein von Gott geliebtes Gotteskind

    Das ist die Kraft, die aus der Wahrheit Leben macht: Gottes Liebe.
    Eine Liebe die sagt: „Ich bin da. Bei dir. Ich bin unverrückbar in meiner Treue zu dir!“

    4. Gottes Wahrheit verändert – aber sie zwingt nicht

    Jesus sagt: „Ich nehme keine Ehre von Menschen. Ich bin gekommen im Namen meines Vaters, und ihr nehmt mich nicht an.“

    Gott zwingt sich niemanden auf.
    Seine Wahrheit will nicht niederdrücken.
    Seine Wahrheit will aufrichten.

    Sie ist nicht laut.
    Sie ist beharrlich.
    Sie klagt an – um zu befreien.

    Mose wird zum Ankläger, durch die Gebote Gottes.
    Wer kann alle Gebote immer halten.
    Wie schnell geraten wir in Schuld.
    Jesus klagt nicht an.
    Er hat unsere Schuld auf sich genommen.
    So wird die Schrift zum Spiegel.
    Nicht um zu verdammen, sondern um zu erinnern:
    Du bist mehr als dein Scheitern.
    Darum frage dich:
    **Woran hängt mein Herz?
    Wo suche ich Leben?
    Aber ich finde nur Leistung, Meinung, Bestätigung.

    5. Wahrhaftig leben – geistlich wachsen

    Wer in Wahrheit leben will, muss lernen, vor Gott zu bestehen – nicht vor den Menschen.
    Und das bedeutet oft:
    Kritik annehmen.
    Sich korrigieren lassen.
    Neu anfangen.
    Das ist ein aktiver Prozess.
    Es reicht nicht, dass wir einmal bei der Konfirmation oder der Taufe ja gesagt haben.
    Es geht darum, dieses Ja täglich zu leben.
    In Wahrheit.
    In Wahrhaftigkeit.
    Im Ringen mit uns selbst,
    mit Gott,
    mit unserer Berufung als Christinnen und Christen.

    6. Die Gemeinde: Ort der Wahrheit und der Gnade

    Eine Gemeinde, die sich an Jesus orientiert, ist keine Gemeinschaft der Perfekten.
    Sie ist Raum für Suchende, für Verletzte, für Lernende.
    Jesus ist nicht sauer.
    Jesus ist nicht enttäuscht, weil wir Fehler machen.
    Er ist traurig, wenn wir nicht zu ihm kommen.
    Wenn wir ihn ignorieren, weil wir glauben, es allein schaffen zu müssen.

    Wir brauchen eine Gemeinschaft, die Mut macht, uns dem Spiegel zu stellen.
    Wir brauchen eine Gemeinschaft, die zugleich bezeugt:
    „Du bist geliebt.
    Du bist wertvoller als alles Gold der Welt.“

    Dann wird die Wahrheit nicht hart sein, sondern heilend.

    7. Was bleibt?

    Was bleibt – nach dieser Begegnung mit Jesu Worten?

    Vielleicht keine schnelle Antwort.
    Vielleicht eher ein leises Innehalten.
    Ein Staunen.
    Oder auch ein Schmerz.

    Denn Jesu Wahrheit ist keine These.
    Sie ist eine Stimme.
    Eine Stimme, die ruft: „Komm. Ich sehe dich. Ich will dir Leben schenken.“

    Und diese Stimme fragt nicht zuerst:
    „Was hast du geglaubt?“
    Sondern: „Wem bist du begegnet?“

    Nicht: „Was hast du richtig gemacht?“
    Sondern: „Wo hast du dich lieben lassen?“

    Was bleibt?

    Ein Gott, der nicht fordert, sondern einlädt.
    Ein Gott, der nicht anklagt, sondern aufrichtet.
    Ein Gott, der nicht fern ist – sondern an deiner Seite.

    Er sagt nicht:
    „Du bist falsch.“
    Sondern:
    „Du bist mein. Ich will, dass du lebst.“

    Und vielleicht reicht das – für heute:
    Zu wissen,
    dass ich mit meiner Sehnsucht nicht allein bin.
    Dass Gottes Wahrheit nicht trennt, sondern verbindet.
    Dass ich nicht perfekt sein muss,
    um geliebt zu sein.

    Amen.

  • Thomas erinnert sich

    Thomas erinnert sich

    Eine Predigt zu Johannes 16,23b – 28.33 (Rogate) in der evangelischen Kirche Pfrondorf

    Der Predigttext ist aus dem Evangelium des Johannes. Kapitel 16
    Jesus spricht zu seinen Jüngern bevor er gefangen genommen wird.

    Johannes 16,23b-33

    Jahre später erzählt Thomas, einer der Jünger, seinen Enkeln von diesem Ereignis:

    Kommt her, Kinder. Kommt näher.
    Die Sonne geht gleich unter, aber es ist noch genug Licht.
    Wenn ihr still seid, erzähl ich euch eine Geschichte.
    Nicht irgendeine.
    Eine wahre.
    Eine von denen, die ich nie vergessen habe.

    Ihr nennt mich den Zweifler, ich weiß.
    Thomas, der Zweifler.
    Ich habe lange gebraucht, um zu glauben.
    Aber an jenem Abend… an jenem Abend habe ich etwas erlebt, das hat sich wie ein Brandmal in mein Herz gelegt.

    Es war die Nacht vor der Katastrophe.
    Wir waren mit Jesus zusammen.
    Der Tisch war gedeckt, Brot und Wein standen bereit.
    Aber es war anders als sonst.
    Eine Schwere lag über allem.
    Es war noch nichts Schlimmes geschehen.
    Aber wir spürten: Es kommt etwas.
    Etwas, das alles verändert.
    Etwas, das alles auf den Kopf stellt.

    Jesus sprach viel an diesem Abend.
    So viel, wie ich ihn selten habe sprechen hören.
    Von seinem Gehen sprach er, von der Trennung, vom Vater.
    Und immer wieder vom Gebet.

    Er sah uns an. Mit einem Blick, den ich nicht vergesse.
    Und dann sagte er:

    „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
    Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.“

    Ich weiß noch genau, wie ich innerlich stockte.
    In seinem Namen?
    Was meint er?
    Dass wir beten sollen wie er?
    Oder dass wir uns auf ihn berufen sollen?

    Was, wenn ich das nicht kann?
    Was, wenn ich nur stottern kann?
    Was, wenn ich nichts fühle?

    Aber er sprach weiter:

    „Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen.
    Bittet, so werdet ihr bekommen und eure Freude wird vollkommen sei.“

    Und da war er wieder, dieser Ton.
    Diese Zuversicht. Diese Wärme.
    Er klang nicht wie ein Lehrer, der seine Schüler auf den letzten Test vorbereitet.
    Er klang wie ein Freund, der seinen Freunden das letzte Stück Hoffnung schenken will, bevor es dunkel wird.

    Ich schaute zu ihm hin, wie er dastand. Ruhig, gefasst, voller Klarheit.
    Und ich dachte:
    Er weiß, was kommt. Und trotzdem spricht er vom Gebet. Von Freude. Vom Vater, der uns liebt.

    Das hat mich tief getroffen. Denn ich bin nicht der große Beter.
    Ich war Handwerker. Ein Mann der Taten.
    Glauben – ja. Aber Beten?
    Ich fühlte mich oft hilflos. Leer.
    Und wenn ich betete, dann war es eher tastend als gewiss.

    Aber Jesus sagte nicht: „Wenn ihr viel glaubt…“
    Er sagte: „Wenn ihr bittet.“
    Das ist etwas anderes.
    Bitten heißt: Ich traue dir zu, dass du hörst.
    Bitten heißt: Ich zeige dir, was mir fehlt. Auch wenn ich es kaum in Worte fassen kann.

    Und dann – ach, Kinder – dann sagte er einen Satz, den ich heute noch manchmal im Schlaf spreche:

    „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Nicht: „Der Vater erträgt euch.“
    Nicht: „Er duldet euch, wenn ihr brav seid.“
    Ein einfaches – er hat euch lieb.
    Das hat mich durch viele Nächte getragen.
    Als ich später floh. Als ich mich versteckte.
    Als wir dachten, alles sei aus.
    Selbst da – irgendwo im Dunkel – hörte ich seine Stimme:
    „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Später fragte ich mich:
    Warum hat er das gerade in jener Stunde gesagt?
    Warum gerade dann, als alles zu Ende zu gehen schien?

    Ich glaube, weil er wusste, wie schnell wir vergessen.
    Wie schnell wir in der Angst die Nähe Gottes nicht mehr spüren.
    Wie schnell wir meinen, alles allein tragen zu müssen.

    Er sagte:

    „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“

    Das klang damals für uns wie ein Rätsel.
    Heute sehe ich klarer: Es war sein Weg.
    Vom Vater in die Welt – und wieder zurück.
    Aber nicht leer. Nicht umsonst. Sondern mit allem, was er mitgenommen hat:
    Unsere Fragen. Unsere Schuld. Unsere Angst. Unser Staunen. Unsere Liebe.

    Und als er uns das sagte, als er davon sprach, dass er zum Vater zurückgeht – da kam für einen Moment Klarheit über uns.
    Wir dachten: Jetzt haben wir’s verstanden!
    Wir sagten:

    „Siehe, nun redest du frei heraus und nicht in Gleichnissen.“

    Aber er sah uns nur an. Still. Fast traurig.
    Und dann sagte er:

    „Jetzt glaubt ihr? Siehe, es kommt die Stunde – und ist schon da –, dass ihr euch zerstreuen werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst.“

    Wie recht er hatte.
    Wir haben ihn allein gelassen.
    Ich auch.
    Ich bin weggerannt.
    Ich habe nicht geglaubt, nicht gehofft, nicht gebetet.
    Ich habe gezweifelt, geweint, geschwiegen.
    Ich war verzweifelt, mit meinem Versagen allein,

    Und trotzdem hat er mich wieder angesehen.
    Trotzdem hat er mir wieder die Hand gereicht.
    Trotzdem hat er mich nicht aufgegeben.

    Deshalb, Kinder, hört gut zu:
    Wenn ihr glaubt, ihr hättet Gott enttäuscht – denkt an mich.
    Wenn ihr meint, euer Glaube reicht nicht – denkt an mich.
    Wenn euch beim Beten die Worte fehlen – denkt an ihn.
    Er sagte: „Der Vater selbst hat euch lieb.“

    Und dann – zum Schluss – kam jener Satz.
    Ich habe ihn mir ins Herz geschrieben:

    „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

    Nicht: Ihr müsst euch überwinden.
    Nicht: Glaubt stärker, dann wird’s leichter.
    Sondern: „Ich habe die Welt überwunden.“

    Das hat mich verändert.
    Denn ich dachte immer:
    Ich muss kämpfen.
    Ich muss stark glauben.
    Ich muss mich beweisen.
    Aber er sagt: Ich habe es schon getan – für dich.
    Damit wir mitten in der Angst getröstet sind.
    Damit wir in der Angst und mit der Angst weiter leben können.

    Ja, Angst bleibt.
    Ich habe sie erlebt – als sie ihn festnahmen.
    Als er starb.
    Als wir zurückblieben.
    Als wir wieder anfingen, zu erzählen.
    Als der Widerstand kam. Als Freunde starben.
    Angst ist Teil unseres Lebens.

    Aber sie ist nicht mehr Herrscherin.
    Denn er hat die Welt überwunden.
    Nicht mit Gewalt. Nicht mit Macht.
    Sondern mit Liebe. Mit Gebet. Mit Hingabe.

    Deshalb, Kinder:
    Wenn ihr betet – tut es nicht, um Gott zu überzeugen.
    Betet, weil ihr wisst: Ihr seid schon geliebt.
    Betet nicht, weil ihr stark seid.
    Betet, weil er stark war – und ist.
    Betet in seinem Namen. In seinem Geist. In seinem Frieden.

    Er hat gesagt: „Eure Freude soll vollkommen sein.“
    Da muss nicht alles perfekt sein.
    Da hat auch Schmerz und Leid seinen Platz.
    Aber wir können von der Gewissheit erfüllt sein:
    Ich bin nicht allein. Ich darf zweifeln, Ich darf rufen.
    Ich werde gehört.

    Und das, Kinder, ist mehr, als die Welt uns je geben kann.

    Ich habe es erlebt.
    Ich – Thomas.
    Der Fragende. Der Späte. Der Suchende. Der Ungläubige.

    Und ich sage euch: Es ist wahr.

    „Der Vater selbst hat euch lieb.“
    „Bittet – und eure Freude wird vollkommen sein.“
    „Ich habe die Welt überwunden.“

    Amen.

  • Schuldlos schuldig

    Schuldlos schuldig

    Predigt zu Johannes 18,28-19,5 am 07.04.2025 in Altdorf und Neckartenzlingen

    Einer läuft nicht weg. Lief nie weg. War für alle da.

    „Weg mit ihm! Weg mit denen, die stören! Er stört unsere Ordnung, unser Weltbild.“
    Sie bringen ihn zu Pilatus, dem römischen Präfekten von Judäa, Repräsentant des Kaisers in Rom. Er darf und soll zum Tod verurteilen diesen schändlichen Aufrührer, der sich anmaßt, Gottes Sohn zu sein. Als Juden dürfen sie das nicht. Auch das Prätorium betreten sie nicht, sie würden unrein werden und könnten nicht das Passamahl zu sich nehmen.
    Pilatus fühlt sich belästigt. Sollen sie doch selbst entscheiden, was sie mit diesem Menschen Jesus machen wollen.
    Im Verlauf des Verhörs wird er aufmerksamer. Pilatus, dieser mächtige Mann ist hin- und her- gerissen zwischen dem Menschen Jesus, der ihn beeindruckt und dem Angeklagten, den er zum Tod verurteilen soll. Er findet keine Schuld an ihm, aber er muss die aufgeheizte Menschenmenge zufriedenstellen.
    Sie setzen ihn unter Druck. „Der da sagt von sich, er sei ein König“, das ist eine schwere Anschuldigung vor dem römischen Präfekten, der einen König in Konkurrenz zum römischen Kaiser nicht zulassen darf. Darauf könnte die Todesstrafe verhängt werden. Und dennoch, Pilatus ist durch die ruhige Argumentation Jesu verunsichert. Vom Fragenden wird er selbst zum Befragten. „Bist du der Juden König?“ Jesus fragt zurück: „Sagst du das von dir aus?“ Jesus erwartet viel Verstehen von dem Römer Pilatus.
    Pilatus zweifelt. Er findet keine Schuld an Jesus. Aber er steht unter Druck. Das ist lästig! Was soll er nur machen mit solchen Aussagen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ „Ja, ich bin ein König.“ „In die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge.“
    „Was ist Wahrheit?“ Das fragt Pilatus. Die Wahrheit, die Pilatus kennt, ist die Wahrheit der Herrschenden, weil immer die die Wahrheit und das Recht für sich reklamieren, die im Besitz der Macht, des Gelds und der Waffen sind. Die Wahrheit, von der Jesus spricht, ist die Wahrheit der Barmherzigkeit und der Liebe. Es ist die Wahrheit, die sich für die Schwachen einsetzt. Eine andere Wahrheit gibt es nicht. Wer den Weg Jesu mitgeht, erkennt diese Wahrheit, weil er, Jesus, „dazu geboren und in die Welt gekommen“ ist. Das ist eindeutig. Es lässt kein Wenn und Aber zu.
    Pilatus ist verunsichert und beeindruckt. Er findet keine Schuld an Jesus, aber er muss ihn irgendwie loswerden und den Erwartungen, die sie an ihn und sein Amt stellen, gerecht werden. Und andererseits versucht er, sich aus der Verantwortung herauszuwinden und gibt ihn an das Volk heraus.

    Wo bin ich – wo wäre ich gewesen?

    Ich versuche, mich unter das Volk zu mischen, um Jesus näher zu sein und auch diesem mächtigen Pilatus. Rechts und links schubsen sie, brüllen ihren Hass auf Jesus heraus, recken ihre Fäuste ihm entgegen, die Gesichter verzerrt vor Wut und Hass. Wie lang soll das noch gehen mit diesem Jesus, diesem selbsternannten König? Wann wird dieser Ketzer endlich verurteilt? Gottes Sohn will er sein! Lächerlich!
    Das ist Gotteslästerung. Ich bin verunsichert und verwirrt. Sollten sie alle unrecht haben? Ihr Hass stößt mich ab. Ich sehe einige unter der Menge, die mir vertraut sind.
    Ich habe aber doch auch gesehen, wie Jesus freundlich mit den Menschen geredet hat, auch mit denen, die sonst keiner wahrnimmt. Kranke hat er geheilt. Es hat mich aber auch irritiert, dass er sich gegen die Tradition gestellt hat. Und ein König will er sein? Was ist das für ein König, ohne Macht? Gleichzeitig hat mich sein Auftreten beeindruckt. Ich fand es mutig. Könnte ich nicht auch so sein? Muss ich mit der Menge schreien?

    Ich wundere mich, wie anders Reaktionen aussehen können, wenn ich mich selber in die Situation hineinstelle.
    Oft schon habe ich mir die Frage gestellt, wie ich in der Zeit des Nationalsozialismus gedacht und gehandelt hätte: Wäre ich mutig gewesen, oder hätte ich mich versteckt hinter der Meinung der Vielen? Habe ich Glück gehabt, dass mich niemand gefragt hat? Wo wäre ich gewesen?

    Für wen stehst du da?

    Wie zeigt sich Jesus? Menschlich, nahbar und zugleich auch unnahbar in seiner Klarheit und Ruhe inmitten einer feindseligen Umgebung.
    Und doch frage ich: „Warum verteidigst du dich nicht? Du hast doch den größten Verteidiger im Hintergrund!“ Ach ja, wir wissen, er rettet dich nicht vor den Verurteilungen und vor dem schlimmsten Tod.
    Du sagst, wer du bist, aber du verteidigst dich nicht! Ich würde das an deiner Stelle leidenschaftlich tun. Du hast sie doch auch verteidigt, die Ehebrecherin, ja sogar sie, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht hatte.
    Wie geht es mir, wenn ich mich Angriffen ausgesetzt fühle, die ich für ungerecht halte? Ich bin gekränkt, verletzt, innerlich erregt und angespannt. Mein Blutdruck schießt nach oben. Jesus steht ruhig da. Anders in Gethsemane, als er den Vater anfleht, ihn zu verschonen. Da ist er mir eigentlich näher, eben ganz menschlich. So schwach wie ich auch. Wir dürfen schreien und Gott unseren Zorn und unseren Kummer vor die Füße werfen und sagen, dass wir so vieles ungerecht finden und einfach nicht verstehen.
    Für wen, Jesus, stehst du da und lässt dich beschuldigen? Für uns? Für alle? Was ist mit den Hitlers, den Stalins, den Pol Pots, den Putins, den Messerstechern in Fußgängerzonen und auf Stadtfesten?

    Wie in einem Spiegel

    Wir haben als Menschen die Möglichkeit, uns herauszureden, im schlimmsten Fall die Unwahrheit zu sagen, Schuld zu beschönigen, einen anderen als schuldig zu benennen. Der da, ich nicht! So ist Christus nicht. Alles, was er sagt und tut, ist Wahrheit. Es ist die Wahrheit des Sohnes Gottes. Da spüre ich etwas von dieser tiefen Verbundenheit, diesem Einssein mit Gott. In Wahrheit hält Jesus mir einen Spiegel vor. Ich erkenne, wie oft ich mich auch aus der Wahrheit herausschleiche, beschönige, geliebt werden möchte, mit dem Strom schwimme. Es gibt genug Fragen, in denen ich bekennen muss, auf wessen Seite ich stehe.
    Es ist meine freie Entscheidung, wahrhaftig zu sein oder nicht. Wir sehen wie in einem Spiegel auch das ganze Elend dieser Welt, die ungerechten Verhältnisse, den Machtmissbrauch, den Hass und die Zerstörung. Es ist meine freie Entscheidung, hinzusehen und mich nicht abzuwenden „Zum Glück, ich nicht!“

    Und noch einmal: Hätte es uns besser gefallen, wenn Pilatus die Unschuld Jesu erkannt und danach gehandelt hätte? Die Macht dazu hätte er ja gehabt. Im Matthäusevangelium heißt es: „Als Pilatus sah, dass er so nichts erreichte und dass der Tumult nur immer größer wurde, ließ er eine Schüssel mit Wasser bringen. Für alle sichtbar wusch er sich die Hände und sagte: „Ich bin am Blut dieses Menschen nicht schuldig. Die Verantwortung dafür tragt ihr!“ (Matthäus 27,24)

    Keine Strafe

    Wie soll das gehen, sich reinwaschen und sich doch schuldig machen! Was für ein Widerspruch! Pilatus verbiegt die Gerechtigkeit. Er urteilt so, wie sie es von ihm erwarten. Die Zweifel wischt er weg.
    Die Frage bleibt: Hätte Jesus gerettet werden können, weil ein Mensch doch Zivilcourage besessen und ein mutiges Urteil gefällt hätte? Aber so heißt es schon zu Beginn: „So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.“ (Vers 32) Oder „musste er nicht solches erleiden?“ (Lukas 24,25–26) Auch in der Lesung bei Markus spricht Jesus von seinem zukünftigen Sterben: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?“.
    Verkleinert das die menschliche Schuld? Hätte sich die Zwangsläufigkeit verändert, wenn die Menschen sich barmherzig gezeigt hätten und auf die Straße gegangen wären, um für ihn zu demonstrieren und sich mitfühlend gezeigt hätten? Eine sehr menschliche Reaktion. Menschen stellen sich immer wieder diese Fragen. Warum diese Konsequenz um Gotteswillen? Wie viele Menschen haben sich gerieben an der Vorstellung, dass Christus um unseretwillen gestraft wurde. Ich erinnere mich noch sehr genau an die empörte Aussage einer Freundin: „So einen Gott will ich nicht, der um meinetwillen sterben musste!“ Nein, so einen Gott will ich auch nicht.
    Ist das wirklich so ein Gott, der straft? Ist es nicht eher so, dass in der Verurteilung deutlich wird, dass sich Gott selbst hingibt in seinem Sohn, damit wir, und zwar alle Menschen, frei werden von Schuld? Gott zeigt seine ganze Liebe zu den Menschen darin, dass der Sohn alle Wege, die wir auch gehen, mitgeht. Ist es eher so, dass an den Menschen, die ihn verdammen, quälen, verleumden, gerade sichtbar wird, wie sehr sie und wir alle diese Liebestat Gottes, die in Jesu Kreuzestod sichtbar wird, unbedingt brauchen? In diesem „für uns“ wird das deutlich. Was sollte dann Strafe sein? „Musste er nicht solches erleiden?“ Damit darf auch ich Jesu Verurteilung und Tod für mich als Befreiung verstehen. Gottes Liebestat gilt uns allen.
    Mein letzter Blick richtet sich zum Altar, auf dem eine Dornenkrone in dieser Passionszeit liegt. Sie ist stachlig und tut weh. Königswürde in Demut und Schmerzen. Sein „Reich ist nicht von dieser Welt“.

    Lied nach der Predigt: Bei dir, Jesu, will ich bleiben   EG 406, 1–4

  • Was die Seele satt macht

    Was die Seele satt macht

    Predigt zu Johannes 6,47–51 am Sonntag 30.März 2025 – Sonntag Lätare

    1. Kalorien gegen Kummer – wenn Trost schwer zu finden ist

    Essen ist tröstlich. Schon in der Kindheit hilft nichts so schnell über eine Schramme hinweg wie ein Eis.
    Später lindert Seelen-Futter Liebeskummer, Stress im oder Ärger in der Familie.
    Kalorien gegen Kummer.

    Auch Claudia, ich nenne sie einfach mal so, ist davon betroffen.
    Den ganzen Tag über hat sich bei ihr Unzufriedenheit aufgestaut.
    Der Wecker klingelt viel zu früh.
    Stress pur im Job: Der Chef mäkelte an ihren Bilanzen herum. Kunden waren ungeduldig.
    Der Heimweg war auch nicht besser: Stau auf der Strasse, Gehupe von Ungeduldigen.
    Endlich Zuhause: Sofa, Fernbedienung, Schokolade.
    Heute muss es eine XXL-Packung sein.
    Aus manchmal wird eine Gewohnheit.

    Doch die Süßigkeiten helfen nur kurz.
    Danach ist die Leere wieder da – und zusätzlich das schlechte Gewissen.
    Der Arzt hat auch schon vor Diabetes gewarnt.
    Aber Claudia fehlt die Kraft etwas zu ändern.

    Claudia – das ist nur ein Name.
    Es könnte auch Marie sein. Oder Sven. Oder Thomas.
    Denn dieses Frust essen kennen viele von uns.

    In der Kindheit haben wir gelernt: Essen tröstet.
    Darum greifen wir Erwachsene auch zum Keks, zum Eis, zur Pizza, wenn das Herz leer ist.
    Die Ernährungswissenschaftlerin Martina Tischler bringt es auf den Punkt:
    „Essen wird so zu einem Vertrauten, einem Freund.
    Es unterhält uns, wenn uns langweilig ist.
    Es bringt uns Freude, wenn wir traurig sind.
    Es nimmt uns den Stress – aber immer nur für kurze Zeit.“

    2. Der Hunger der Seele

    Doch was ist das für ein Hunger, der bleibt, auch wenn der Magen längst voll ist?

    Es ist der Hunger der Seele.
    Die Sehnsucht nach Anerkennung.
    Nach Liebe. Nach Trost.
    Nach Geborgenheit.

    Wir versuchen diesen Hunger zu stillen –
    mit Arbeit, Besitz, Zerstreuung und Essen.
    Aber satt werden wir nicht davon.

    Und genau an dieser Stelle setzt das Evangelium des heutigen Sonntags an.
    Jesus sagt:

    „Ich bin das Brot des Lebens. […] Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“ (Joh 6,48–51)

    3. Jesus – das Brot des Lebens

    Jesus spricht zu Menschen, die selbst voller Sehnsucht waren.
    Damals wie heute.
    Sie kamen in Massen zu ihm.
    Sicherlich auch aus Neugierde.
    Aber auch weil sie spürten, da gibt es mehr als Worte.
    Bei ihm gibt es Leben.
    Er heilte,
    er half,
    er hörte zu.
    Und er sprach mit einer Autorität, die nicht überforderte, sondern ermutigte.

    Seine Worte sind Balsam für erschöpfte Seelen.
    Seine Nähe ist Nahrung für das Herz
    Seine Botschaft ist die Hoffnung für alle, die sich leer fühlen.

    „Ich bin das Brot des Lebens“ das ist mehr als ein schöner Vergleich.
    Das ist eine Verheißung.

    4. Keine Sättigung durch Konsum

    Unsere Zeit bietet unzählige Glücksversprechen.
    Werbung, Lifestyle,Social Media
    – überall heißt es:
    „Kauf mich, dann wirst du glücklich“
    Oder
    „Verdiene mehr, dann bist du wer!“
    Oder
    „Iss das, dann fühlst du dich besser.“
    Doch das dickste Konto macht die Seele nicht satt.

    In diesem Zusammenhang aber eher zum Schmunzeln:
    Der Künstler Georg Joachim Schmitt hat den Nährwert von Geld einmal im Labor testen lassen.
    Ergebnis: Fast nichts.
    100 g D-Mark – so sagte er damals – seien eine Null-Diät.
    Ich denke beim Euro ist es auch nicht besser.

    Das ist natürlich absurd – aber im Kern wahr:
    Geld, Besitz, Status – sättigt nicht.
    Es gleicht Meerwasser:
    Je mehr davon getrunken wird, desto größer wird der Durst.

    5. Nahrung, die bleibt -und trägt

    Jesus bietet etwas anderes an.
    Keine Vertröstung.
    Kein Zucker-Schub für den Moment.
    Sondern Brot, das trägt.
    Er gibt sich selbst: „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt“.

    Im Abendmahl wird das konkret.
    Wir empfangen ihn – in Brot und Wein.
    Und in dieser Hingabe liegt die Kraft, die meine Seele satt macht.
    Ich bin angekommen.
    Geliebt.
    Nicht wegen meiner Leistung, sondern aus Gnade.

    Das befreit.
    Das nimmt den Druck.
    Das schenkt Frieden – tief innen.

    6. Gesättigt – um zu geben

    Wer so gesättigt ist, wird selbst zur Quelle für andere.

    So wie Kelvin, ein neunjähriger Junge aus Louisiana.
    Er sieht einen verwahrlost wirkenden Mann vor einem Café.
    Er Hat Mitleid und schenkt ihm einen Dollar.

    Was er nicht weiß:
    Der Mann ist ein reicher Unternehmer, der nur zufällig wie ein Obdachloser aussieht.
    Matt, der Inhaber eines Sportgeschäfts, floh an diesem Morgen aufgrund eines Feueralarms aus seinem Wohnkomplex und trug daher ungepflegte Kleidung.
    Matt ist von der Geste so gerührt, dass er Kelvin belohnen wollte.
    Kelvin durfte in seinem Sportgeschäft innerhalb einer Minute alles auswählen, was er haben wollte.
    Am Ende sagt der Geschäftsmann: „Kelvin hat mir den Glauben an die Menschheit zurückgegeben.“
    Und Kelvin?
    Der sagt: „Ich habe mich doppelt gefreut – dass ich helfen konnte und über das Geschenk.“ Quelle

    7. Die Seele wird satt – durch Liebe

    Aber was bedeutet das für Claudia?
    Wie kann sie diese Erkenntnis in ihr Leben integrieren?

    Sie könnte beginnen, ihren Frust vor Gott zu bringen, anstatt ihn in Schokolade zu ertränken.
    Vielleicht mit einem einfachen Satz wie:
    „Herr, du siehst meine Erschöpfung.

    Fülle du mich mit neuer Kraft.“
    Denn Jesus ist kein Ernährungsberater, er wird ihr keine bessere Ernährung empfehlen – er möchte ihre Seele sättigen.

    Aber wie macht er dass?
    Jesus sättigt die Seele durch seine Nähe.
    Er ist nicht fern, nicht unerreichbar.
    Er ist da!
    Er ist da, in jedem Moment, in jedem Atemzug.
    Er sieht Claudia, wenn sie müde, ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kommt.
    Er hört ihre unausgesprochenen Sorgen.
    Er kennt ihren Hunger nach Anerkennung.
    Und er sagt: „Ich lasse dich nicht allein. Ich trage dich.“

    Jesus sättigt die Seele durch seine Liebe.
    Da gibt es kein: „Mach mehr! Sei besser! Streng dich an“
    Sondern es gibt Liebe, die einfach da ist.
    Liebe, die sagt: „Du bist genug. Du bist wertvoll. Ich bin für dich da“

    Vielleicht entdeckt dann Claudia, dass ihre Seele durch Geben selbst erfüllt wird.
    Dass Helfen und Teilen selbst Freude schenken.
    Sie könnte sich engagieren,
    anderen eine Freude machen,
    ein kleines Licht für jemanden sein.
    So wie der Junge aus Louisiana,
    der mit einem Dollar das Herz eines reichen Mannes bewegte.
    Denn Freude und Liebe sind das eigentliche Brot, das satt macht.

    Und schließlich darf sie lernen, Gnade zuzulassen.
    Auch sich selbst gegenüber.
    Sie muss nicht perfekt sein,
    nicht immer stark,
    nicht immer diszipliniert.

    Jesus sagt nicht: „Streng dich mehr an!“
    Jesus sagt: „Komm zu mir! Ich bin das Brot des Lebens.“

    Wenn Claudia nach und nach lernt, auf Gottes Fürsorge zu vertrauen, dann wird sie erleben:
    Ihr Hunger nach Trost wird nicht mit Zucker gestillt,
    sondern mit echter Liebe.
    Ihr Verlangen nach Anerkennung muss nicht mit Kalorien erkauft werden.
    Sondern sie darf sich sicher sein:
    Ich bin, wie ich bin.
    Ich bin von Gott gewollt, geliebt und angenommen.

    Und das macht wirklich satt!
    Amen


    Gehalten in Dörnach am 30.03.2025