Autor: Thomas Langeneck

  • Der Bund im Regenbogen

    Der Bund im Regenbogen

    Predigt zum 20. Sonntag nach Trinitatis am 02.11.2025 in Neckartailfingen und Altdorf über 1. Mose 8,18–22.9,12–17,

    Vor langer Zeit lebten die Menschen, wie sie wollten.
    Ein jeder wollte nach seiner Fasson glücklich werden.
    Tagein tagaus lebten sie auf ihre Weise.
    Jeder schaute nach sich selbst.

    Unter ihnen lebte ein Mann, der einen anderen Weg wählte.
    Er lebte mit Gott.
    Die Bibel nennt ihn einen Gerechten.
    Entgegen allen Logiken folgte er Gottes Auftrag, als dieser ihn mit der größten nur denkbaren Rettungsaktion der Menschheitsgeschichte beauftragte.

    Um wen handelt es sich?


    Um Noah.
    Obwohl es weit und breit kein Meer gab, baute er ein großes Schiff.
    Im Vertrauen auf Gottes Auftrag machte er sich an dieses große Projekt.

    Als die Wasser der Sintflut kamen, vertraute er ein weiteres Mal auf Gottes Auftrag und stieg in die Arche.
    Wochen und Monate vergingen.
    Dann war die Katastrophe vorbei. Noah stieg aus der Arche …

    Hier beginnt unser Predigttext:
    Lesen des Predigttextes: 1. Mose 8,18–22; 9,12–17


    Neubeginn

    Stellen wir uns Noah vor.

    Wie er den Fuß auf den Boden setzt – zögernd, tastend.
    Die Erde ist noch feucht, weich wie eine Wunde.
    Kein Vogelruf. Keine Stimmen. Nur ein tastendes Schweigen.
    Ein Licht, das noch nicht warm ist. Wie der erste Tag nach einem langen Fieber.

    Was er sieht, kennen wir:
    Bilder nach Fluten – Ahrtal, Jamaika, Kuba, Haiti.

    Jedes Mal dieselbe Verwüstung.
    Häuser fortgerissen. Erinnerungen versunken.
    Eine Landschaft, die nicht mehr antwortet.

    Und doch – Noah bleibt nicht stehen.

    Er sammelt Holz. Reste von etwas, das einmal Leben war.
    Und er baut – keinen Schutzwall.
    Sondern einen Altar.

    Dort, wo andere sagen würden: „Hier ist kein Gott mehr.“
    beginnt er zu sagen: „Hier bete ich ihn an.“

    Nicht mit Worten.
    Mit Rauch.
    Mit Dank.

    Mitten im Ruin erhebt er nicht die Faust, sondern sein Herz.

    Vielleicht ist das der erste Satz nach der Katastrophe:
    Nicht „Warum?“ –
    sondern „Du warst da.“

    Noah dankt – bevor Gott antwortet.

    Noch kein Regenbogen.
    Noch kein gesprochenes Versprechen.
    Nur der nackte Boden einer entstellten Welt
    und das leise Aufsteigen von Rauch.

    Es ist, als ob dieser Rauch nicht nur zu Gott aufsteigt –
    sondern die Welt wieder mit dem Himmel verbindet.
    Eine dünne, zerbrechliche Linie zwischen Erde und Ewigkeit.

    Und dann geschieht es.

    Nicht mit Donner. Nicht mit Gericht.
    Sondern mit einem Satz, den niemand erwartet hätte:

    „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen.“

    Gott — sieht dieselbe Wirklichkeit wie Noah.
    Er verharmlost sie nicht.
    Er sagt nicht: „Die Menschen sind gut.“
    Er sagt: „Ich weiß, wie sie sind. Ich kenne den Abgrund in ihrem Herzen.“
    Und genau dort — wo der Mensch unzuverlässig bleibt —
    entscheidet Gott sich, verlässlich zu sein.

    Nicht, weil der Mensch sich gebessert hätte.
    Sondern weil Gott sich bindet.

    Und so spannt sich über diese Wunde der Welt ein Zeichen,
    ein niemals verdientes, nur geschenktes Zeichen:

    Ein Bogen.
    Kein Kriegsbogen nach vorn.
    Sondern ein umgedrehter, entwaffneter Bogen.
    Von Himmel zu Erde gespannt.
    Nicht auf uns gerichtet – sondern für uns gehalten.

    Es ist, als sähe man Gottes Herz sichtbar werden.
    Zart. Unbewaffnet.
    Nicht Forderung – sondern Verheißung.
    Nicht Misstrauen – sondern Treue.
    Nicht Angst – sondern Liebe.

    Der Regenbogen steht.
    Nicht als Dekoration.
    Sondern als göttliches Gegenwort gegen alles, was zerstört.

    Gott sagt nicht: „Ich hoffe, ihr macht’s diesmal besser.“
    Er sagt: „Ich bleibe — selbst wenn ihr Fehler macht.“

    Der Regenbogen ist kein moralisches Mahnzeichen.
    Der Regenbogen ist ein Gnadenzeichen.
    Kein Appell an uns, sondern eine Verpflichtung Gottes an sich selbst.

    „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken —
    und ich will daran denken.“

    Ein Bogen, der Brücken spannt, wo alles zerbrochen ist.
    Ein Bogen, der nicht uns erinnert, sondern Gott.
    Ein Zeichen nicht von Menschen nach oben,
    sondern von Gott nach unten.


    Unsere Welt ist nicht heil

    Unsere Welt ist nicht heil.
    Wir haben Bilder von überfluteten Dörfern,
    von brennenden Wäldern,
    von zerbrochenen Städten,
    von Menschen auf der Flucht – im Blick und im Herzen.

    Nicht weit weg.
    Nicht theoretisch.

    Angst liegt in der Luft.
    Eine Angst, die, wie ein feiner, giftiger Staub, jede Zukunftserzählung überzieht.

    Und genau in diesen Horizont hinein
    legt Gott uns — keinen Plan — sondern einen Bogen vor die Augen.
    Nicht als Garantie auf Leichtigkeit.
    Sondern als Verheißung seiner Gegenwart.
    Nicht: „Fürchtet euch nicht — es wird nichts passieren.“
    Sondern:
    „Fürchtet euch nicht — ich bin da, was auch geschieht.“


    Was bedeutet dieser Bund — für uns?

    Er bedeutet nicht, dass wir die Augen schließen vor dem, was kaputt ist.
    Im Gegenteil.
    Wer den Regenbogen sieht, sieht die Welt klarer.

    Aber nicht mehr ausgeliefert.
    Nicht mehr ohnmächtig.
    Nicht mehr getrieben von Angst.

    Sondern getragen von einem Grund, den wir nicht selbst legen müssen.

    Noah war nicht stark, weil er keine Angst hatte.
    Er war stark, weil er aus der Dankbarkeit heraus handelte, nicht aus der Panik.

    Vielleicht ist das der stille Ruf dieses Bundes:

    Erkenne das Heilige — mitten in der Zerstörung.
    Atme — bevor du handelst.
    Danke — bevor du begreifst.
    Vertraue — bevor du siehst.

    Gott wartet nicht, bis wir vollkommen sind.
    Er fängt bei uns an — da, wo wir gerade stehen.
    Zwischen Ruinen, Fragen, offenen Enden.

    Unser Auftrag?

    Nicht „Wir retten die Welt.“ ist der Auftrag an uns.
    Sondern:
    „Wir lassen uns rufen — in die Treue Gottes hinein.“

    Und Treue ist das Gegenteil von Resignation.
    Treue ist das Gegenteil von innerem Rückzug.
    Treue ist nicht Starrheit —
    sondern ein Herz, das bleibt, wo andere schon aufgegeben haben.

    Damit beginnt Bewahrung.
    Damit beginnt Heilung.
    Damit beginnt Hoffnung.
    Damit bleiben wir handlungsfähig.


    Vielleicht stehen Sie morgen oder übermorgen auf und spüren die Unsicherheit:
    Wie soll ich leben?
    Wie kann ich das Gute tun?
    Wie kann ich inmitten von Gewalt, Zerstörung, Klimakrise bestehen?

    Die Bibel hat eine Antwort:
    Schauen Sie auf den Regenbogen.
    Er ist ein Zeichen der Treue Gottes.
    Gott verlässt Sie nicht.
    Gott gibt die Erde nicht auf.

    Dann bitte ich Sie:
    Atmen Sie tief durch.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue stärker ist als Ihre Angst.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue stärker ist als die Gewalt dieser Welt.
    Spüren Sie, dass Gottes Treue Ihnen Orientierung gibt:
    nicht durch starre Regeln, sondern durch die Freiheit, die aus der Liebe erwächst.

    Ich wünsche uns, dass wir in dieser Woche den Regenbogen sehen.
    Egal, ob im Himmel, im Mitmenschen oder im eigenen Herzen.
    Damit wir daran erinnert werden, dass Gottes Bund stärker ist als alles Leid,
    dass seine Treue uns trägt,
    dass sein Geist uns Orientierung schenkt.

    So segne Sie der Gott des Lebens,
    der alle Kreatur und alle Menschen liebt,
    der sein Wort hält, der seinen Bund nicht vergisst,
    der Ihnen Kraft, Weisheit und Hoffnung schenkt – heute und alle Tage Ihres Lebens. Amen

  • Das rote Seil

    Das rote Seil

    Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis in Dörnach und Pliezhausen über Josua 2,1-24

    Liebe Schwestern, liebe Brüder

    Können Sie sich noch an unseren Wochenspruch erinnern?

    „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“
    (1. Johannes 5,4)

    Was bedeutet das?
    Wie wirkt sich das aus?
    Wie klingt das in den Geschichten von damals …
    und in unserem Leben heute?

    Jesus erzählt von Rahab

    (Diese Erzählung über Jesus ist rein fiktiv)

    Stellen Sie sich vor:
    Es ist heiß in Galiläa.
    Die Sonne brennt.
    Staub wirbelt auf.
    Kinder rennen durch die Gassen.

    Jesus sitzt unter einem Feigenbaum.
    Seine Jünger um ihn herum.
    Frauen bringen Wasserkrüge.
    Ein alter Mann lehnt sich auf seinen Stab.
    Kinder drängen nach vorn.
    Alle warten, dass Jesus erzählt.

    Denn wenn er redet, dann …
    dann öffnet sich ein Fenster in eine größere Welt

    Da meldet sich eine Frau.
    Fremd, das merkt man sofort.
    Sie spricht:

    „Meister, ich habe von Rahab gehört.
    Sie habe Kundschafter versteckt und sei verschont worden.
    Ist das wahr?
    Und was hat das mit uns zu tun?“

    Die Jünger schauen sich an.
    Eine Fremde.
    Und noch dazu über eine Frau, die man verachtet?
    Jesus lächelt.

    „Ja“, sagt er leise.
    „Es stimmt.
    Rahab lebte in Jericho.
    Eine Stadt voller Angst.
    Sie nahm die Kundschafter auf.
    Versteckte sie auf dem Dach. Unter Flachsstängeln

    Sie log – ja.
    Sie handelte klug, aber riskant.
    Und sie bekannte:
    ‚Euer Gott ist der Gott im Himmel oben und auf Erden unten.‘

    Stellt euch das vor:
    Eine Fremde spricht diese Worte.
    Zwischen Stadt, Volk, Familie – alles auf dem Spiel.
    Und doch vertraut sie.
    Gott rettet sie.

    Die Menschen sehen sie vor sich.
    Am Fenster.
    Das rote Seil in der Hand.
    Zeichen der Rettung.

    Jesus schaut in die Runde.
    „Rahab war keine makellose Heldin.
    Sie log.
    Sie stellte ihr eigenes Leben über die Stadt.
    Doch gerade darin leuchtete ihr Glaube auf.

    Sagt mir:
    Ist Glaube weniger wert, weil er aus einem gebrochenen Leben kommt?
    Oder gerade deshalb so kostbar?“

    Ein Murmeln geht durch die Menge.
    „Aber sie war doch eine Hure …“

    Jesus nickt.
    „Ja.
    Aber Gott übersieht niemanden.
    Sie wird Teil des Volkes.
    Teil des Stammbaums Davids.
    Teil meiner eigenen Geschichte.“

    Stille breitet sich aus.

    Jesus hebt ein Stück Strick auf.
    „Seht ihr?
    So ein Seil hing damals aus Rahabs Fenster.
    Rot – Zeichen der Rettung.

    Inmitten von Angst, Schuld, Lüge, Verrat –
    da kann neues Leben wachsen.

    Dieses Zeichen gilt auch euch.
    Für eure Ängste.
    Für eure Schuld.
    Für eure Hoffnung.“

    Die Frau fragt:
    „Aber Meister, Rahab war doch keine Israelitin.
    Warum wurde sie gerettet?
    Gilt Gottes Rettung auch für Menschen wie mich?“

    Jesus sieht sie an:
    „Frau, dein Glaube ist groß.
    Rahab vertraute –
    und Gott enttäuschte ihr Vertrauen nicht.
    So ist es auch bei dir.
    Wer mit dem Herzen glaubt – wird gerecht.
    Wer mit dem Munde bekennt – wird selig.“

    Die Jünger hören zu.
    Sie ahnen:
    Diese Worte werden nachhallen – noch lange.

    „Seht ihr“, sagt Jesus,
    „Glaube überwindet Mauern.

    Mauern von Städten.
    Mauern von Herkunft.
    Mauern von Vorurteilen.

    Rahab glaubte – und sie siegte.
    Nicht mit Waffen.
    Nicht mit Macht.
    Sondern mit Vertrauen.“

    Die Jünger beginnen zu verstehen:
    Bei Gott gelten andere Maßstäbe.
    Glaube öffnet, wo die Welt verschließt.

    Die Kanaanäerin

    Später begegnete Jesus einer anderen Frau.
    Auch sie am Rand.
    Auch sie bittet – zuerst abgewiesen.
    Aber sie lässt nicht los:
    „Herr, hilf mir!“

    Jesus:
    „Frau, dein Glaube ist groß.“

    Zwei Frauen.
    Fremd. Verachtet.
    Beide fest im Vertrauen.

    Rahabs rotes Seil.
    Die Brosamen unter dem Tisch.
    Kleine Zeichen.
    Große Rettung.

    Der Glaube, der die Welt überwindet

    „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“

    Nicht durch Macht.
    Nicht durch Triumph.

    Sondern Sieg über Angst.
    Sieg über Vorurteil.
    Sieg über Selbstbehauptung.

    • Die Welt sagt: „Fremde sind Bedrohung.“
      Der Glaube sagt: „Im Fremden begegnet mir Gott.“
    • Die Welt sagt: „Dein Ruf ist verdorben.“
      Der Glaube sagt: „Gott sieht dein Herz.“
    • Die Welt sagt: „Es gibt kein Entrinnen.“
      Der Glaube sagt: „Bei Gott ist Rettung.“

    Rahab.
    Die Kanaanäerin.
    Beide zeigen:
    Glaube sprengt Grenzen –
    nicht mit Gewalt –
    sondern mit Vertrauen.

    Grenzen heute

    Unsere Welt ist voll von Mauern.
    Zwischen Nationen.
    Zwischen Arm und Reich.
    Zwischen Männern und Frauen.
    Zwischen Kirchen und Religionen.
    Und auch in uns selbst: Schuld, Angst, Zweifel.

    Doch der Glaube überwindet.
    Nicht, indem er Mauern niederreißt.
    Sondern indem er Herzen öffnet.
    Nicht, indem er Gegner besiegt.
    Sondern indem er Hoffnung schenkt.


    Das rote Seil Rahabs hängt auch heute noch:
    In Flüchtlingslagern.
    In Krankenhäusern.
    In Wohnungen.

    Wo Menschen beten: „Herr, hilf mir.“
    Und Gott hört.

    Der rote Faden

    Durch alle Geschichten zieht sich ein rotes Seil:

    • Für Rahab – Zeichen der Rettung.
    • Für uns – Bild des Glaubens.
    • Für Christus – Zeichen des Kreuzes.

    Nicht wir halten uns selbst.
    Gott hält uns fest.

    „Wer mit dem Herzen glaubt – wird gerecht.
    Wer mit dem Munde bekennt – wird selig.“

    Glauben heißt: Vertrauen wagen.
    Bekennen heißt: Hoffnung nicht verschweigen.

    Wenn ihr Grenzen erlebt – in euch oder zwischen Menschen –
    dann denkt:
    Unser Glaube ist der Sieg.
    Er überwindet die Welt.

    Der Friede Gottes,
    der höher ist als all unsere Vernunft,
    bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

    Amen.

  • Die Auferweckung des Lazarus – Johannes 11, 1-45

    Die Auferweckung des Lazarus – Johannes 11, 1-45

    Predigt am 05.10.2025 in Nehren

    Vor ein paar Tagen habe ich per Whatsapp ein Bild zugeschickt bekommen. Darauf waren nur die drei Worte: „HEUTE SCHON GELEBT?“

    „HEUTE SCHON GELEBT?“
    Die Frage hat mich nachdenklich gemacht.
    Erfahre ich mich als lebendiger Mensch?
    Lustvoll, spontan, initiativ, mit Elan und Frische, in Bewegung, in Entwicklung, in Beziehung zu anderen?

    Oder läuft das Leben an mir vorbei?
    Habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen?
    Vergrab ich mich?
    Habe ich den Lebensmut verloren, sehe keinen Sinn mehr, fühle mich am Ende?
    Habe keine Erwartungen mehr?
    Alles ist mir egal.
    Nach mir die Sintflut.
    Alles stinkt mir.

    „HEUTE SCHON GELEBT?“
    Es gibt nicht nur am Ende des Lebens das Grab auf dem Friedhof.
    Nein, es gibt die Gräber im Leben.
    Wenn das Leben jetzt schon erstarrt, erdrückt, abgestorben ist.
    Wenn das Leben, mitten im Leben, begraben ist.
    In Gräber, in die man sich selber gelegt hat oder in die einen andere hineingedrängt haben.

    Es gibt Situationen, da töten Blicke.
    Wenn uns ein Wort tödlich verletzt, regelrecht umhaut.
    Es gibt das Mundtotmachen unter Menschen, das Totschweigen und die Totenstille.

    Es gibt Beziehungen, die sind so verfahren, so aussichtslos am Nullpunkt, dass der andere für einen „erledigt“ ist, „lebendig tot“.

    Kennen sie die Sprüche:
    Mit dem ist nichts los.
    Der kann sich einbalsamieren lassen.
    Den kannst du vergessen.
    Der ist für mich gestorben.

    Werden da nicht Menschen in Leinentücher eingewickelt und lebendig begraben?
    Bereitet sich da nicht der Geruch des Todes aus, wie bei Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt?

    „HEUTE SCHON GELEBT?“

    Es wird viel gestorben in unserer Welt.
    Natürlich muss jeder/jede von uns sterben.
    Ich denke an die vielen Verkehrstoten, Krebstoten.
    Die Toten in der Ukraine, in Israel, in Gaza, in Afganistan und sonstwo in dieser unseren kriegerischen Welt.

    Mitten im Leben sind wir auf vielerlei Weisen vom Tod umfangen und keine Todesanzeigen machen eine Notiz davon.
    Für mich hat das Tödliche viele Namen und Gesichter.
    Dazu gehört auch der Tod durch Beziehungslosigkeit, der Gefühlsstarre und der Angst.
    Auch dieser Tod schnürt uns die Kehle zu.
    Nimmt uns die Luft zum Atmen.
    Wir kommen uns eingesperrt vor, wie in ein Grab.
    Es ist eng, dunkel und muffig.

    Beim Propheten Ezechiel heißt es:
    „So spricht Gott der Herr, ich öffne eure Gräber und hole euch aus euren Gräbern heraus!“
    Gemeint waren nicht die Gräber auf den jüdischen Friedhöfen in Israel, sondern das Volk in der babylonischen Gefangenschaft.
    Es befand sich in einer hoffnungslosen Lage, eingeschlossen wie in ein Grab, mehr tot als lebendig.
    Doch der Prophet verheißt das beinahe Undenkbare:
    die Rückkehr der Verbannten, die Heimkehr in ihr Land.
    Gott wird sein Volk herausführen wie einst aus Ägypten, es aufrichten und ihm neues Leben schenken.

    Jesus ruft am Grab von Lazarus:
    „Wälzt den Stein weg!“ (Weg mit dem Stein!)
    „Bindet ihn los!“ (Weg mit den Leinentüchern!)
    „Lazarus komm heraus!“ (Heraus aus deiner Totenhöhle!)

    Die Grundbewegung heißt: Heraus aus den Gräbern!
    Aus den Gräbern der Angst, der Resignation, der Enge, der Isolation, der Traurigkeit und der Verzweiflung!

    Die Grundbewegung geht ins Weite, ins Licht, ins Vertrauen, hin zu neuen Ufern und Horizonten.

    Nicht der Tod und auch nicht die vielfältigen Tode vor dem Tod sind das Letzte.
    Wenn wir am Ende sind, ist Gott nicht am Ende.
    Wenn wir nicht mehr weiterwissen, fängt Gott erst an.
    Wennenn wir keine Rettung mehr sehen, ist für Gott noch alles möglich.
    Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages.
    Der Tiefpunkt wird zum Ausgangspunkt für neue Hoffnung.

    Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben.
    Gott ist und bleibt ein Liebhaber des Lebens.
    Er will, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben.

    „LAZARUS KOMM HERAUS“, ruft Jesus
    Setzen wir für Lazarus unseren eigenen Namen ein!
    „Alex“ komm heraus aus der Höhle deiner Selbstverschlossenheit,
    „Berta“ komm heraus aus dem Kreisen um dich selbst.
    „Chris“ komm heraus aus deiner Engherzigkeit.
    „Doris“ komm heraus aus deinem Misstrauen, aus deinen Minderwertigkeitskomplexen oder auch aus deinem Stolz!
    „Egon“ komm aus dem Grab deiner Angst, aus deiner Lieblosigkeit, aus deinen falschen Anhänglichkeiten und Abhängigkeiten, deinen Süchten und deiner Gier!

    Komm heraus!
    Das geht uns alle an.
    Steh auf aus deiner Sünde!
    Werde ein neuer Mensch!
    Lass dich herausholen aus deinen Gräbern.
    Komm heraus ins Leben!

    „WÄLZT DEN STEIN WEG“, ruft Jesus.

    Das dürfen wir auf uns selbst anwenden.
    Was hält mich vom Leben ab?
    Welche Steine liegen auf mir, die hindern, blockieren, mich erdrücken, Leben ersticken?
    Ängste, Hemmungen, die Unfähigkeit, mich selbst anzunehmen?

    „Wälz den Stein weg“
    der Enttäuschung, des Grolls, der Verbitterung.
    „Wälz den Stein weg“ der Sturheit und Hartherzigkeit.
    Bei Gott ist kein Mensch verloren.
    Er schreibt niemanden ab.
    Bei ihm ist die Tür immer offen.
    Auch du hast mehr Spielräume und Möglichkeiten als du denkst.

    Wälz den Stein des Hasses und der Rache weg!
    „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir Erbarmen hatte?“

    Wälz den Stein der Vorwürfe und Vorurteile weg!
    Sag nicht: da ist nichts mehr zu machen.
    Der oder die ist für mich gestorben!
    Ein hoffnungsloser Fall!

    „BINDET IHN LOS“, ruft Jesus.

    Hören wir auch diese Worte auf uns hin!

    Womit verstecke ich mein Gesicht?
    Was schnürt mich ein?
    Wo fühle ich mich gefesselt, innerlich, äußerlich?
    Habe ich mir selbst diese Fesseln angelegt oder andere?

    „Bindet ihn los!“
    Lass los, was dich an deine dunkle Vergangenheit bindet!
    Lass los, was das Leben in dir tötet!
    Leg ab, was deine Gegenwart erstickt, erdrückt!

    Sorge für das, was in dir angelegt ist.
    Pflege es behutsam!
    Lass es blühen, wachsen!
    Werde, was du sein kannst!

    Manchmal ist es sehr mühsam, den Stein wegzuwälzen.
    Es kann sehr schwer sein.
    Allein schaffen wir es nicht.

    Auch die Binden, die einschnüren und fesseln, zu lösen, ist nicht einfach.
    Wie unfrei sind wir oft und können uns nicht selbst befreien.

    „Wälzt den Stein weg! Löst die Binden!“ das sagt Jesus zu den Umstehenden.
    Lazarus ist auf die Hilfe anderer angewiesen.
    Andere müssen den Stein wegwälzen.
    Andere müssen seine Binden lösen.
    Andere müssen ihm helfen, frei zu werden und ins Leben zu kommen.

    Auch wir brauchen den anderen, wir brauchen einander.
    Wir brauchen die Brüder, die Schwestern.
    Wir brauchen geistliche Gemeinschaft, geistliche Begleitung.
    Wir sind aufgerufen, von Jesus gerufen, einander liebevoll von manchmal zentnerschweren Steinen zu befreien.
    Wir können uns gegenseitig liebevoll aus Gebundenheiten und Fesseln zu helfen.
    Damit wir als „Auferweckte“ in dieser Welt miteinander leben können.

    Liebe Schwestern und Brüder!

    Die Auferweckung des Lazarus ist mehr als eine Wundergeschichte. Es ist eine Glaubensgeschichte.
    In ihr geht es nicht darum, dass ein Toter ins Leben zurückfindet, der dann früher oder später doch wieder sterben muss.
    Es geht vielmehr darum, dass ich ins Leben komme.

    Denn „Glauben“ heißt im Johannesevangelium nichts anderes als vom Tod ins Leben kommen.
    Aus den Gräbern herauszukommen, wo vorgewälzte Steine und viele Binden lebensunfähig machen.
    Herauskommen aus dem Grab der Selbstsucht und Gottferne in die Nähe Gottes, in die Freude und Freiheit der Kinder Gottes.
    Das Ziel ist die Beziehung zu dem, der von Grund auf liebt und uns die Schuld vergibt.
    Eine Beziehung zu dem, der nicht nur Liebe hat, sondern Liebe ist.
    Ja, dessen Wesen Liebe ist.

    „Stark wie der Tod“ – stärker als alle Tode – „ist die Liebe!“

    Darum geht es beim Glauben.
    Wer an mich glaubt, sagt Jesus.
    Wer auf Gott vertraut.
    Wer auf ihn seine ganze Hoffnung setzt.
    Der muss nicht bis ans Ende der Tage auf seine Auferstehung warten.
    Der ist im Glauben bereits auferstanden.

    Für den Glaubenden ist der Tod eigentlich gar kein Tod mehr, kein Ende,
    Für den Glaubenden ist der Tod kein Schlusspunkt, eher ein Wendepunkt.
    Vor allem ist er ein alles verheißender Doppelpunkt.
    Denn das Leben, das wir in Christus jetzt schon haben und das er uns schenkt überdauert selbst den Tod.
    Es ist stärker als der Tod.
    Wer an Christus glaubt, hat – nicht wird haben, sondern hat.
    Wer an Christus glaubt, hat Anteil am göttlichen Leben.
    Das ewige Leben hat in ihm schon begonnen.

    Als Marta einwendet: „Ich weiß, dass er auferstehen wird, bei der Auferstehung am letzten Tag“, da sagt Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Jesus korrigiert die Antwort der Marta entscheidend. Und er fügt hinzu: „Glaubst du das?“

    Diese Frage ist ganz wichtig.
    Da wird nämlich die ganze Provokation, die in der Lazarusgeschichte steckt, deutlich.

    „Glaubst du das?“ fragt Jesus auch uns.
    Die Antwort darauf entscheidet, ob wir österliche Menschen sind oder nicht.

    Im Angesicht des Todes, im Umkreis von Grab und Verwesung, heute mitten in den vielen Namen und Gesichtern von Grab und Tod:
    glaubst du, dass Jesus das Leben ist.
    Dass er die Auferstehung aus der Sinnlosigkeit und den Zwängen des Todes in seinen vielfältigen Erscheinungsformen schon jetzt möglich ist und geschieht?

    Diese Frage: „Glaubst du das?“ ruft in Marta ein großartiges Messiasbekenntnis hervor, das sich durchaus mit dem des Petrus messen kann: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“

    Marta gehört zu den Sterblichen, von denen Jesus sagt: „Wer mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der hat (nicht er wird haben, sondern der hat) das ewige Leben. Er kommt nicht ins Gericht, sondern ist (nicht wird, sondern ist) aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.”

    Weil Christus die Auferstehung und das Leben ist, können und dürfen wir jetzt schon als österliche Menschen das Leben wagen und jetzt schon aus der Kraft der Auferstehung leben, die uns einmal – unwiderruflich – ganz erfüllen wird.

    So dürfen wir mit Marta bekennen: „Ja, Herr, ich glaube.“
    Und dieses Bekenntnis bleibt nicht nur ein Wort auf unseren Lippen, sondern wird uns im Glauben geschenkt und im Leben getragen. Christus selbst ist mitten unter uns – nicht fern, nicht entrückt, sondern gegenwärtig.

    Im Abendmahl erfahren wir dies auf besondere Weise:
    Wir empfangen das Brot des Lebens.
    Wir trinken aus dem Kelch des Heils.
    Hier wird die Verheißung Jesu greifbar: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
    Das dürfen wir fühlen und schmecken.

    Wenn wir essen und trinken, dann feiern wir nicht nur eine Erinnerung.
    Wir werden in die Kraft seines Lebens hineingenommends.
    Wir dürfen schon jetzt aus der Fülle seiner Auferstehung leben – und zugleich hoffen wir auf das Mahl in Gottes Reich, wo alle Tränen abgewischt sein werden.

    Darum sind alle zu seinem Tisch eingeladen:
    Menschen, die glauben und zugleich zweifeln.
    Menschen, die suchen und hoffen.
    Wir alle sind von Christus selbst eingeladen, der spricht: „Kommt, denn es ist alles bereit.“

    Amen

  • Jesu Familie -Predigt zu Markus 3,31-35

    Jesu Familie -Predigt zu Markus 3,31-35

    Predigt für 13. Sonntag nach Trinitatis 14.09.2025 in Frickenhausen

    I. Szene – Draußen auf der Straße

    Draußen auf der Straße:

    Ein heißer Nachmittag.
    Die Sonne brennt.
    In der Luft flimmert die Hitze.
    Jeder Atemzug ist schwer.
    Auf der Straße liegt Staub, der bei jedem Schritt aufwirbelt und sich wie ein Film auf Haut und Kleidung legt.

    Vor einem Haus in Kafarnaum steht eine Frau. Maria.
    Ihre Hände spielen unruhig mit dem Saum ihres Mantels.
    Ihre Augen wandern immer wieder zur Tür.

    Neben ihr die Geschwister Jesu.
    Sie sind gekommen, weil sie sich Sorgen machen.
    Maria – die Mutter.
    Sie denkt zurück:
    an das Kind in der Krippe,
    an den Jungen im Tempel,
    an die Hochzeit zu Kana.
    Und jetzt?

    Ihr ältester Sohn ist unterwegs, predigt, heilt und zieht die Massen an.
    Doch zugleich wächst der Widerstand.
    Die Schriftgelehrten halten ihn für gefährlich.
    Die Verwandten hören Gerüchte, dass er „von Sinnen“ sei.

    Vor ein paar Tagen wollte sie zusammen mit ihren anderen Söhnen Jesus mit sanfter Gewalt nach Hause bringen.
    Das war der falsche Weg.
    Das hat Maria eingesehen.

    Nun möchte Maria Jesus sehen.
    Sie will ihn zur Seite nehmen.
    Sie will ihn schützen.
    Sie möcht ihn überreden.
    „Komm doch heim.
    Jesus.
    Wir haben Angst um dich.“,
    das möchte sie ihm sagen.

    2. Szene – Drinnen im Haus

    Drinnen im Haus:

    Es ist stickig, eng.
    Schweiß mischt sich mit dem Duft von frisch gebackenem Brot, der von draußen hereinweht.
    Die Menschen drängen sich dicht an dicht.
    Überall sitzen sie.
    Stehen an den Wänden
    Drängen sich nach vorn.
    Es ist kaum Platz zum Atmen.
    Ellenbogen stoßen in Rippen.
    Ein Kind klettert auf die Schultern des Vaters, um besser sehen zu können.
    Frauen stehen am Rand, ihre Tücher in der Hand, um sich Luft zuzufächeln.

    Alle wollen nahe bei Jesus sein.
    Sie hängen an seinen Lippen.
    Sie greifen nach seinen Händen.
    Sie warten, dass er wieder ein Wort spricht.
    Dass er ein Wunder tut.

    Plötzlich ein Raunen.
    Ein Bote drängt sich durch die Menge.
    Er setzt seinen Ellbogen ein.
    Er kämpft sich vor.
    Sein Atem geht schnell, er ringt nach Luft, als er endlich vor Jesus steht.
    „Deine Mutter und deine Brüder sind draußen.
    Sie fragen nach dir.
    Sie wollen dich sprechen“

    Alle Blicke wenden sich Jesus zu.
    Natürlich.
    Jetzt steht er gleich auf.
    Die Familie geht vor.
    Immer.
    Die Mutter. Die Brüder und Schwestern.
    Das weiß doch jedes Kind in Israel.

    Und dann – Stille.
    Jesus rührt sich nicht.

    Er hebt den Kopf.
    Seine Augen schweifen über die Menge.
    Es sieht Männer und Frauen,
    Arme und Kranke,
    Suchende, Zweifelnde.
    Es sieht Mensch, die gekommen sind, weil sie sich nach Heilung sehnen, nach Hoffnung, nach Wahrheit.

    Da fragt er: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?“
    Und ohne wirklich auf eine Antwort zu warten,
    streckt er die Hand aus und zeigt auf die, die um ihn herum sitzen.
    Auf die Jünger, die Zuhörer, die Frauen und Männer am Rand.

    Und er beantwortet seine Frage selbst:
    „Seht: Das hier ist meine Mutter und meine Brüder.
    Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter.“

    3. Szene – Der Schock

    Ein Schock geht durch die Menschen.
    Es ist, als ob jemand einen Stein ins Wasser geworfen hätte.
    Ein Schock, der Wellen durch die Menge treibt.
    Köpfe fahren herum.
    Augen weiten sich.
    Ein Murmeln geht durch die Reihen:
    „Hat er das wirklich gesagt?“
    Ein Aufschrei im Inneren:
    „Das kann er nicht gesagt haben!“

    Es ist ein Skandal.
    Die jüdische Tradition kennt nichts Wichtigeres als die Familie.
    „Ehre Vater und Mutter“ – das vierte Gebot.
    Ein Gebot, das wie ein Fundament das Haus trägt.

    Und Jesus?
    Er stellt es infrage.

    Der jüdische Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin stellt fest:
    Jesus beleidigt mit diesen Worten den Familiensinn der Juden.

    Und ehrlich – uns verletzt es auch.

    Stellen sie sich vor – ihr Sohn, ihre Tochter stünde hier und würde öffentlich sagen:
    „Das ist nicht meine Mutter.
    Das ist nicht mein Bruder.
    Meine wahre Familie sitzt um mich herum.“

    Wer von uns würde das ertragen?
    Wir wären enttäuscht.
    Wir wären verletzt.
    Wir wären vielleicht verzweifelt.

    Famile, das ist doch das Heiligste.
    Oder?
    Blut ist dicker als Wasser.
    Die Mutter, die ihr Kind trägt.
    Der Vater, der arbeitet, um das Kind groß zu ziehen.
    Die Geschwister, die sich streiten und doch zusammenhalten.

    4. Szene – Die Härte

    Wir könnten jetzt sagen:
    „Das geht nicht.
    Jesus ist hier zu hart.
    Das akzeptieren wir nicht“

    Und doch – diese Worte stehen da.
    Und nicht mur bei Markus.
    Auch Matthäus und Lukas berichten es
    Fast wortgleich.
    Sie alle wollten, dass wir es hören.

    Matthäus fügt hinzu:
    „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ (Mat. 10,37)
    Noch härter Lukas:
    „Wer nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder hasst, kann nicht mein Jünger sein.“ (Luk. 14,26)

    Das ist hart.
    Diese Worte brennen.
    Sie tun weh.
    Ich möchten am liebsten sagen: „So etwas wollen wir von Jesus nicht hören.“

    Aber warum haben die Evangelisten diese Worte nicht einfach weggelassen?
    Warum stehen sie da?
    Mitten in der Heiligen Schrift?
    Mitten in unserem Predigtplan?
    Heute, an diesem Sonntag?

    Jesu Worte sind wie ein Messer, das durch alte Bindungen schneidet.
    Sie treffen ins Herz.
    Sie tun weh.

    Und doch öffnen sie auch etwas – wie ein Schnitt, der Luft an eine Wunde bringt.
    Jesus übertreibt.
    Radikal.
    Damit wir aufwachen.

    5. Szene – Der Konflikt in uns

    Jesus mutet uns etwas zu.
    Etwas, was wir nicht gerne hören möchten.
    Er will uns aufrütteln.
    Er zwingt uns, über die Reihenfolge im Leben nachzudenken.

    Er sagt:
    „Erst Gott – dann die Familie.
    Erst der Wille des Vaters.
    Dann das, was die Menschen von uns wollen.

    Das ist kein Aufruf zur Lieblosigkeit.
    Es ist ein Aufruf zur Klarheit.
    Zur Freiheit.

    Es ist, als ob Jesus uns einen Spiegel hinhält – und plötzlich sehen wir nicht nur unser Gesicht, sondern auch die Fesseln, die uns halten.

    6. Szene – Der Spiegel

    Schauen wir in den Spiegel.
    Ganz ehrlich.

    Wir alle leben in „Familen“.
    Nicht nur in der biologischen.

    Es gibt die Familie der Firma, die uns sagt:
    „So musst du arbeiten.
    So musst du funktionieren.“
    Da ist dieser Blick auf die Stempeluhr, die uns sagt, wann wir wertvoll sind.

    Es gibt die Familie der Nachbarschaft.
    Da sind die Gardinen, die sich heben, wenn jemand anders lebt, anders liebt, anders glaubt.
    „So lebt man hier.
    So feiert man hier.
    So redet man hier.“

    Es gibt die Familie der Schule.
    „So ist unsere Klasse.
    So gehen wir miteinander um“

    Und es gibt die Familie der Kirche.
    Da ist das ehrwürdige Gesangbuch, das zu Fesseln werden kann, wenn es nicht mehr zum Singen, sondern nur noch zum Bewahren dient.“

    Und wir kennen den Druck:
    „Sei so wie wir.
    Mach, was wir erwarten.
    Sei loyal.
    Sei angepasst.“

    Dagegen sagt Jesus:
    „Hör zuerst auf den Willen Gottes.“

    Das ist unbequem.
    Das kann isolieren.
    Das kann kosten.
    Das bedeutet:
    Manchmal musst du Nein sagen.
    Nein zu den Erwartungen der Eltern.
    Nein zum Druck der Firme.
    Nein zu den stillschweigenden Regeln der Gesellschaft.
    Nein sogar zur eigenen Gemeinde, wenn sie dich vom Weg abbringt.

    7. Szene – Ein Zeuge: Friedrich Spee

    Einer, der dieses Nein gelebt hat, war Friedrich Spee – ein Jesuit im 17. Jahrhundert.
    Er sah Frauen, die als Hexen angeklagt wurden.
    Die Frauen wurden gefoltert, gebrochen, verurteilt, verbrannt.
    Und er wusste: Das ist nicht der Wille Gottes.

    Die „Famile Kirche“ schwieg.
    Die „Famile Gesellschaft“ jubelte.
    Alle waren überzeugt: Das ist Recht und Ordnung.

    Aber Fiedrich Spee wagte das Ungeheuerliche:
    Er Widersprach.
    Er begleitete die Frauen auf ihrem Weg zum Richtplatz.
    Er hörte ihre Schreie.
    Er wagte es, ein Buch zu schrieben – die Cautio criminalis.
    Ein Aufschrei gegen Folter und die Hexenverbrennung.
    Unter falschem Namen, denn es war sehr gefährlich gegen den Chor seiner Zeit zu schreiben.

    Seine Stimme war leise – aber sie durchbrach den Chor des Schweigens.
    Wie eine einzelne Flamme inmitten einer Finsternis.

    Als der Autor doch bekannt wurde, musste Friedrich Spee mit den Konsequenzen leben.
    Die Kirche verstieß ihn.
    Seine Mitbrüder entzogen ihm die Professur.

    Doch Friedrich Spee war frei.
    Frei gegenüber der Tyrannei falscher Familien.
    Frei, weil er wusste:
    Meine wahre Familie ist die, die den Willen Gottes tut.

    Und er schrieb Lieder, die wir bis heute singen:
    „O Heiland reiß die Himmel auf.“
    „Zu Bethlehem geboren.“
    Lieder, in denen eine Freiheit erklingt, die stärker war, als die Fesseln seiner Zeit.

    8. Szene – Was heißt das für uns?

    Was heißt es also, Jesus zu folgen?

    Zuerst, es heißt nicht, die Familie gering zu schätzen
    Sondern es heißt:
    Sich nicht gefangen nehmen zu lassen.

    Nicht gefangen in Erwartungen, die uns knechten.
    Nicht gefangen in Traditionen, die uns fesseln.
    Nicht gefangen in Angst, die uns lähmt.

    Es heißt: freu zu werden.
    Frei für den Willen Gottes.
    Frei für eine Famile, die größer ist als Blut und Herkunft.
    Frei für eine Gemeinschaft, die keine Grenzen kennt:
    Brüder und Schwestern aus allen Völkern, allen Sprachen, allen Kulturen.

    Und genau hier trifft sich unser Predigttext mit dem heutigen Sonntag.
    Denn der 13. Sonntag nach Trinitatis stellt uns die Frage:
    Für wen bin ich der Nächste?

    Jesu neue Familie entsteht da, wo Menschen den Willen Gottes tun – und das bedeutet:
    den Nächsten sehen.
    Nicht wegschauen, wenn jemand leidet.
    Nicht sagen: „Das geht mich nichts an.“
    Sondern mit Liebe handeln – so wie der Barmherzige Samariter.

    Und das ist radikal.
    Es ist, als ob Jesus die Fenster unserer engen Häuser aufstößt – und frische Luft hereinweht.

    Und es ist radikal inklusiv.
    Denn es heißt:
    Jeder und Jede kann Teil von Jesu Familie werden.
    Niemand bleibt draußen – es sei denn aus eigenem freien Willen.

    9. Szene – Die Einladung

    Und so ist es heute wie damals in Kafarnaum.
    Jesus sitzt mitten unter uns.
    Er schaut uns an – in die Gesichter, die hier im Kreis um ihn sitzen.
    Er breitet seine Hand aus und sagt:

    „Siehe, das ist meine Mutter.
    Das ist meine Schwester.
    Das ist mein Bruder.

    Wenn du nach dem Willen Gottes fragst,
    wenn du ihn suchst,
    wenn du ihn lebst,
    dann gehörst du zu meiner Famile.

    Dann bist du nicht allein.
    Dann bist du getragen.
    Dann bist du frei.
    Und wirst zum Nächsten – für die, die dich brauchen.“

    10. Schluss

    Friedrich Spee nannte eines seiner Gedichte „Trutznachtigall“ – trotzige Nachtigall.

    Eine Nachtigall,
    sie singt, obwohl es Nacht ist.
    Sie jubelt während die Welt im Dunkeln lieg.
    Ihr Lied ist zart und zugleich trotzig stark.

    So klingt die Familie Jesu.
    Ein Gesang, trotzig, gegen die Angst.
    Ein Gesang gegen die Enge,
    gegen die Nacht.

    Wir bilden eine Gemeinschaft, Jesu Familie.
    Eine Familie, die frei macht von allen falschen Familien.
    Eine Familie, die uns trägt –
    und die uns sendet, Nächste zu sein für andere.

    Heute.
    Und in Ewigkeit.
    Amen

  • Predigt zu Philipper 3,4b–14 aus der Sicht eines Prätorianers erzählt

    Predigt zu Philipper 3,4b–14 aus der Sicht eines Prätorianers erzählt

    Predigt zu Philipper 3,4b–14 am 9. Sonntag nach Trinitatis in der Dettenhäuser Johanneskirche am 16.08.2025

    Hören wir auf unseren heutigen Predigttext aus dem Brief an die Philipper 3,4b-1

    Einleitung

    Liebe Schwestern, liebe Brüder,

    wir haben Worte des Paulus gehört – geschrieben aus dem Gefängnis.
    Er schreibt sie an die Gemeinde in Philippi, doch er schreibt sie auch mit Blick auf sich selbst: seine Geschichte, seinen Glauben, seine Hoffnung.
    Und er tut das nicht mit Stolz, sondern mit einer tiefen Demut, aus der eine große Kraft spricht.

    Stellen wir uns vor:
    In der Stille dieser Zelle –
    zwischen Wänden aus Stein und unter den Blicken römischer Soldaten –
    sitzt einer und schreibt und redet.
    Und vielleicht ist da einer und hört ihm zu.
    Ein Prätorianer.
    Einer der römischen Elitewache.
    Ein Mann, geschult in Stärke, Disziplin, Gehorsam.
    Er hat Paulus bewacht.
    Er hat gesehen, gehört, gestaunt.
    Und vielleicht: begonnen zu glauben.

    Die folgende Predigt ist ein Versuch, durch seine Augen zu sehen.
    Ein römischer Soldat,
    der uns erzählt –
    von seinem berühmten Gefangenen.
    Von einem, der in Ketten frei war.
    Und von dem Gott,
    der nicht auf Leistung schaut,
    sondern aufs Herz.

    Hören wir ihm zu.


    I. Mein Name tut nichts zur Sache

    Mein Name tut nichts zur Sache.
    Ich war Prätorianer.
    Einer von vielen.
    Einer, der Wache hielt.
    Auch bei diesem merkwürdigen Gefangenen.
    Paulus, so nannte er sich.

    Ich habe viele bewacht.
    Manche weinten.
    Manche fluchten.
    Manche versuchten zu bestechen.
    Aber dieser?
    Er schrieb Briefe.
    Er betete. Laut, manchmal. Leise, oft.
    Und er sprach. Mit uns. Mit mir.

    Er sprach, als hätte er Zeit.
    Als hätte er Hoffnung.
    Als wäre er frei.

    II. Der Mann mit dem Feuer in den Augen

    Am Anfang lachte ich darüber.
    Ein Mann, gefesselt, mit Ketten an den Handgelenken – und doch voller Zuversicht?
    Ich hatte viele Gefangene gesehen.
    Aber keiner war wie er.

    Er sprach von einem Mann namens Jesus.
    Nicht wie ein Lehrer von seinem Meister.
    Nicht wie ein Fan von seinem Idol.
    Sondern wie einer, der ihm begegnet war. Wirklich begegnet.

    Er sagte: Alles, was ich früher war – mein Wissen, meine Herkunft, mein Eifer – es zählt nicht mehr.
    Früher war ich stolz auf meine Herkunft. Auf mein Gesetzeswissen. Auf meine religiöse Reinheit.
    Jetzt aber weiß ich: Es hat mich von dem ferngehalten, der mich liebt.

    Und dann sagte er diesen Satz: „Was mir Gewinn war, das ist mir nun Schaden.“

    Ich verstand das nicht gleich.
    Aber ich spürte: Da hatte einer erkannt, dass man auf dem falschen Weg gewesen sein kann – mit besten Absichten.
    Und dass man umkehren kann.
    Nicht aus Schwäche.
    Sondern weil man der Wahrheit begegnet ist.
    Und: Dass es nie zu spät ist.

    Das traf mich.
    Denn auch ich trug Dinge mit mir.
    Verlorenes.
    Versäumtes.

    III. Ein neues Ziel

    Er redete von einer Gerechtigkeit, die nicht aus Leistung kommt, sondern aus Vertrau
    Nicht durch Erfüllung des Gesetzes, sondern durch Glauben.
    Das war neu für mich.
    Radikal neu.

    In meiner Welt galt:
    Wer stark ist, hat recht.
    Wer schwach ist, verliert.

    Doch er sagte:
    Gott sucht nicht die Starken.
    Er sucht die, die loslassen können.

    Er sprach von einem neuen Ziel: Jesus erkennen.
    Nicht nur mit dem Verstand – sondern mit dem Herzen.
    Mitten im Leben und deshalb auch im Leiden.

    „Ihn erkennen“ – das war für ihn mehr als Wissen.
    Es war Beziehung. Nähe. Trost.

    Vielleicht ist das das größte Geschenk, das ich aus diesen Tagen mitnahm:
    Dass Gott nahe kommt.
    Auch mir.
    Auch wenn ich nichts vorzuweisen habe.
    Dass ich nichts beweisen muss.
    Dass ich gehalten bin.

    IV. Ich erinnere mich an seine Hände

    Seine Hände zitterten manchmal beim Schreiben.
    Er war nicht jung.
    Nicht stark.
    Und doch – etwas an ihm war unerschütterlich.

    Wenn er betete, schloss er die Augen, als würde er wirklich jemandem gegenüberstehen.
    Wenn er von Christus sprach, wurde seine Stimme weich. Und fest zugleich.

    Ich begann, ihm Fragen zu stellen.
    Über Gott.
    Über Schuld.
    Über Hoffnung.

    Er hörte zu.
    Er war nicht aufdringlich.
    Aber er ließ mich spüren: Ich bin gemeint.

    Das war neu für mich.
    Dass einer wie ich – mit Blut an den Händen, mit Mauern im Herzen –
    von Gott gewollt sein sollte.

    V. „Ich jage ihm nach“

    Einmal sprach er lange über einen Gedanken, der ihn umtrieb:
    „Ich jage ihm nach.“

    Er meinte Jesus.
    Nicht so, als wäre Jesus fort.
    Sondern als wäre da ein Ziel, ein Ruf, ein Licht – dem er folgen will.

    Nicht, weil er Angst hatte.
    Sondern weil er geliebt war.
    Und dieser Liebe ganz gehören wollte.

    Ich dachte: „Wie kann einer, der eingesperrt ist, vom Laufen sprechen? Vom Rennen?“
    Aber ich verstand: Es ist ein innerer Weg.
    Ein Weg, den ich nie aufhören werde zu gehen.
    Auch dann nicht, wenn ich falle.

    VI. Was hinter mir liegt

    „Ich vergesse, was hinter mir liegt“, sagte Paulus.
    Nicht weil es ihm egal war. Sondern weil er es Christus anvertraute.

    Er sprach nicht viel über seine Vergangenheit.
    Aber wenn er es tat, dann mit Tränen.
    Und mit der Hoffnung, dass nichts verloren ist, was Gott berührt hat.

    Ich begann, über mein eigenes Leben nachzudenken.
    Was ich verdrängt hatte.
    Was mich hart gemacht hatte.
    Und was ich loslassen müsste – wenn ich frei werden wollte.

    VII. Was vor mir liegt

    Er sprach vom Ziel.
    Vom Preis der himmlischen Berufung.
    Nicht als Belohnung für Tüchtige.
    Sondern als Zusage für die, die Christus vertrauen.

    Es war kein Leistungsdenken mehr in ihm.
    Kein „Ich muss…“ – sondern ein „Ich darf…“

    Ich glaube, das hat mich am meisten bewegt.
    Dass dieser alte, gefesselte Mann sagen konnte: „Ich bin unterwegs.“

    Und dass er dabei Frieden ausstrahlte.
    Nicht Gleichgültigkeit, sondern Zuversicht.

    VIII. Ich verstand nicht alles. Aber ich hörte

    Ich verstand nicht alles, was er sagte.
    Aber ich hörte.
    Immer wieder. Immer tiefer.
    Und eines Tages spürte ich: Etwas in mir verändert sich.
    Nicht plötzlich.
    Nicht dramatisch.
    Aber leise.
    Wie Tau auf trockenem Boden.

    Ich begann zu glauben,
    dass dieser Jesus auch für mich gekommen war.
    Dass es Gnade gibt.
    Nicht als Idee.
    Sondern als Hand, die mich hält.

    Vielleicht ist das die größte Wahrheit, die ich lernte:
    Dass Gott mir begegnet – nicht am Ende, wenn alles gut ist –
    sondern auf dem Weg.
    Mitten im Chaos.
    Mitten in der Frage.
    Mitten im Jetzt.

    IX. Und heute?

    Ich weiß nicht, was aus Paulus wurde.
    Man sagte, er sei nach Rom gebracht worden.
    Später hörte ich: Er sei getötet worden.

    Aber seine Worte – sie leben in mir weiter.
    Sie tragen mich.

    Ich habe nicht alle Antworten.
    Aber ich habe eine Richtung.

    Ich weiß jetzt:
    Es zählt nicht, was ich war.
    Oder was ich geleistet habe.
    Sondern wem ich gehöre.
    Und wer mich liebt.

    Paulus hat es uns gezeigt:
    Der Weg ist offen.
    Für jeden.

    Und Jesus Christus?
    Er ist schon unterwegs.
    Auf dem Weg zu uns.

    Amen