Kategorie: Jesaja

  • Fürchte dich nicht!

    Predigt zu Jesaja 43, 1-7 in der Unterensinger Michaelskirche

    „Fürchte dich nicht!“ Dieser Zuspruch Gottes aus dem heutigen Predigttext zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Bibel, vom Ersten Buch Mose bis zur Offenbarung des Johannes.

    „Fürchte dich nicht!“
    So redete Gott mit den Vätern des Volkes Israel,
    Abraham, Isaak und Jakob.

    „Fürchte dich nicht!“
    sprach er zu Mose und Josua.

    „Fürchte dich nicht!“, hört im Neuen Testament Maria von dem Engel, der ihr ankündigt, dass sie Gottes Sohn zur Welt bringen wird.

    Was hören die Hirten in der Weihnachtsgeschichte ebenso wie die Frauen am leeren Grab Jesu?
    „Fürchtet euch nicht!“

    Jesus spricht so den Fischer Petrus an:
    „Fürchte dich nicht!
    Von nun an wirst du Menschen fangen.“

    Den Apostel und Missionar Paulus ermutigt in Griechenland eine nächtliche Vision „Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht!“

    Und am Ende der Bibel schließlich, in der Vorausschau des Sehers Johannes auf das Ende der Welt, erklingen die Worte noch einmal:
    „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte.“

    Gott steht am Anfang und am Ende.
    An die Anfänge erinnert Jesaja, der Verfasser des Predigttextes.
    Er und seine Zuhörer sind schon in der zweiten Generation im Exil.
    Sie sind nach verlorenem Krieg Gefangene der Babylonier.
    Doch nun kündigt er die Heimkehr an.

    Er ist sich sicher:
    Wie schon die Vorväter aus Ägypten durch Gottes Hand befreit wurden, so wird Gott auch nun die Gefangenen und Verstreuten zurückführen.
    Weil Gott die Treue hält, die er seinem erwählten Volk geschworen hat.

    „Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“

    Es ist Absicht, dass Jesaja die Israeliten hier mit dem Namen „Jakob“ anspricht.
    Denn Jakob ist der Vater der 12 Stämme Israels.

    Und es fällt auf, dass die befreiende Tat Gottes in Jesajas Augen bereits geschehen ist: „Ich habe dich erlöst“, nicht: „Ich werde dich erlösen“.
    So sicher ist er.
    Gott vergisst Israel nicht.
    Also fürchte dich nicht.

    Und wir heute?
    Von Gefangenschaft kann bei uns doch keine Rede sein.
    So grenzenlos frei sind wir, dass wir Mühe haben, den Überblick zu behalten.
    Frei zu wohnen, wo wir wollen,
    freie Auswahl an Nahrung, Unterhaltung und Gesellschaft.

    Oder doch nicht?

    Der Krieg in der Ukraine.
    Die gestiegenen Lebensmittelpreise.
    Die angespannte Wohnraumsituation.
    Leistungsdruck im Betrieb.
    Was sagen die Nachbarn, Freunde, Bekannte?
    Das schränkt gleichzeitig unsere Freiheit ein.
    Ob nun real oder nur im Kopf.
    Das kann Angst machen.

    „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“
    Es tut gut, wenn uns jemand beim Namen ruft, wenn wir die Orientierung verloren haben.
    Ein überfüllter Bahnhof oder Flughafen, oder eine Feier mit zahllosen Gästen. Lauter unbekannte Gesichter – dann tut es gut, einen Bekannten zu entdecken, der mich mit meinem Namen anspricht.
    Der mir das Gefühl nimmt, allein unter Fremden zu sein.

    Heute ist der Sonntag des Taufgedächtnisses.
    Er soll an die Taufe erinnern, auch an die eigene.
    Nicht in dem Sinne, dass ich an die Einzelheiten zurückdenke, wie es bei meiner Taufe zugegangen ist.
    Das ist mir nicht möglich, und ich bin sicher nicht der einzige, der nur noch ein paar alte Fotos und vielleicht noch bruchstückhafte Erinnerungen an das hat, was andere mir erzählten.

    Nein, der Sonntag heute will mich erinnern, dass ich getauft bin, und er stellt zugleich die Frage:
    Was bedeutet es denn eigentlich, dass ich getauft bin?

    „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“
    Die Stimme, die hier spricht, ist mir vertraut.
    Gott hat sich in der Taufe an meine Seite gestellt.
    Bei der Taufe wurde nicht nur mein Name genannt, sondern ich wurde auch im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft.
    Mein Name wurde mit Christi Namen verbunden.
    Und damit hineingenommen in sein Leben.

    Die Taufe bedeutet nicht nur einen ganz besonderen Moment zu Beginn unseres Lebens.
    Es geht um unser ganzes Leben.
    Ein Mensch kann sich von der Kirche lossagen, kann sich von ihr trennen, ganz austreten.
    Wer nicht mehr Mitglied ist, verliert damit bestimmte kirchliche Rechte,
    kann z.B. nicht mehr Pate werden.
    Aber die Taufe verliert er nicht.

    Denken Sie nur an das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn, das besser das Gleichnis vom wiedergewonnenen Sohn heißen müsste.
    Dieses Gleichnis ist auch hier am Taufstein abgebildet.
    Der Sohn verspielt und verliert, als er sich vom Vater trennt, den ausbezahlten Erbteil – doch er ist immer noch Sohn.

    „Fürchte dich nicht!“ heißt auch:
    Kraft meiner Taufe muss ich keine Angst um mein Leben haben.
    Ich muss mich nicht vor Menschen fürchten, auch nicht vor Anforderungen, die mich manches Mal schier zu erdrücken scheinen.

    Ich muss nicht fürchten, zu kurz zu kommen, etwas zu verpassen in dem Supermarkt der grenzenlosen Freiheit.
    Gott nimmt mir die Angst um mein Leben.
    Ich muss mich nur darauf besinnen, in wessen Namen ich getauft bin.

    „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“
    Jeder Mensch trägt seinen eigenen, unverwechselbaren Namen.
    Darüber denken wir nicht groß nach, es geschieht sozusagen automatisch.
    Und wenn es doch einmal mehr als einen Willi Müller im Dorf gibt, dann hat er in der Regel noch einen Zusatz- oder Spitznamen, der für Eindeutigkeit sorgt.
    Das ist gut so.
    Wir können nicht verwechselt werden.
    Auch nicht einfach ausgewechselt wie eine Nummer.

    Und wenn Gott mich „bei meinem Namen“ ruft, dann ist das ebenso eindeutig.
    Er ruft nicht „den Dritten von links“ oder „den Langen mit dem Bart“,
    sondern er meint mich, weil er mich kennt.

    Mein Name ist ihm vertraut, mein Name ist mit seinem verbunden.
    Bei der Taufe werden Vor- und Nachname genannt.
    Der Familienname sagt, aus welchem Haus wir stammen, wohin wir gehören, wer unsere Nächsten sind.
    Ich brauche niemand zu erklären, wie wichtig die Menschen sind, die das Leben eines Kindes am Anfang prägen.
    Wir wissen doch auch selbst, wie entscheidend unsere Eltern, Großeltern und Geschwister unser Leben beeinflusst haben.

    „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“
    In der Vorstellungswelt des Alten Testaments hat die Kenntnis des Namens oft noch eine magische Dimension.
    Da ist der Einfluss aus Religionen der Nachbarvölker spürbar.
    Namen lassen sich beschwören, verfluchen, zum Zaubern verwenden.
    Dann klingt es unheimlich und bedrohlich:
    Du bist mein!

    Doch der Gott, der diesen Satz spricht, ist ein anderer.
    Er ist in seiner Liebe so weit gegangen, uns Jesus Christus zu schicken.
    Vergessen wir das bitte nicht.
    Nach dem Leben und Sterben Jesu Christi kann ich
    „Du bist mein“
    nur als uneingeschränkte Liebeserklärung Gottes an mich verstehen.

    Zwar kann ich das manchmal kaum glauben, wenn ich in den Spiegel schaue, oder wenn ich abends denke, was ich den Tag über
    anders oder besser getan hätte, aber es ist so:
    Gott sagt „Du gehörst immer noch zu mir.“

    Gott steht am Anfang meines Lebens und am Ende.
    Und selbstverständlich auch dazwischen. Alle Tage“, wie es der auferstandene Jesus seinen Jüngern versprochen hat.
    Wir haben es in der Schriftlesung (Mt 28, 16-20) gehört.

    Und deshalb:
    Fürchte dich nicht!

    Amen.

  • Wir, die vergebenen Sünder

    Predigt zu Jesaja 6, 1-8 am 04.06.2023 in der Dettenhäuser Johanneskirche

    Anstatt den Predigttext für das Trinitatisfest 2023 vorzulesen, werde ich ihn nacherzählen: Jesaja 6, die Berufung des Propheten.

    „Weinberg des Herrn “ wird Israel, das Volk Gottes, genannt.
    Aber es steht schlecht um diesen Weinberg.
    Der Assyrische König liegt auf der Lauer. Er möchte ins Land einzufallen und alle Reben abzureißen. Israels König liegt im Sterben: Usija ist vom Aussatz befallen. Nach langer Regierung ebenso unrein wie sein Volk.

    Das Volk aber wiegt sich in Sicherheit: „Wir haben ja schließlich den Tempel. In dem wohnt doch Gott – oder?“

    Wie selbstverständlich wird Gott ins eigene Leben verrechnet: als großer Rückversicherer für jedes Risiko.
    Er bringt alles wieder ins Reine. Dadurch kann alles so weitergehen wie bisher.
    Auch die schmutzigen Geschäfte.
    Ein „liebes Gottchen“ für „fromme“ Leute, die im Grunde nur ihre Ruhe haben wollen.
    Den Tempel, in dem sie diesen kleinen Gott eingefangen zu haben glauben, rennen sie die Türen ein.
    Doch in Stadt und Land tobt das Unrecht.
    Und die Feinde rückt auf die Grenzen zu.

    Da wird im Jahr 735 vor Christus Jesaja, ganz allein im Tempel, in einer Vision zum Propheten berufen:
    „1 In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel.“
    Ein König steht an der Grenze, ein König stirbt – doch hoch darüber thront noch ein König, der Heilige Israels.
    Für den ist der Tempel viel zu klein.
    Das Gotteshaus kann lediglich den Saum seines Gewandes fassen.

    Ist er denn kein lieber, kein naher Gott, kein Gott zum Anfassen?

    Dieser Herr bleibt verborgen. Auch die feurigen Engelsgestalten rund um seinen Thron können seine Herrlichkeit nicht aushalten. Nur zwei ihrer sechs Flügel haben sie zum Fliegen, mit zweien bedecken sie ihr Gesicht, mit zweien verhüllen sie ihre Scham.
    Engelsgestalten?
    Die Serafim könnten, von Namen und Gestalt her, auch Schlangen sein oder Blitze.

    Der Heilige Israels auf einem Thron, feurige Wesen drumherum:
    Ist das ein Bild, mit dem Gott sich darstellt?
    Ein Bild, in dem die Hierarchie der Macht sich abbildet:
    Ganz oben der „Herr der Himmel“ auf dem höchsten Thron und dann die Mächtigen der Erde, Könige oder Kanzler, Präsidenten oder Vorsitzende, auf den etwas niedrigeren Chefsesseln?

    Jahrtausendelang wurde es in der christlichen Tradition so dargestellt.
    Doch dieses Bild ist falsch, grundfalsch.
    Gott gibt hier kein Bild von sich selbst.
    Jesaja malt dieses Bild.
    Als Mensch, der er nun einmal ist, kann er das, was er erlebt nur so beschreiben.
    Das was ihm widerfährt, was ihn verängstigt und verzückt, anzieht und abstößt, erschüttert und begeistert, was ihn unbedingt trifft und betrifft.

    Jesaja wird ergriffen vom Ungreifbaren schlechthin.
    Das ist mehr als Staunen über Sonnenlicht und Sternenhimmel, mehr als Freude über strahlende Kinderaugen.
    Es ist ein Wundern, das über alle Wunder geht.
    Etwas Unvergleichliches, in dem sich das Sein selbst zu erkennen gibt.
    Im Grunde kann sich niemand von diesem Bild ein Bild machen.
    Wer solch ein Bild in seiner Bibel hat, sollte es herausreißen.
    Angesichts dessen, was Jesaja da zuteil wird, ist jedes Heiligenbild, jede Heiligenverehrung bloß lächerlich.
    Da bleibt jede religiöse „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ ein dumpfes Gefühl.
    Da ist jede philosophische Idee – auch jede Metaphysische – ein blasser Gedanke.
    Unendliches gibt sich kund über alles Endliche hinaus und in alles Endliche hinein.
    Unvergleichlich!

    Jesaja nimmt Überwältigendes wahr:
    das Unfaßbare und Unverfügbare überhaupt,
    das ganz und gar Erhabene,
    die Heiligkeit Gottes.
    Die Engelsgestalten – ein Bild, ein Bild! – rufen es: „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“

    Ja, heilig ist er, dreimal heilig:

    „kadosch, kadosch, kadosch… „Schwere“ heißt das auch und „Glanz“
    Im Himmel, auf der Erde, jetzt und ewig.
    Ein Ort, der kein Sterblicher betreten kann.
    Eine andere Dimension – über Raum und Zeit hinaus.
    Das Licht selbst.
    Und doch kann man diese Dimension wahrnehmen auf der Erde, sie ist in der Tiefe von allem.
    Das Unnennbare hat einen Namen.
    Der wird, erhaben wie er ist, noch einmal umschrieben: der ‚Heilige Israels‘.
    Ihm allein gilt das dreimal „Heilig“ so einzigartig und mächtig, dass „4  die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.“

    Die Bibel erzählt gerne vom Rauch.
    Rauchschwaden offenbaren den Sterblichen, dass der Ewige erschienen ist, zugleich entziehen sie seine Erscheinung ihrem Blick.

    Was kann Jesaja nun noch sagen?
    Da sprach ich: „Weh mir , ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“
    Angesichts des Unvergleichlichen, spürt Jesaja seine Erdenschwere erst recht.
    Die Unreinheit seiner Lippen, sein Eingebunden sein, seine Gleichheit mit seinem Volk.
    Wer dem Heiligen begegnet, wird nicht ausgesondert, sondern hineingestellt in die Menschheit.
    Ja, an ihm vollzieht sich stellvertretend, was auch sie nötig hat:
    „6 Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, 7 und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.“

    Eine der Engelsgestalten nimmt eine glühende Kohle vom Altar, berührt damit Jesajas Mund und brennt alles Unreine, Unheilige weg.
    Zur Welt Gottes gehört eben auch das Feuer.
    Feuer vernichtet und läutert zugleich.
    Ein einziger göttlicher Funke hat den sterblichen Jesaja berührt – und er ist gereinigt, frei gemacht. Nun kann Gott durch ihn sprechen .
    Wo alle anderen Propheten Widerspruch anmelden, sie seien zu jung, zu unerfahren, zu wenig beredt – durchs göttliche Feuer befreit, ist Jesaja bereit, Gottes Bote zu sein: Und ich hörte die Stimme des Herrn , wie er sprach: „Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?“ Ich aber sprach: „Hier bin ich, sende mich!“

    Wie anders ist doch da die Berufung des Simon Petrus (Lukas 5,1-11).

    Das Schöne an dieser Erzählung ist, dass wir uns so gesehen keinen Millimeter bewegt haben.
    Wir sind wie Petrus noch immer die Kirche der Torheit, eine Versammlung von Verleugner und Zweifler.

    Und dennoch sind wir die, die Gott ruft und in seiner Gnade als seine Gemeinde segnet.
    Ein Geschenk aus Liebe, jetzt und immerdar.

    Jesus brauchte keine Gebäude oder Rituale. Er benötigt keine Kohlen. Bei Jesus reicht ein „Fürchte dich nicht!“
    Evangelisches Christentum feiert nicht die verborgene Wahrheit, sondern verkündet den offenbarten Christus.
    Das ist etwas ganz anderes.
    Wir feiern nicht das Unsichtbare, das Mystische und all das, was nicht wirklich ist.
    Wir feiern die Bedeutung des Ereignisses, von dem wir hören: Dass das Leben Christi, sein Tod und seine Auferstehung auch uns gelten. Das ist die Botschaft, in der wir das Leben feiern, das wir haben, weil das Göttliche sich eben hier in unserem eigenen Leben zeigt.

    Als ein Menschenkind, als ein ermunternder Blick von einem Fremden auf der Straße, als ein Gruß per whatsapp, als Wort und Musik, die uns erheben und dem Alltag Bedeutung verleihen. So dass wir jeder für sich den Ruf hören: „Komm, folge mir“!

    Wir können den Glauben nicht immer spüren, aber wenn wir in die Kirche zum Gottesdienst kommen, dann deshalb, weil wir den Ruf hören und ihn uns anrühren lassen sollen:

    Komm, folge mir. Ich tröste den Traurigen, ermuntere den Kranken und vergebe jedem, der glaubt.

    Komm, folge mir!

    Amen

  • Ein kleines Osterfest in der Passionszeit

    Predigt zu Jesaja 54,7–10 gehalten am Sonntag Lätare (19.03.2023) in der Unterensinger Michaelskirche

    I. Einen Moment die Ewigkeit spüren

    Stellen Sie sich das vor:
    Da steht eine Uroma auf ihrem Stock gestützt vor der Kirche.
    Ihre Augen strahlen.
    Gerade eben ist ihr Urenkel getauft worden. Und sie hatte sich so gefreut, wie der Täufling die Uroma angelächelt und mit seinen Händchen interessiert die Falten in ihrem Gesicht studiert hatte.
    »In einem Augenblick kann die ganze Ewigkeit liegen«, sagt sie.

    Ihren eigenen Taufspruch haben die Eltern ausgesucht. Das freut sie besonders:
    »Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
    aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,
    und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
    spricht der Herr, dein Erbarmer!«

    II. Im Schwung des Neuen: Jesaja 54,7–10

    Heute hören wir als Predigttext den Abschnitt aus dem Jesajabuch, in dem dieser Vers steht.

    Predigttextes: Jesaja 54,7–10

    III. EINEM geht’s durch und durch

    Das geht einem durch und durch.
    Wo wir dachten: Das gibt’s doch nicht!
    Und jetzt passiert es doch:

    Berge weichen. Hügel fallen hin. Polkappen schmelzen ab. Gletscher verschwinden.
    Menschen in Europa schießen wieder aufeinander.
    Kinder morden Kinder.
    Unsere Erde, unsere Welt ist aus dem Lot.

    Dazu kommt noch, was Menschen persönlich zu tragen haben:
    Die Nachricht: »Ja, es ist Krebs!«
    Eltern bringen ihr Leben nicht mehr miteinander hin.
    Schulden wachsen über den Kopf.
    Ein Freund stirbt ganz plötzlich am Herzinfarkt.

    Das geht einem durch und durch.

    Auch wenn wir es nicht glauben. Das geht auch Gott durch und durch.
    Gott selbst ist bis ins Mark erschüttert.
    So sagt’s Jesaja.

    Gleich dreimal malt er vor Augen:
    Gott ist im Innersten bewegt.
    Aus dem Innersten heraus »erbarmt sich« Gott, so übersetzt Luther.

    Eine andere Übersetzung spricht von »tiefer Liebe«:
    »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen,
    aber in tiefer Liebe will ich dich wieder sammeln.
    Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen,
    aber mit ewiger Gnade liebe ich dich, spricht der Herr, dein Erlöser …
    Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
    aber meine Gnade soll nicht von dir weichen
    und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
    spricht der Herr, voll tiefer Liebe.«

    Von ganz tief innen fließt da eine Kraft aus Gott heraus zu Menschen in Not.
    Als leidenschaftlicher Liebhaber meldet er sich zu Wort.
    Bis ins Mark erschüttert zeigt er sich.
    Er ist außer sich im Zorn. Einen kleinen Augenblick nur – doch die Flut ist gewaltig.
    Sie lässt sich mit den Wogen vergleichen, die zur Zeit Noahs über die Menschheit hereinbrachen.

    Alle Sicherheiten brechen weg.
    Es ist, als ob das Leben zu Bruchstücken zerfällt.
    Bindungen brechen weg – in Familien, Nachbarschaften, Gesellschaften – und in der Kirche.
    Ist auch sein Zorn Ausdruck seiner Liebe?

    IV. Leidenschaftlicher Sammler

    »In tiefer Liebe will ich dich wieder sammeln!«, sagt Gott.
    Offenbar spricht er nicht nur als leidenschaftlicher Liebhaber, sondern auch als hingebungsvoller Sammler.
    Er sammelt die Bruchstücke unseres Lebens auf.
    Behutsam nimmt er sie in die Hände und fügt sie zu einem Ganzen zusammen.
    Er sorgt dafür, dass das, was beklagt wird, nicht in tausend Stücke zersplittert und zerfällt.
    Unter seinen Händen wird es auch im Bruch zusammengehalten.
    Auch das, was zwischen Menschen in die Brüche geht oder gegangen ist, nimmt er in seine Hände. Verletzungen können heilen.
    Vorsichtige Schritte aufeinander zu können gewagt werden.
    Getrenntes kommt neu in Verbindung.

    Das hebräische Wort »sammeln« steckt auch in »Kibbuz«.
    Das ist jene Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, zu der sich in Israel seit Anfang des vorigen Jahrhunderts Menschen zusammengeschlossen haben.
    Aus aller Herren Länder kamen sie zusammen und nahmen ihr Leben miteinander in die Hand.
    Viele sind in den 30er-Jahren gekommen, geflüchtet vor der Naziherrschaft.
    Da galt es Seelen und Menschen zusammenzubringen und miteinander Neues aufzubauen.

    Die Worte Jesajas richten sich ursprünglich an eine Gemeinschaft.
    Vor Augen stehen Menschen, die in der Fremde sitzen – angesprochen in der Einzahl als »Zion«.
    Sie sind im Übergang.
    Sie wissen nicht, was alles wird.

    »Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
    aber meine Gnade soll nicht von dir weichen
    und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
    spricht der Herr, voll tiefer Liebe.«

    Was für eine Kraft liegt in diesem Wort!
    In ganz verschiedenen Lebenssituationen leuchtet es hinein.
    Es beschönigt das Leben nicht.
    Doch gleichzeitig ist da ein Anker, der hält.
    Ewig hält er.
    Demgegenüber erscheint es im Rückblick wie ein winziger Augenblick, in dem von Gott nichts zu sehen war.

    Doch kann nicht in einem Augenblick der ganze Schrecken liegen?

    V. Im Zorn verlassen?

    »Mein Gott, mein Gott, hast du mich verlassen?«
    So schreit’s aus Krankenhäusern, Schützengräben und Folterkammern.
    So ein Schrecken breitet sich aus an manchem Esstisch, an dem einer das Tischtuch zerschnitten hat: »Das war’s dann wohl mit uns!«
    Ein kleiner Moment nur, die Miene kurz verfinstert – doch in ihm steckt das ganze Grauen.
    Die Tür fällt ins Schloss.

    Muss ich mir Gott so vorstellen, wenn es heißt:
    »Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen!
    Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.«

    Gehört zum leidenschaftlichen Liebhaber Gott auch sein Zorn?

    Geht er so weit, dass er uns verlässt?

    Es gibt keine schwerere Stunde in der Welt als die Stunde, in der Gott uns verlässt.
    So sagen es Menschen jüdischen Glaubens.
    Sie erleben das als »Gottesfinsterns« und schreien ihren Schrecken hinaus:
    »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!«

    VI. Das Grauen ins Gebet nehmen

    Wer so schreit, dem scheint die Verbindung zu Gott verloren gegangen zu sein.
    Doch statt zu sagen: »Das war’s dann wohl!«, schreit er zu einem Gott, an den er gerade nicht mehr glauben kann.
    Er schreit Grauen und Schmerz heraus – hinein ins Universum.
    Ist da einer, der hört?

    Wer so schreit, ringt um Verbindung.
    Dabei befindet er sich in Gesellschaft mit den Beterinnen und Betern von Psalm 22.
    »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    Auch Jesus hat am Kreuz so geschrien, erzählen die Evangelien.
    Ein Hoffnungsschimmer bahnt sich von daher seinen Weg zu uns.
    Der Ostermorgen kündigt sich an.
    Und somit auch Gottes: »Mit ewiger Gnade liebe ich dich!«

    Freut euch, ruft uns dieser Sonntag zu.
    Wir sind zwar noch mitten in der Passionszeit.
    Doch Ostern schimmert schon durch diese Worte durch.
    Das Kapitel, in dem unser Predigttext steht, beginnt mit:
    »Juble! Mach den Raum deines Zeltes weit!«

    Auch wenn meine Seele nicht immer in diesen Jubel einstimmen kann.
    Trotzdem gilt:
    »Meine Gnade soll nicht von dir weichen!«

    Es sind gerade die angesprochen, die nichts mehr von Gott sehen können.
    Die Verzagten und Verbitterten.
    Gerade sie brauchen diese Aufmunterung.
    Und so hören sie: »Juble! Gottes Friedensbund gilt dir!«

    Jesaja lädt uns ein:
    Nimm das Böse ins Gebet.
    So bringst du das, was deine Lebensfreude zunichtemacht, mit Gott in Verbindung.
    In dem Schrei: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, verbindet sich mein Leiden mit Jesus.
    Ich stehe nicht mehr allein da.
    Einer ist mit mir im Bunde.
    Voll tiefer Liebe hat er gelebt und ist er gestorben.
    Einen kleinen Augenblick hat sich die Sonne verfinstert.
    Dann brach der Ostermorgen an.
    Gott hat Frieden geschlossen mit dieser Welt.
    Ewig ist seine Liebe.
    Im gemeinsamen Schreien und Schweigen und Hören ist der »Bund«, das Eingebundensein zu spüren.
    Auch wenn eben noch das Gefühl vorherrschte, verloren zu gehen.

    Eindrücklich steht mir vor Augen, was von der Todesstunde der Malers Rembrandt erzählt wird.
    Er wollte unbedingt die Erzählung aus der Bibel vorgelesen haben, in der Jakob mit dem Engel kämpft.
    »Nur das und nichts anderes!«, sagt er.
    Als die Stelle gefunden und vorgelesen wurde, wiederholte sie der Kranke.
    »Und Jakob blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach …, aber er gab nicht nach und kämpfte weiter – oh ja, kämpfte weiter – denn das ist der Wille des Herrn, dass wir mit ihm bis zum Anbruch der Morgenröte kämpfen!«

    VII. Ewigkeit im Moment

    In einem Augenblick kann die ganze Ewigkeit liegen.
    Und der ganze Schrecken.
    Doch es gibt keinen Augenblick, über dem nicht Gottes Friedensbund leuchtet, wie der Regenbogen aufleuchtet, während die Tropfen noch fallen.

    »Juble! Mache Herz und Haus weit!«, ruft Jesaja uns zu.
    »Schenke dem Friedensbund Gottes deine Energie und lebe dem entgegen, was du ersehnst!«

    Und wenn ich Gott so gar nicht sehen kann?
    Dann mach’s wie jene Ehefrau, deren Mann auf Reisen ist, ermutigt eine jüdische Stimme.
    Die Frau steht jeden Morgen vor dem Spiegel, schminkt sich und macht sich schön.
    Ihre Nachbarinnen wundern sich über diese unnötige Arbeit, wo der Ehemann doch weg ist.
    Sie aber meint: »Mein Mann ist ein Seemann. Wenn der Wind günstig ist, kann es sein, dass er sofort kommt und mir vor Augen steht.«

    Gott kann sofort wieder da sein.
    Im nächsten Moment.
    Im Rückblick wird es mir wie ein kleiner Augenblick vorkommen, in dem er nicht zu finden war.
    Dem gegenüber wiegt der Augenblick ewig, in dem die Liebe leuchtet.
    Amen.