Kategorie: Altdorf

  • Der Bund im Regenbogen

    Der Bund im Regenbogen

    Predigt zum 20. Sonntag nach Trinitatis am 02.11.2025 in Neckartailfingen und Altdorf über 1. Mose 8,18–22.9,12–17,

    Vor langer Zeit lebten die Menschen, wie sie wollten.
    Ein jeder wollte nach seiner Fasson glücklich werden.
    Tagein tagaus lebten sie auf ihre Weise.
    Jeder schaute nach sich selbst.

    Unter ihnen lebte ein Mann, der einen anderen Weg wählte.
    Er lebte mit Gott.
    Die Bibel nennt ihn einen Gerechten.
    Entgegen allen Logiken folgte er Gottes Auftrag, als dieser ihn mit der größten nur denkbaren Rettungsaktion der Menschheitsgeschichte beauftragte.

    Um wen handelt es sich?


    Um Noah.
    Obwohl es weit und breit kein Meer gab, baute er ein großes Schiff.
    Im Vertrauen auf Gottes Auftrag machte er sich an dieses große Projekt.

    Als die Wasser der Sintflut kamen, vertraute er ein weiteres Mal auf Gottes Auftrag und stieg in die Arche.
    Wochen und Monate vergingen.
    Dann war die Katastrophe vorbei. Noah stieg aus der Arche …

    Hier beginnt unser Predigttext:
    Lesen des Predigttextes: 1. Mose 8,18–22; 9,12–17


    Neubeginn

    Stellen wir uns Noah vor.

    Wie er den Fuß auf den Boden setzt – zögernd, tastend.
    Die Erde ist noch feucht, weich wie eine Wunde.
    Kein Vogelruf. Keine Stimmen. Nur ein tastendes Schweigen.
    Ein Licht, das noch nicht warm ist. Wie der erste Tag nach einem langen Fieber.

    Was er sieht, kennen wir:
    Bilder nach Fluten – Ahrtal, Jamaika, Kuba, Haiti.

    Jedes Mal dieselbe Verwüstung.
    Häuser fortgerissen. Erinnerungen versunken.
    Eine Landschaft, die nicht mehr antwortet.

    Und doch – Noah bleibt nicht stehen.

    Er sammelt Holz. Reste von etwas, das einmal Leben war.
    Und er baut – keinen Schutzwall.
    Sondern einen Altar.

    Dort, wo andere sagen würden: „Hier ist kein Gott mehr.“
    beginnt er zu sagen: „Hier bete ich ihn an.“

    Nicht mit Worten.
    Mit Rauch.
    Mit Dank.

    Mitten im Ruin erhebt er nicht die Faust, sondern sein Herz.

    Vielleicht ist das der erste Satz nach der Katastrophe:
    Nicht „Warum?“ –
    sondern „Du warst da.“

    Noah dankt – bevor Gott antwortet.

    Noch kein Regenbogen.
    Noch kein gesprochenes Versprechen.
    Nur der nackte Boden einer entstellten Welt
    und das leise Aufsteigen von Rauch.

    Es ist, als ob dieser Rauch nicht nur zu Gott aufsteigt –
    sondern die Welt wieder mit dem Himmel verbindet.
    Eine dünne, zerbrechliche Linie zwischen Erde und Ewigkeit.

    Und dann geschieht es.

    Nicht mit Donner. Nicht mit Gericht.
    Sondern mit einem Satz, den niemand erwartet hätte:

    „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen.“

    Gott — sieht dieselbe Wirklichkeit wie Noah.
    Er verharmlost sie nicht.
    Er sagt nicht: „Die Menschen sind gut.“
    Er sagt: „Ich weiß, wie sie sind. Ich kenne den Abgrund in ihrem Herzen.“
    Und genau dort — wo der Mensch unzuverlässig bleibt —
    entscheidet Gott sich, verlässlich zu sein.

    Nicht, weil der Mensch sich gebessert hätte.
    Sondern weil Gott sich bindet.

    Und so spannt sich über diese Wunde der Welt ein Zeichen,
    ein niemals verdientes, nur geschenktes Zeichen:

    Ein Bogen.
    Kein Kriegsbogen nach vorn.
    Sondern ein umgedrehter, entwaffneter Bogen.
    Von Himmel zu Erde gespannt.
    Nicht auf uns gerichtet – sondern für uns gehalten.

    Es ist, als sähe man Gottes Herz sichtbar werden.
    Zart. Unbewaffnet.
    Nicht Forderung – sondern Verheißung.
    Nicht Misstrauen – sondern Treue.
    Nicht Angst – sondern Liebe.

    Der Regenbogen steht.
    Nicht als Dekoration.
    Sondern als göttliches Gegenwort gegen alles, was zerstört.

    Gott sagt nicht: „Ich hoffe, ihr macht’s diesmal besser.“
    Er sagt: „Ich bleibe — selbst wenn ihr Fehler macht.“

    Der Regenbogen ist kein moralisches Mahnzeichen.
    Der Regenbogen ist ein Gnadenzeichen.
    Kein Appell an uns, sondern eine Verpflichtung Gottes an sich selbst.

    „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken —
    und ich will daran denken.“

    Ein Bogen, der Brücken spannt, wo alles zerbrochen ist.
    Ein Bogen, der nicht uns erinnert, sondern Gott.
    Ein Zeichen nicht von Menschen nach oben,
    sondern von Gott nach unten.


    Unsere Welt ist nicht heil

    Unsere Welt ist nicht heil.
    Wir haben Bilder von überfluteten Dörfern,
    von brennenden Wäldern,
    von zerbrochenen Städten,
    von Menschen auf der Flucht – im Blick und im Herzen.

    Nicht weit weg.
    Nicht theoretisch.

    Angst liegt in der Luft.
    Eine Angst, die, wie ein feiner, giftiger Staub, jede Zukunftserzählung überzieht.

    Und genau in diesen Horizont hinein
    legt Gott uns — keinen Plan — sondern einen Bogen vor die Augen.
    Nicht als Garantie auf Leichtigkeit.
    Sondern als Verheißung seiner Gegenwart.
    Nicht: „Fürchtet euch nicht — es wird nichts passieren.“
    Sondern:
    „Fürchtet euch nicht — ich bin da, was auch geschieht.“


    Was bedeutet dieser Bund — für uns?

    Er bedeutet nicht, dass wir die Augen schließen vor dem, was kaputt ist.
    Im Gegenteil.
    Wer den Regenbogen sieht, sieht die Welt klarer.

    Aber nicht mehr ausgeliefert.
    Nicht mehr ohnmächtig.
    Nicht mehr getrieben von Angst.

    Sondern getragen von einem Grund, den wir nicht selbst legen müssen.

    Noah war nicht stark, weil er keine Angst hatte.
    Er war stark, weil er aus der Dankbarkeit heraus handelte, nicht aus der Panik.

    Vielleicht ist das der stille Ruf dieses Bundes:

    Erkenne das Heilige — mitten in der Zerstörung.
    Atme — bevor du handelst.
    Danke — bevor du begreifst.
    Vertraue — bevor du siehst.

    Gott wartet nicht, bis wir vollkommen sind.
    Er fängt bei uns an — da, wo wir gerade stehen.
    Zwischen Ruinen, Fragen, offenen Enden.

    Unser Auftrag?

    Nicht „Wir retten die Welt.“ ist der Auftrag an uns.
    Sondern:
    „Wir lassen uns rufen — in die Treue Gottes hinein.“

    Und Treue ist das Gegenteil von Resignation.
    Treue ist das Gegenteil von innerem Rückzug.
    Treue ist nicht Starrheit —
    sondern ein Herz, das bleibt, wo andere schon aufgegeben haben.

    Damit beginnt Bewahrung.
    Damit beginnt Heilung.
    Damit beginnt Hoffnung.
    Damit bleiben wir handlungsfähig.


    Vielleicht stehen Sie morgen oder übermorgen auf und spüren die Unsicherheit:
    Wie soll ich leben?
    Wie kann ich das Gute tun?
    Wie kann ich inmitten von Gewalt, Zerstörung, Klimakrise bestehen?

    Die Bibel hat eine Antwort:
    Schauen Sie auf den Regenbogen.
    Er ist ein Zeichen der Treue Gottes.
    Gott verlässt Sie nicht.
    Gott gibt die Erde nicht auf.

    Dann bitte ich Sie:
    Atmen Sie tief durch.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue stärker ist als Ihre Angst.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue stärker ist als die Gewalt dieser Welt.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue Ihnen Orientierung gibt:
    nicht durch starre Regeln, sondern durch die Freiheit, die aus der Liebe erwächst.

    Ich wünsche uns, dass wir in dieser Woche den Regenbogen sehen.
    Egal, ob im Himmel, im Mitmenschen oder im eigenen Herzen.
    Damit wir daran erinnert werden, dass Gottes Bund stärker ist als alles Leid,
    dass seine Treue uns trägt,
    dass sein Geist uns Orientierung schenkt.

    So segne Sie der Gott des Lebens,
    der alle Kreatur und alle Menschen liebt,
    der sein Wort hält, der seinen Bund nicht vergisst,
    der Ihnen Kraft, Weisheit und Hoffnung schenkt – heute und alle Tage Ihres Lebens. Amen

  • Weisheit: Die Kraft, die durch alles geht

    Weisheit: Die Kraft, die durch alles geht


    Predigt über Sprüche 8,22–36 zum Sonntag Jubilate und Muttertag am11.05.2025 in der evangelischen Kirche Altdorf und in der St. Bernhardskirche in Neckarhausen

    Ein Funke in allem

    Stellen Sie sich vor, da war etwas – noch bevor irgendetwas war.
    Bevor es Licht gab.
    Bevor es Sterne gab.
    Bevor es die Erde gab.
    Bevor Berge und Täler.
    Bevor es Pflanzen und Tiere gab.
    Bevor irgendetwas sich drehte oder wuchs oder klang.
    Da war sie schon da: Die Weisheit.

    Nicht als abstrakte Idee.
    Sondern lebendig. Fröhlich.
    Sie sagt im Buch der Sprüche:

    „Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“

    Ich liebe dieses Bild.
    Weisheit ist nicht trocken, nicht verkopft.
    Sie spielt, ist kreativ, tanzt und ist neugierig.


    Weisheit ist Beziehung

    Das ist ein anderer Zugang zu Gott.
    Weisheit in der Bibel ist keine Theorie.
    Weisheit ist Beziehungswissen.

    Sie spürt, was trägt – zwischen uns Menschen,
    in unserer Gemeinschaft, im Glauben.

    „Wer mich findet, findet das Leben.“ (Spr 8,35)

    Hier steht nicht wer mich gefunden hat.
    Also nicht: Wer alles richtig macht.
    Sondern:
    Wer sich an der Weisheit orientiert, lebt tiefer, wacher, echter.

    Nicht: „Glaube dies und jenes.“
    Sondern: Lerne mit den Augen der Weisheit zu sehen.

    Was bringt Leben?
    Was zerstört?
    Was verbindet?
    Was trennt?
    Was trägt?

    Die Bibel sagt:

    „Wer mich findet, findet das Leben.“
    Weisheit ist nicht Wissen.
    Weisheit ist die Kunst, gut zu leben – in Beziehung mit Gott, mit anderen, mit sich selbst.


    Hildegard von Bingen – die, die hörte

    Im 12. Jahrhundert – Europa steckt noch tief im Mittelalter –
    hat eine Frau plötzlich wieder diese Stimme gehört:
    Hildegard von Bingen.
    Mystikerin, Heilkundige, Komponistin, Theologin.
    Und sie schreibt:

    „O Kraft der Weisheit, du hast drei Flügel: einer fliegt über die Erde, einer schwebt über dem Himmel, einer durchdringt alles mit deinem Leben.“

    Weisheit – nicht statisch
    Weisheit – als Bewegung.
    Als Schwingen Gottes in dieser Welt.
    Die Weisheit verbindet Himmel und Erde.
    Und die Weisheit fiegt mitten durch unser Leben.


    Schon die frühen Christen spürten: Das ist der Heilige Geist

    Schon in den ältesten Schriften der Bibel ist diese Weisheit mehr als Klugheit.
    Im Buch der Weisheit heißt es:

    „Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes, ein reiner Abglanz der Herrlichkeit des Allherrschers.“ (Weish 7,25f)

    Viele frühchristliche Theologen spürten darin die Nähe zum Heiligen Geist.
    Thomas von Aquin – ein großer Theologe des Mittelalters, der versuchte, Glauben und Denken zu verbinden – Der fragte:
    Wie wirkt Gott in dieser Welt?
    Eben nicht nur im Himmel, sondern in unserem Herzen,
    in der Schöpfung,
    im Denken?
    Für ihn ist die Weisheit ein göttliches Prinzip, das durch alles geht – ein Spiegel der göttlichen Ordnung.
    Und immer wieder deutet er: Diese Weisheit, die alles trägt, ist der Heilige Geist – Gottes lebendige Gegenwart eben in dieser Welt.

    Und das hat mit uns zu tun..
    Wenn wir fragen?

    Was trägt?
    Was gibt Orientierung?_
    Was hilft mir?
    Zwischen all den Stimmen, Meinungen, Reizen klar zu sehen?_

    Die biblische Antwort lautet:
    Es ist die Weisheit Gottes.
    Sie ist nicht laut.
    Sie ist nicht aufdringlich.

    Aber sie ist da!
    Wie ein innerer Kompass.
    Wie ein Atemzug Gottes mitten im Chaos.
    Wie eine Kraft, die uns leben lässt.
    Aufrecht, verbunden, klar.


    Jubilate heißt: Die Schöpfung lebt

    Jubilate – das ist der Sonntag des Aufatmens.
    Es ist nicht alles perfekt.
    Nein, da ist unsere Welt noch weit entfernt, um perfekt zu sein.
    Sondern Jubilate,
    weil Gott immer noch schafft.
    Weil seine Weisheit immer noch weht.
    Weil Leben neu anfangen kann – heute.
    In mir. In dir. In uns.

    In Christus ist diese Weisheit lebendig geworden.

    Nicht als Theorie, sondern als Berührung.
    Als Stimme.
    Als Brot.
    Als Trost.
    Als einer, der zuhört
    Als Auferstehung.
    Als einer der Leben schenkt – über den Tod hinaus.


    Und heute? Muttertag? Auch da wirkt Weisheit!

    Denn ganz ehrlich:
    Wer hat uns oft zuerst Weisheit beigebracht?
    Nicht mit großen Worten.
    Sondern mit kleinen Gesten.
    Mit einem Blick.
    Mit einem Nein, das uns beschützt hat.
    Oder einem Ja, das uns Flügel verliehen hat.

    Weisheit ist nicht laut.
    Aber sie erkennt, was zählt.
    An diesem
    Darum sage ich an diesem Tag – Muttertag-
    „Danke“
    Nicht nur für das, was getan wurde.
    Sondern für das, was getragen wurde.
    An Liebe. An Geduld. An Lebensweisheit.


    Die Einladung der Weisheit

    Die Weisheit sagt:

    „Hört auf mich – dann werdet ihr leben.“

    Ich glaube:
    Das ist kein Befehl.
    Das ist eine Einladung.

    Es ist eine Einladung zum Leben.
    Zur Tiefe.
    Zur Verbundenheit.

    Es ist eine Einladung zu einem Leben, das mit Gott in Verbindung steht.
    Das Freude kennt.
    Und Tiefe.
    Und Spiel.
    Und Sinn.

    Vielleicht hören wir heute die Weisheit flüstern –
    in einer Melodie,
    in einem Gedanken,
    in einem dankbaren Rückblick,
    in einem mutigen Schritt nach vorn.


    Amen.


    Lied nach der Predigt: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut   EG 635

  • Schuldlos schuldig

    Schuldlos schuldig

    Predigt zu Johannes 18,28-19,5 am 07.04.2025 in Altdorf und Neckartenzlingen

    Einer läuft nicht weg. Lief nie weg. War für alle da.

    „Weg mit ihm! Weg mit denen, die stören! Er stört unsere Ordnung, unser Weltbild.“
    Sie bringen ihn zu Pilatus, dem römischen Präfekten von Judäa, Repräsentant des Kaisers in Rom. Er darf und soll zum Tod verurteilen diesen schändlichen Aufrührer, der sich anmaßt, Gottes Sohn zu sein. Als Juden dürfen sie das nicht. Auch das Prätorium betreten sie nicht, sie würden unrein werden und könnten nicht das Passamahl zu sich nehmen.
    Pilatus fühlt sich belästigt. Sollen sie doch selbst entscheiden, was sie mit diesem Menschen Jesus machen wollen.
    Im Verlauf des Verhörs wird er aufmerksamer. Pilatus, dieser mächtige Mann ist hin- und her- gerissen zwischen dem Menschen Jesus, der ihn beeindruckt und dem Angeklagten, den er zum Tod verurteilen soll. Er findet keine Schuld an ihm, aber er muss die aufgeheizte Menschenmenge zufriedenstellen.
    Sie setzen ihn unter Druck. „Der da sagt von sich, er sei ein König“, das ist eine schwere Anschuldigung vor dem römischen Präfekten, der einen König in Konkurrenz zum römischen Kaiser nicht zulassen darf. Darauf könnte die Todesstrafe verhängt werden. Und dennoch, Pilatus ist durch die ruhige Argumentation Jesu verunsichert. Vom Fragenden wird er selbst zum Befragten. „Bist du der Juden König?“ Jesus fragt zurück: „Sagst du das von dir aus?“ Jesus erwartet viel Verstehen von dem Römer Pilatus.
    Pilatus zweifelt. Er findet keine Schuld an Jesus. Aber er steht unter Druck. Das ist lästig! Was soll er nur machen mit solchen Aussagen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ „Ja, ich bin ein König.“ „In die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge.“
    „Was ist Wahrheit?“ Das fragt Pilatus. Die Wahrheit, die Pilatus kennt, ist die Wahrheit der Herrschenden, weil immer die die Wahrheit und das Recht für sich reklamieren, die im Besitz der Macht, des Gelds und der Waffen sind. Die Wahrheit, von der Jesus spricht, ist die Wahrheit der Barmherzigkeit und der Liebe. Es ist die Wahrheit, die sich für die Schwachen einsetzt. Eine andere Wahrheit gibt es nicht. Wer den Weg Jesu mitgeht, erkennt diese Wahrheit, weil er, Jesus, „dazu geboren und in die Welt gekommen“ ist. Das ist eindeutig. Es lässt kein Wenn und Aber zu.
    Pilatus ist verunsichert und beeindruckt. Er findet keine Schuld an Jesus, aber er muss ihn irgendwie loswerden und den Erwartungen, die sie an ihn und sein Amt stellen, gerecht werden. Und andererseits versucht er, sich aus der Verantwortung herauszuwinden und gibt ihn an das Volk heraus.

    Wo bin ich – wo wäre ich gewesen?

    Ich versuche, mich unter das Volk zu mischen, um Jesus näher zu sein und auch diesem mächtigen Pilatus. Rechts und links schubsen sie, brüllen ihren Hass auf Jesus heraus, recken ihre Fäuste ihm entgegen, die Gesichter verzerrt vor Wut und Hass. Wie lang soll das noch gehen mit diesem Jesus, diesem selbsternannten König? Wann wird dieser Ketzer endlich verurteilt? Gottes Sohn will er sein! Lächerlich!
    Das ist Gotteslästerung. Ich bin verunsichert und verwirrt. Sollten sie alle unrecht haben? Ihr Hass stößt mich ab. Ich sehe einige unter der Menge, die mir vertraut sind.
    Ich habe aber doch auch gesehen, wie Jesus freundlich mit den Menschen geredet hat, auch mit denen, die sonst keiner wahrnimmt. Kranke hat er geheilt. Es hat mich aber auch irritiert, dass er sich gegen die Tradition gestellt hat. Und ein König will er sein? Was ist das für ein König, ohne Macht? Gleichzeitig hat mich sein Auftreten beeindruckt. Ich fand es mutig. Könnte ich nicht auch so sein? Muss ich mit der Menge schreien?

    Ich wundere mich, wie anders Reaktionen aussehen können, wenn ich mich selber in die Situation hineinstelle.
    Oft schon habe ich mir die Frage gestellt, wie ich in der Zeit des Nationalsozialismus gedacht und gehandelt hätte: Wäre ich mutig gewesen, oder hätte ich mich versteckt hinter der Meinung der Vielen? Habe ich Glück gehabt, dass mich niemand gefragt hat? Wo wäre ich gewesen?

    Für wen stehst du da?

    Wie zeigt sich Jesus? Menschlich, nahbar und zugleich auch unnahbar in seiner Klarheit und Ruhe inmitten einer feindseligen Umgebung.
    Und doch frage ich: „Warum verteidigst du dich nicht? Du hast doch den größten Verteidiger im Hintergrund!“ Ach ja, wir wissen, er rettet dich nicht vor den Verurteilungen und vor dem schlimmsten Tod.
    Du sagst, wer du bist, aber du verteidigst dich nicht! Ich würde das an deiner Stelle leidenschaftlich tun. Du hast sie doch auch verteidigt, die Ehebrecherin, ja sogar sie, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht hatte.
    Wie geht es mir, wenn ich mich Angriffen ausgesetzt fühle, die ich für ungerecht halte? Ich bin gekränkt, verletzt, innerlich erregt und angespannt. Mein Blutdruck schießt nach oben. Jesus steht ruhig da. Anders in Gethsemane, als er den Vater anfleht, ihn zu verschonen. Da ist er mir eigentlich näher, eben ganz menschlich. So schwach wie ich auch. Wir dürfen schreien und Gott unseren Zorn und unseren Kummer vor die Füße werfen und sagen, dass wir so vieles ungerecht finden und einfach nicht verstehen.
    Für wen, Jesus, stehst du da und lässt dich beschuldigen? Für uns? Für alle? Was ist mit den Hitlers, den Stalins, den Pol Pots, den Putins, den Messerstechern in Fußgängerzonen und auf Stadtfesten?

    Wie in einem Spiegel

    Wir haben als Menschen die Möglichkeit, uns herauszureden, im schlimmsten Fall die Unwahrheit zu sagen, Schuld zu beschönigen, einen anderen als schuldig zu benennen. Der da, ich nicht! So ist Christus nicht. Alles, was er sagt und tut, ist Wahrheit. Es ist die Wahrheit des Sohnes Gottes. Da spüre ich etwas von dieser tiefen Verbundenheit, diesem Einssein mit Gott. In Wahrheit hält Jesus mir einen Spiegel vor. Ich erkenne, wie oft ich mich auch aus der Wahrheit herausschleiche, beschönige, geliebt werden möchte, mit dem Strom schwimme. Es gibt genug Fragen, in denen ich bekennen muss, auf wessen Seite ich stehe.
    Es ist meine freie Entscheidung, wahrhaftig zu sein oder nicht. Wir sehen wie in einem Spiegel auch das ganze Elend dieser Welt, die ungerechten Verhältnisse, den Machtmissbrauch, den Hass und die Zerstörung. Es ist meine freie Entscheidung, hinzusehen und mich nicht abzuwenden „Zum Glück, ich nicht!“

    Und noch einmal: Hätte es uns besser gefallen, wenn Pilatus die Unschuld Jesu erkannt und danach gehandelt hätte? Die Macht dazu hätte er ja gehabt. Im Matthäusevangelium heißt es: „Als Pilatus sah, dass er so nichts erreichte und dass der Tumult nur immer größer wurde, ließ er eine Schüssel mit Wasser bringen. Für alle sichtbar wusch er sich die Hände und sagte: „Ich bin am Blut dieses Menschen nicht schuldig. Die Verantwortung dafür tragt ihr!“ (Matthäus 27,24)

    Keine Strafe

    Wie soll das gehen, sich reinwaschen und sich doch schuldig machen! Was für ein Widerspruch! Pilatus verbiegt die Gerechtigkeit. Er urteilt so, wie sie es von ihm erwarten. Die Zweifel wischt er weg.
    Die Frage bleibt: Hätte Jesus gerettet werden können, weil ein Mensch doch Zivilcourage besessen und ein mutiges Urteil gefällt hätte? Aber so heißt es schon zu Beginn: „So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.“ (Vers 32) Oder „musste er nicht solches erleiden?“ (Lukas 24,25–26) Auch in der Lesung bei Markus spricht Jesus von seinem zukünftigen Sterben: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?“.
    Verkleinert das die menschliche Schuld? Hätte sich die Zwangsläufigkeit verändert, wenn die Menschen sich barmherzig gezeigt hätten und auf die Straße gegangen wären, um für ihn zu demonstrieren und sich mitfühlend gezeigt hätten? Eine sehr menschliche Reaktion. Menschen stellen sich immer wieder diese Fragen. Warum diese Konsequenz um Gotteswillen? Wie viele Menschen haben sich gerieben an der Vorstellung, dass Christus um unseretwillen gestraft wurde. Ich erinnere mich noch sehr genau an die empörte Aussage einer Freundin: „So einen Gott will ich nicht, der um meinetwillen sterben musste!“ Nein, so einen Gott will ich auch nicht.
    Ist das wirklich so ein Gott, der straft? Ist es nicht eher so, dass in der Verurteilung deutlich wird, dass sich Gott selbst hingibt in seinem Sohn, damit wir, und zwar alle Menschen, frei werden von Schuld? Gott zeigt seine ganze Liebe zu den Menschen darin, dass der Sohn alle Wege, die wir auch gehen, mitgeht. Ist es eher so, dass an den Menschen, die ihn verdammen, quälen, verleumden, gerade sichtbar wird, wie sehr sie und wir alle diese Liebestat Gottes, die in Jesu Kreuzestod sichtbar wird, unbedingt brauchen? In diesem „für uns“ wird das deutlich. Was sollte dann Strafe sein? „Musste er nicht solches erleiden?“ Damit darf auch ich Jesu Verurteilung und Tod für mich als Befreiung verstehen. Gottes Liebestat gilt uns allen.
    Mein letzter Blick richtet sich zum Altar, auf dem eine Dornenkrone in dieser Passionszeit liegt. Sie ist stachlig und tut weh. Königswürde in Demut und Schmerzen. Sein „Reich ist nicht von dieser Welt“.

    Lied nach der Predigt: Bei dir, Jesu, will ich bleiben   EG 406, 1–4