Kategorie: Nehren

  • Die Auferweckung des Lazarus – Johannes 11, 1-45

    Die Auferweckung des Lazarus – Johannes 11, 1-45

    Predigt am 05.10.2025 in Nehren

    Vor ein paar Tagen habe ich per Whatsapp ein Bild zugeschickt bekommen. Darauf waren nur die drei Worte: „HEUTE SCHON GELEBT?“

    „HEUTE SCHON GELEBT?“
    Die Frage hat mich nachdenklich gemacht.
    Erfahre ich mich als lebendiger Mensch?
    Lustvoll, spontan, initiativ, mit Elan und Frische, in Bewegung, in Entwicklung, in Beziehung zu anderen?

    Oder läuft das Leben an mir vorbei?
    Habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen?
    Vergrab ich mich?
    Habe ich den Lebensmut verloren, sehe keinen Sinn mehr, fühle mich am Ende?
    Habe keine Erwartungen mehr?
    Alles ist mir egal.
    Nach mir die Sintflut.
    Alles stinkt mir.

    „HEUTE SCHON GELEBT?“
    Es gibt nicht nur am Ende des Lebens das Grab auf dem Friedhof.
    Nein, es gibt die Gräber im Leben.
    Wenn das Leben jetzt schon erstarrt, erdrückt, abgestorben ist.
    Wenn das Leben, mitten im Leben, begraben ist.
    In Gräber, in die man sich selber gelegt hat oder in die einen andere hineingedrängt haben.

    Es gibt Situationen, da töten Blicke.
    Wenn uns ein Wort tödlich verletzt, regelrecht umhaut.
    Es gibt das Mundtotmachen unter Menschen, das Totschweigen und die Totenstille.

    Es gibt Beziehungen, die sind so verfahren, so aussichtslos am Nullpunkt, dass der andere für einen „erledigt“ ist, „lebendig tot“.

    Kennen sie die Sprüche:
    Mit dem ist nichts los.
    Der kann sich einbalsamieren lassen.
    Den kannst du vergessen.
    Der ist für mich gestorben.

    Werden da nicht Menschen in Leinentücher eingewickelt und lebendig begraben?
    Bereitet sich da nicht der Geruch des Todes aus, wie bei Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt?

    „HEUTE SCHON GELEBT?“

    Es wird viel gestorben in unserer Welt.
    Natürlich muss jeder/jede von uns sterben.
    Ich denke an die vielen Verkehrstoten, Krebstoten.
    Die Toten in der Ukraine, in Israel, in Gaza, in Afganistan und sonstwo in dieser unseren kriegerischen Welt.

    Mitten im Leben sind wir auf vielerlei Weisen vom Tod umfangen und keine Todesanzeigen machen eine Notiz davon.
    Für mich hat das Tödliche viele Namen und Gesichter.
    Dazu gehört auch der Tod durch Beziehungslosigkeit, der Gefühlsstarre und der Angst.
    Auch dieser Tod schnürt uns die Kehle zu.
    Nimmt uns die Luft zum Atmen.
    Wir kommen uns eingesperrt vor, wie in ein Grab.
    Es ist eng, dunkel und muffig.

    Beim Propheten Ezechiel heißt es:
    „So spricht Gott der Herr, ich öffne eure Gräber und hole euch aus euren Gräbern heraus!“
    Gemeint waren nicht die Gräber auf den jüdischen Friedhöfen in Israel, sondern das Volk in der babylonischen Gefangenschaft.
    Es befand sich in einer hoffnungslosen Lage, eingeschlossen wie in ein Grab, mehr tot als lebendig.
    Doch der Prophet verheißt das beinahe Undenkbare:
    die Rückkehr der Verbannten, die Heimkehr in ihr Land.
    Gott wird sein Volk herausführen wie einst aus Ägypten, es aufrichten und ihm neues Leben schenken.

    Jesus ruft am Grab von Lazarus:
    „Wälzt den Stein weg!“ (Weg mit dem Stein!)
    „Bindet ihn los!“ (Weg mit den Leinentüchern!)
    „Lazarus komm heraus!“ (Heraus aus deiner Totenhöhle!)

    Die Grundbewegung heißt: Heraus aus den Gräbern!
    Aus den Gräbern der Angst, der Resignation, der Enge, der Isolation, der Traurigkeit und der Verzweiflung!

    Die Grundbewegung geht ins Weite, ins Licht, ins Vertrauen, hin zu neuen Ufern und Horizonten.

    Nicht der Tod und auch nicht die vielfältigen Tode vor dem Tod sind das Letzte.
    Wenn wir am Ende sind, ist Gott nicht am Ende.
    Wenn wir nicht mehr weiterwissen, fängt Gott erst an.
    Wennenn wir keine Rettung mehr sehen, ist für Gott noch alles möglich.
    Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages.
    Der Tiefpunkt wird zum Ausgangspunkt für neue Hoffnung.

    Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben.
    Gott ist und bleibt ein Liebhaber des Lebens.
    Er will, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben.

    „LAZARUS KOMM HERAUS“, ruft Jesus
    Setzen wir für Lazarus unseren eigenen Namen ein!
    „Alex“ komm heraus aus der Höhle deiner Selbstverschlossenheit,
    „Berta“ komm heraus aus dem Kreisen um dich selbst.
    „Chris“ komm heraus aus deiner Engherzigkeit.
    „Doris“ komm heraus aus deinem Misstrauen, aus deinen Minderwertigkeitskomplexen oder auch aus deinem Stolz!
    „Egon“ komm aus dem Grab deiner Angst, aus deiner Lieblosigkeit, aus deinen falschen Anhänglichkeiten und Abhängigkeiten, deinen Süchten und deiner Gier!

    Komm heraus!
    Das geht uns alle an.
    Steh auf aus deiner Sünde!
    Werde ein neuer Mensch!
    Lass dich herausholen aus deinen Gräbern.
    Komm heraus ins Leben!

    „WÄLZT DEN STEIN WEG“, ruft Jesus.

    Das dürfen wir auf uns selbst anwenden.
    Was hält mich vom Leben ab?
    Welche Steine liegen auf mir, die hindern, blockieren, mich erdrücken, Leben ersticken?
    Ängste, Hemmungen, die Unfähigkeit, mich selbst anzunehmen?

    „Wälz den Stein weg“
    der Enttäuschung, des Grolls, der Verbitterung.
    „Wälz den Stein weg“ der Sturheit und Hartherzigkeit.
    Bei Gott ist kein Mensch verloren.
    Er schreibt niemanden ab.
    Bei ihm ist die Tür immer offen.
    Auch du hast mehr Spielräume und Möglichkeiten als du denkst.

    Wälz den Stein des Hasses und der Rache weg!
    „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir Erbarmen hatte?“

    Wälz den Stein der Vorwürfe und Vorurteile weg!
    Sag nicht: da ist nichts mehr zu machen.
    Der oder die ist für mich gestorben!
    Ein hoffnungsloser Fall!

    „BINDET IHN LOS“, ruft Jesus.

    Hören wir auch diese Worte auf uns hin!

    Womit verstecke ich mein Gesicht?
    Was schnürt mich ein?
    Wo fühle ich mich gefesselt, innerlich, äußerlich?
    Habe ich mir selbst diese Fesseln angelegt oder andere?

    „Bindet ihn los!“
    Lass los, was dich an deine dunkle Vergangenheit bindet!
    Lass los, was das Leben in dir tötet!
    Leg ab, was deine Gegenwart erstickt, erdrückt!

    Sorge für das, was in dir angelegt ist.
    Pflege es behutsam!
    Lass es blühen, wachsen!
    Werde, was du sein kannst!

    Manchmal ist es sehr mühsam, den Stein wegzuwälzen.
    Es kann sehr schwer sein.
    Allein schaffen wir es nicht.

    Auch die Binden, die einschnüren und fesseln, zu lösen, ist nicht einfach.
    Wie unfrei sind wir oft und können uns nicht selbst befreien.

    „Wälzt den Stein weg! Löst die Binden!“ das sagt Jesus zu den Umstehenden.
    Lazarus ist auf die Hilfe anderer angewiesen.
    Andere müssen den Stein wegwälzen.
    Andere müssen seine Binden lösen.
    Andere müssen ihm helfen, frei zu werden und ins Leben zu kommen.

    Auch wir brauchen den anderen, wir brauchen einander.
    Wir brauchen die Brüder, die Schwestern.
    Wir brauchen geistliche Gemeinschaft, geistliche Begleitung.
    Wir sind aufgerufen, von Jesus gerufen, einander liebevoll von manchmal zentnerschweren Steinen zu befreien.
    Wir können uns gegenseitig liebevoll aus Gebundenheiten und Fesseln zu helfen.
    Damit wir als „Auferweckte“ in dieser Welt miteinander leben können.

    Liebe Schwestern und Brüder!

    Die Auferweckung des Lazarus ist mehr als eine Wundergeschichte. Es ist eine Glaubensgeschichte.
    In ihr geht es nicht darum, dass ein Toter ins Leben zurückfindet, der dann früher oder später doch wieder sterben muss.
    Es geht vielmehr darum, dass ich ins Leben komme.

    Denn „Glauben“ heißt im Johannesevangelium nichts anderes als vom Tod ins Leben kommen.
    Aus den Gräbern herauszukommen, wo vorgewälzte Steine und viele Binden lebensunfähig machen.
    Herauskommen aus dem Grab der Selbstsucht und Gottferne in die Nähe Gottes, in die Freude und Freiheit der Kinder Gottes.
    Das Ziel ist die Beziehung zu dem, der von Grund auf liebt und uns die Schuld vergibt.
    Eine Beziehung zu dem, der nicht nur Liebe hat, sondern Liebe ist.
    Ja, dessen Wesen Liebe ist.

    „Stark wie der Tod“ – stärker als alle Tode – „ist die Liebe!“

    Darum geht es beim Glauben.
    Wer an mich glaubt, sagt Jesus.
    Wer auf Gott vertraut.
    Wer auf ihn seine ganze Hoffnung setzt.
    Der muss nicht bis ans Ende der Tage auf seine Auferstehung warten.
    Der ist im Glauben bereits auferstanden.

    Für den Glaubenden ist der Tod eigentlich gar kein Tod mehr, kein Ende,
    Für den Glaubenden ist der Tod kein Schlusspunkt, eher ein Wendepunkt.
    Vor allem ist er ein alles verheißender Doppelpunkt.
    Denn das Leben, das wir in Christus jetzt schon haben und das er uns schenkt überdauert selbst den Tod.
    Es ist stärker als der Tod.
    Wer an Christus glaubt, hat – nicht wird haben, sondern hat.
    Wer an Christus glaubt, hat Anteil am göttlichen Leben.
    Das ewige Leben hat in ihm schon begonnen.

    Als Marta einwendet: „Ich weiß, dass er auferstehen wird, bei der Auferstehung am letzten Tag“, da sagt Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Jesus korrigiert die Antwort der Marta entscheidend. Und er fügt hinzu: „Glaubst du das?“

    Diese Frage ist ganz wichtig.
    Da wird nämlich die ganze Provokation, die in der Lazarusgeschichte steckt, deutlich.

    „Glaubst du das?“ fragt Jesus auch uns.
    Die Antwort darauf entscheidet, ob wir österliche Menschen sind oder nicht.

    Im Angesicht des Todes, im Umkreis von Grab und Verwesung, heute mitten in den vielen Namen und Gesichtern von Grab und Tod:
    glaubst du, dass Jesus das Leben ist.
    Dass er die Auferstehung aus der Sinnlosigkeit und den Zwängen des Todes in seinen vielfältigen Erscheinungsformen schon jetzt möglich ist und geschieht?

    Diese Frage: „Glaubst du das?“ ruft in Marta ein großartiges Messiasbekenntnis hervor, das sich durchaus mit dem des Petrus messen kann: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“

    Marta gehört zu den Sterblichen, von denen Jesus sagt: „Wer mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der hat (nicht er wird haben, sondern der hat) das ewige Leben. Er kommt nicht ins Gericht, sondern ist (nicht wird, sondern ist) aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.”

    Weil Christus die Auferstehung und das Leben ist, können und dürfen wir jetzt schon als österliche Menschen das Leben wagen und jetzt schon aus der Kraft der Auferstehung leben, die uns einmal – unwiderruflich – ganz erfüllen wird.

    So dürfen wir mit Marta bekennen: „Ja, Herr, ich glaube.“
    Und dieses Bekenntnis bleibt nicht nur ein Wort auf unseren Lippen, sondern wird uns im Glauben geschenkt und im Leben getragen. Christus selbst ist mitten unter uns – nicht fern, nicht entrückt, sondern gegenwärtig.

    Im Abendmahl erfahren wir dies auf besondere Weise:
    Wir empfangen das Brot des Lebens.
    Wir trinken aus dem Kelch des Heils.
    Hier wird die Verheißung Jesu greifbar: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
    Das dürfen wir fühlen und schmecken.

    Wenn wir essen und trinken, dann feiern wir nicht nur eine Erinnerung.
    Wir werden in die Kraft seines Lebens hineingenommends.
    Wir dürfen schon jetzt aus der Fülle seiner Auferstehung leben – und zugleich hoffen wir auf das Mahl in Gottes Reich, wo alle Tränen abgewischt sein werden.

    Darum sind alle zu seinem Tisch eingeladen:
    Menschen, die glauben und zugleich zweifeln.
    Menschen, die suchen und hoffen.
    Wir alle sind von Christus selbst eingeladen, der spricht: „Kommt, denn es ist alles bereit.“

    Amen

  • Ein Lobgesang im Schatten des Leids

    Ein Lobgesang im Schatten des Leids

    Predigt zum 1. Brief des Petrus 1,3–9 am 27.04.2025 in der Nehrener Veitskirche

    „Gelobt sei Gott …“ – so beginnt der Brief – und sofort stockt mir der Atem.

    Wie kann man Gott loben, wenn Leid und Bedrängnis zum Alltag gehören?
    Ist das nicht unsensibel?
    Anmaßend den Leidenden gegenüber?

    Ich möchte jemanden, der schwer zu tragen hat nicht als erstes zumuten: „Lobe Gott“?

    Unser Predigttext, der erste Petrusbrief, bringt diese Spannung auf den Punkt:
    Gotteslob und Schmerz, Hoffnung und Erfahrung, Rettung und Verlassenheit stehen dicht beieinander.

    Diese Spannung ist offensichtlich – und sie ist zeitlos aktuell

    Die Empfänger des Petrusbriefes leben zerstreut in der Fremde.
    Sie erleben Verfolgung, Benachteiligung, Entfremdung.
    Und gerade ihnen ruft der Brief zu:

    „Gelobt sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus! Der uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung…“

    Lebendige Hoffnung. Nicht Vertröstung. Aber auch kein einfacher Trost.
    Diese Verse reden nicht naiv über das Leid hinweg.
    Im Gegenteil:

    Sie benennen das Leid – aber sie halten dagegen.

    Der echte Glaube, sagt der Brief, ist „viel kostbarer als Gold“
    gerade weil er sich im Feuer des Leids bewährt.
    Aber was heißt das?
    Ist Leid der Prüfstein echten Glaubens?


    Zwischen Verheißung und Erfahrung

    Theologisch entsteht eine Spannung, die nicht aufgelöst werden darf.
    Es klafft zwischen der Verheißung göttlicher Nähe und der Erfahrung von Gottesferne eine große Lücke.
    Damals wie heute.

    „Ist mein Glaube stark genug?“
    „Warum entzieht sich Gott mir immer wieder?“

    Diese Fragen brennen vielen unter den Nägeln – auch in unseren Gemeinden.
    Und sie werden besonders laut, wenn Menschen durch schwere Zeiten gehen.


    Wenn Gottes Gegenwart fehlt – persönlich und global

    Vielleicht sitzt heute jemand hier,
    der diesen Riss ganz persönlich kennt.

    Der spürt, was es heißt, von Gott nichts zu spüren.
    Der – wie Elie Wiesel in seinem autobiografischen Bericht „Die Nacht“ gefragt hat: „Wo ist Gott?“
    In „Die Nacht“ schildert er das Grauen im Konzentrationslager Auschwitz– den körperlichen Schmerz, die Erniedrigung, den Verlust aller Hoffnung.

    Eine Szene hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt:
    Ein Kind wird öffentlich erhängt. Die Lagerinsassen müssen zusehen. Einer flüstert:

    „Wo ist Gott?“
    Und Elie Wiesel schreibt:
    „Ich hörte eine Stimme in mir antworten: Dort – dort hängt er, am Galgen.“

    Gotteslob?
    In dem Moment unmöglich.
    Diesen Schmerz nimmt der Petrusbriefes auf.
    Indem er uns erzählt:
    Glaube lebt nicht vom Sieg, sondern vom Durchhalten in der Anfechtung.
    In dem Augenblick als das Grauen seinen Höhepunkt erreichte.
    In dem Augenblick als das Kind am Galgen baumelte und jemand flüsterte:

    „Wo ist Gott?“„Er hängt dort.“

    Wiesels Erzählung, die in ihrer kargen Schlichtheit erschüttert,
    ist längst nicht nur eine Erinnerung an die Shoah.
    Sie hat eine unheimliche Aktualität –
    angesichts der Bilder aus der Ukraine,
    den Massakern im Sudan,
    dem nicht enden wollenden Sterben in Gaza.
    Dem Leid überall in der Welt.

    Und sie trifft uns auch ganz persönlich:
    – im Krankenhaus
    – am Grab
    – im Gespräch über zerbrochene Hoffnungen
    – im Ringen um ein Gebet, das nicht mehr über die Lippen kommt.

    Vielleicht ist jemand unter uns, der wie ich – wie Jesus am Kreuz – schon einmal geschrien hat:

    „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2)

    Dann ist es gut zu wissen:
    Du bist damit nicht am Rand des Glaubens,
    sondern mitten in seinem innersten Zentrum.

    Denn auch Jesus hat so geschrien.
    Sein Schrei macht deutlich:
    Der Glaube kennt nicht nur das Licht,
    sondern auch die Nacht.
    Und wer schreit, glaubt oft tiefer, als wer nur formelhaft betet.


    Glauben heißt: Nicht loslassen

    Der 1. Petrusbrief hält an dieser Spannung fest.
    Er verschweigt das Leid nicht – aber er legt die Hoffnung daneben.
    Nicht als leichten Ausweg. Sondern als Einladung zum Durchhalten.

    Denn Hoffnung ist keine Vertröstung.
    Sie ist ein Anfang – oft leise, kaum zu hören,
    aber stark genug, um uns neu auszurichten.
    Darum spricht der Paulusbrief auch von Gottes großer Barmherzigkeit die uns zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren hat.

    Wer hofft, der sieht mehr –
    nicht weil die Welt sich verändert hat,
    sondern weil sich der Blick auf sie verändert.

    Diese Hoffnung wächst nicht aus einem abstrakten allmächtigen Gott,
    sondern aus einem Gott,
    der uns annimmt und mit uns mitleidet,
    der sich immer wieder entzieht
    und doch nie ganz geht.


    Zwischen Kreuz und Auferstehung

    Darum ist es kein Zufall, dass diese Verse am Sonntag Quasimodogeniti gelesen werden –
    in der Woche nach Ostern.

    Nach dem Jubel.
    Nach dem Osterlachen.

    Jetzt kommen die Zweifel.
    Jetzt kommen die Fragen.
    Jetzt kommt der Alltag.

    Thomas ist nicht dabei, als Jesus den Jüngern zuerst erscheint.
    Wir wissen nicht, wo er war. Vielleicht hat er das leere Zimmer nicht ausgehalten.
    Vielleicht hat er – wie viele von uns – einfach Abstand gebraucht.

    Abstand vom Schmerz.
    Von der Hoffnung.
    Von all dem, was ihn innerlich zerriss.

    Und dann erzählen die anderen:
    „Wir haben den Herrn gesehen!“
    Doch Thomas sagt:

    „Wenn ich nicht die Male der Nägel sehe und meine Finger in seine Wunden lege, werde ich nicht glauben.“

    Das ist kein bloßes Zweifeln.
    Das ist: Verletzung, Enttäuschung, Sehnsucht.

    Thomas steht mitten in der Spannung,
    zwischen dem Ruf zur Hoffnung und dem Gefühl, allein gelassen worden zu sein.
    Zwischen Ostern und Karfreitag.
    Zwischen Licht und Dunkel.

    Und Jesus?
    Jesus kommt ihm nicht mit Vorwürfen, sondern mit offenen Händen.
    Er sagt nicht: „Du hättest glauben sollen.“
    Er sagt:

    „Reich deinen Finger her … sieh meine Hände … und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“

    Er nimmt Thomas ernst.
    Seine Fragen.
    Seine Sehnsucht.
    Seinen Schmerz.

    Und genau in diesem ehrlichen Ringen entsteht Glaube.
    Kein Glaube aus Beweis.
    Sondern aus Begegnung.

    Und Thomas antwortet mit einem der stärksten Worte des Neuen Testaments:

    „Mein Herr und mein Gott!“

    Ein Bekenntnis mitten aus dem Riss heraus –
    nicht obwohl, sondern weil die Wunden noch sichtbar sind.

    Das meint der Petrusbrief wenn er schreibt:

    „Ihr habt ihn nicht gesehen und habt ihn doch lieb; ihr glaubt an ihn und werdet euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude…“

    Eine Hoffnung, die trägt

    Diese Freude ist kein Lächeln auf Knopfdruck.
    Sie ist eine Erfahrung, die leider oft erst im Rückblick entsteht.
    Sie ist die Kraft, wieder aufzustehen.
    Noch einmal zu vertrauen.
    Noch einmal loszugehen.

    So wie Frodo und Sam aus J.R.R. Tolkins „Herr der Ringe“
    Als sie mitten im dunklen Land Mordor am Rand der völligen Erschöpfung stehen sah Sam nach einem Wolkenbruch

    „… einen weißen Stern eine Weile funkeln.
    Die Schönheit davon traf sein Herz, als er aus dem verlassenen Land aufblickte, und die Hoffnung kehrte zu ihm zurück.
    Denn wie ein Strahl, klar und kalt, durchbohrte ihn der Gedanke, dass am Ende der Schatten nur eine kleine und vergängliche Sache war:
    Es gab Licht und hohe Schönheit für immer jenseits des Bösen.“

    Der Stern ändert nicht die Lage der Freunde– sie bleiben in Gefahr.
    Aber Sam sieht mehr als nur die Dunkelheit.
    Er sieht das Licht.
    Und das genügt, um weiterzugehen.

    Diese Szene ist fast wie ein modernes Gleichnis für das, was der 1. Petrusbrief sagen will:
    Glaube heißt nicht, dass alles leicht wird.
    Glaube heißt, dass uns – manchmal überraschend – ein Licht aufgeht.
    Ein Hoffnungsschimmer.
    Eine Ahnung von etwas Größerem, das uns trägt.

    Vielleicht ist der Glaube genau das: Nicht ein Sieg über das Dunkel, sondern der Entschluss, im Dunkel weiterzugehen – weil irgendwo ein Stern leuchtet.

    Die Worte des Petrusbriefes sind mutig.
    Sie trauen uns zu, dass wir erkennen:

    • Wir sind nicht allein.
    • Wir leben mit und von dem Gott, der uns mit seiner lebendigen Hoffnung neues Leben schenkt – jeden Tag.
      Ich möchte mir mit dieser Hoffnung meinen Glauben bewahren.

    Nicht als Schild gegen das Leid.
    Sondern als Flamme, die in der Dunkelheit brennt.
    Nicht laut.
    Aber treu.


    Amen.