Jesus und Nikodemus
Predigt zu Johannes 3,1–8
Nachtgespräch
Es ist eine der Nächte, die man nicht vergisst.
Ich stelle mir eine laue Sommernacht vor. Zwei Freunde sitzen zusammen auf der Terrasse hinter dem Haus. Jeder mit einem Glas Rotwein vor sich auf dem Tisch. Sanft streicht der Wind durch die Zweige. Der Mond wirft sein silbernes Licht auf die Welt. Am Himmel glänzen die Sterne.
Die beiden Männer reden.
Je später die Stunde, umso größer werden die Dinge, über die sie sprechen.
Es sind die Dinge hinter den Dingen, die sie ergründen wollen:
Woher komme ich?
Wohin gehe ich?
Wie kommt Leben in mein Leben?
Die großen Themen, die großen Fragen des Lebens, brauchen manchmal die Nacht, um ans Licht zu kommen.
Es ist eine Nacht, die man nicht vergisst. Die Gespräche rühren an die Geheimnisse des Lebens.
Sie sind kostbar, die Geheimnisse und die Gespräche!
Auch wenn man Jahre später nicht mehr genau weiß, was eigentlich geredet wurde, das weiß man noch:
Es ist wichtig gewesen, ungeheuer wichtig.
Einzelne Worte und Bilder tauchen wieder auf, schwebend wie der Wind.
Die Erinnerung daran, wie ich mich gefühlt habe in so einer Nacht, taucht wieder auf.
Es begleitet mich bis heute.
Da war eine Ahnung vom Leben hinter dem Leben.
Sympathischer Sympathisant
Nikodemus kommt zu Jesus in der Nacht.
Eine Nacht, die auch das Johannesevangelium nicht vergisst.
Zwei Mal wird es uns, seine Leserinnen und Hörer, später daran erinnern (1).
Damit wird unterstrichen:
Es ist wichtig gewesen, ungeheuer wichtig, was da geredet wurde.
Nikodemus ist nicht irgendwer.
Er ist eine prominente Persönlichkeit, Mitglied des Obersten Gerichts.
Warum kommt er in der Nacht?
Scheut er das Licht der Öffentlichkeit?
Will er mit Jesus allein sein und ungestört mit ihm »von Lehrer zu Lehrer« (2) reden?
Weiß er um die besondere Qualität der Nachtgespräche?
Alles ist möglich. Das darf auch so stehen bleiben.
Es steht uns nicht zu darüber zu urteilen, ob Nikodemus eher Tadel oder Lob verdient.
Auf jeden Fall kommt er voller Bewunderung: »Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust.«
Nikodemus ist ein Sympathisant und selber sympathisch offen.
Er blufft nicht.
Er gibt Jesus die Ehre und Würde, die ihm zustehen.
Er weiß, dass Jesus etwas Besonderes ist und etwas Besonderes bringt – »von Gott«.
Das führt direkt zum Kern der Sache.
Antwort auf eine ungestellte Frage
Die beiden Männer reden in der Nacht.
Sie reden über die großen Fragen.
Aber sprechen sie wirklich miteinander?
Oder reden sie aneinander vorbei? Diesen Eindruck kann man ja schon haben.
Denn Jesus antwortet dem Nikodemus: »Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.«
Ist das eine Antwort auf die würdigende Gesprächseröffnung des Nikodemus?
Und auf welche Frage antwortet Jesus?
Nikodemus hat doch gar keine Frage gestellt!
Oder antwortet Jesus doch?
Auf eine heimliche, leise Frage, die in den Worten von Nikodemus steckt.
Diese heimliche Frage lautet:
Wenn du ein Lehrer von oben bist.
Wenn du von Gott kommst und göttliche Zeichen in diese Welt setzt – was wird denn nun anders werden?
Denn: Wenn einer von Gott kommt. Wenn einer Gott in diese unsere Welt hineinträgt, dann muss die Welt doch anders werden!
Dann muss es doch noch einmal neu und anders anfangen in ihr.
Dann muss diese dunkle Welt doch hell werden.
Dann muss sich das Unverständliche doch klären und das Elend ein Ende nehmen.
Dann muss es doch auch bei mir noch einmal neu und anders anfangen.
Dann muss auch mein Leben hell und klar und liebevoll werden!
Da sind Nikodemus und Jesus nun ganz nah beieinander.
Und ich glaube, wir sind da auch ganz nah dabei.
Alles auf Anfang?
Jesus antwortet sehr wohl auf diese leise, versteckte Frage.
Aber was für eine Antwort gibt er!
>>Nur wer von neuem, von oben her geboren wird, kann das Reich Gottes sehen.
Der sieht und spürt, wie Gott hier und jetzt wirkt.
Für den ist Gott da, in der Welt und hinter der Welt. <<
Wir suchen unseren Weg in der Welt.
Wir suchen seine, Gottes Zeit in unseren Stunden.
Wir suchen Leben, wahres Leben in all dem Vorläufigen, das durch unsere Hände geht.
Von neuem geboren werden: wie schön wäre das!
Noch einmal völlig neu anfangen dürfen. Ohne die Last meiner bisherigen Lebensgeschichte.
Das Leben noch einmal von vorne leben ohne die schicksalhafte Bindung an die eigene Herkunft.
Denn: »Familie ist Schicksal.
– Gewiss, vieles von dem, was uns glücklich oder unglücklich machen kann, haben wir selbst gewählt:
Studium, Beruf, Ehepartner.
Aber die folgenreichste Quelle von Glück oder Unglück, die Familie, in die wir hineingeboren wurden, haben wir uns nicht ausgesucht.
Familie ist nicht hintergehbar, nicht korrigierbar.
Keiner und keine wurde gefragt.
Mit diesem Gepäck treten wir an, mehr noch: Wir selbst sind dieses Gepäck.« (3)
Wie schön wäre es, zum allerersten Anfang zurückzukehren. Die Reset-Taste zu drücken. Alles auf Anfang zu setzen.
Das ganze System »Leben« neu zu starten!
Aber das geht nicht, meint Nikodemus. Kein Mensch kann das. Das kann nicht einmal Gott.
Und wenn doch, dann wäre das neue Leben doch wie das alte, nur anders.
Viele von uns sehnen sich in diesem Frühsommer ja auch gar nicht so sehr nach dem großen Neuanfang.
Sondern wünschen sich, einfach wieder zur »Normalität« zurückkehren zu können.
Viele wünschen sich, dort anknüpfen zu können, wo und wie sie sich vor gut einem Jahr befunden haben.
Andere wünschen sich, dass es nun nach den Erfahrungen der vergangenen Monate doch noch einmal neu und anders anfängt.
Bei uns, zwischen uns und in dieser Welt.
Wir haben in der letzten Zeit viel von »Verwundbarkeit« und »Sterblichkeit« gehört und erfahren.
Dazu bilden Jesu Worte einen hilfreichen und notwendigen Kontrast:
>>Du bekommst das Leben noch einmal neu geschenkt.<<
Die Philosophin Hannah Arendt sieht in einem Neuanfang immer ein Wunder.
Sie schreibt: »Der Neuanfang […] ist immer das unendlich Unwahrscheinliche, er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.« (4)
Verachtet das >>Fleisch<< nicht!
Auch die Geburt »aus Fleisch« ist ein Wunder.
Gerade hat eine Bekannte ein Kind geboren.
Sie hat es lange, sehnlichst erwartet.
Sie hat es mit Dankbarkeit zur Welt gebracht.
Es ist ein Kind der Liebe.
Nicht nur eine Geburt aus dem Fleisch.
»Geist« und »Leib« dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Das hat schon zu viele Opfer gekostet.
Auch der Bereich unserer Körperlichkeit – Haut und Knochen und Muskeln und Organe – verdanken wir Gott.
Und auch der »Geist« lässt sich spüren, wie er im Alltag des Lebens wirkt und wir ihn körperlich wahrnehmen:
»Du hörst sein Sausen wohl.«
Noch einmal anders »zur Welt« kommen
Gottes Geist würdigt das Leben.
Er heilt es und eröffnet ihm einen neuen Horizont.
Ich sehe plötzlich, was ich bisher nicht gesehen habe.
Ich sehe mich selbst anders.
Ich merke: Ich bin nicht in meiner Unzulänglichkeit gefangen.
Gewiss: Sie gehören zu mir.
Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht, meine ganze Ohnmacht, meine Verzagtheit:
Sie gehören zu mir.
Aber ich gehöre ihnen nicht.
Ich gehöre woanders hin.
Ich gehöre zur Familie Gottes.
In dieser Familie stehen Gott als Vater, Christus als Sohn und wir als Kinder in einem Verhältnis zueinander, das nicht enger gedacht werden kann. Und das trotzdem Raum zur Entfaltung lässt, einen »Atemraum der Freiheit« (6).
So komme ich noch einmal anders »zur Welt«, sozusagen mit dem Blick von oben her.
Mein Leben öffnet sich »wie eine Blüte«.
Nikodemus sagt: Ich kann nicht.
Und er hat Recht.
Niemand kann sich das selber geben.
Jesu Antwort heißt deshalb auch nicht: Du musst dich ändern. Du musst dein Leben ändern.
Jesus sagt: Gott kann.
»Ein Wind wird kommen …«. »Von oben her« wird es dir widerfahren.
Du kannst die Antwort nicht selbst finden.
Du kannst sie dir schon gar nicht selber geben.
Die Antwort muss dich finden, sie muss zu dir kommen.
Und sie kommt zu dir!
Denn das ist die Antwort:
Sei bereit gefunden zu werden,
sei bereit berührt zu werden,
das Sausen zu hören.
Der Wind,
der Geist,
das Feuer ist da.
Wer sich von der Antwort finden lässt,
wer sich berühren lässt,
dem verwandelt sich die Frage in Staunen:
Dass das geschehen kann!
Das ist Leben.
Wahres Leben.
Neu geschenktes Leben in all dem Vorläufigen.
Seine Zeit in meinen Stunden.
Gottes Reich!
Amen.
(1) Siehe Johannes 7, 51; 19, 39 (2) Johannes 3, 2.10 (3) .Jens Jessen, Das wächst sich nicht aus, in: DIE ZEIT, Nr. 4 vom 21. Januar 2021, Seite 33. (4) Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 7. Aufl., München 2008, Seite 216f. (5) Zit. n. Maren Gottschalk, Wie schwer ein Menschenleben wiegt: Sophie Scholl. Eine Biografie, München 2020, Seite 176. (6) Hilde Domin, Das Gedicht als Augenblick von Freiheit, München – Zürich 1988, Seite 48. |
- Die schlechten Hirten und der rechte Hirte
- Vom verlorenen Garli, Schafen, Silberstück und anderen Dingen – Predigt zu Lukas 15,1–10