Alles hat seine Zeit
Predigt zu Kohelet (Prediger) 3, 1-8 am 31.12.2023 in der Schlaitdorfer St. Wendelin-Kirche und in der Altenrieter St. Ulrich Kirche
Kohelet 3, 1–8 nach der Lutherübersetzung:
„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“
Ein Jahr zu Grabe tragen
Diese poetischen Zeilen aus dem Buch Kohelet berühren mich immer wieder aufs Neue.
Mit nur wenigen Worten werden vom Geboren-Werden bis zum Sterben alle wesentlichen möglichen Erlebnisse eines menschlichen Lebens benannt.
Wenn man so will, tragen wir heute ein Jahr zu Grabe.
Wir versammeln uns, um Rückschau zu halten, mit manchem abzuschließen und auch wieder nach vorn zu schauen.
Jeder von uns hat das Jahr 2023 anders erlebt.
War es für uns persönlich eher ein Jahr des Lachens, Tanzens und des Friedens
oder eher des Weinens, Klagens und des Streits?
Das Jahr 2023
Ich kann mich dieses Jahr an viele wunderbare Momente erinnern.
Momente des Pflanzens, des Heilens, des Liebens.
Aber wenn ich auf 2023 schaue, dann verharren meine Augen eher auf den Worten Sterben, Töten, Weinen.
Der Angriff auf Israel am 7. Oktober verschluckt alles davor und danach in meiner Erinnerung an dieses Jahr wie ein schwarzes Loch.
Ich bin immer noch erschüttert von der Brutalität dieses Angriffs.
Und das Leid der Bevölkerung in Gaza, durch die Hamas und die Kriegshandlungen.
Es ist, als würde ich in einen Abgrund schauen.
Und ich frage mich:
Kann das so gemeint sein, dass eben alles seine Zeit hat, das Sterben, Töten, Weinen und wir Menschen nur ohnmächtig dem Lauf der Zeit zuschauen?
Nein.
Im Buch Kohelet wird nicht unsere Ohnmacht allein beschrieben.
Hier wird mit einem nüchternen Blick auf die gefallene Welt geschaut, in der wir leben.
Auf unsere Welt, eben auch mit all dem, was sie so kaputt erscheinen lässt.
Zugleich sind wir auch von Gott berufen, diese Welt zu gestalten und die Möglichkeiten unseres Handelns auszuschöpfen.
Das Pflanzen, das Heilen, das Zunähen, das Herzen, das Reden.
Das sind Dinge, die wir mit Gottes Hilfe tun können und die in unserer Macht stehen.
Ich bin dankbar für alle Menschen, die sich für echten Frieden und Versöhnung einsetzen, die den Dialog mit Menschen anderer Kulturen, Religionen und Weltanschauungen suchen.
Ich bin dankbar für alle, die über den Zaun des eigenen Lebens hinüberschauen und mit den Nachbarn ins Gespräch kommen.
Wir sind nicht machtlos.
Die letzten Worte des obigen Abschnitts aus dem Buch Kohelet lauten eben:
„Friede hat seine Zeit!“
Dieser Friede kann im Kleinen beginnen.
Dieser Friede kann nah bei uns beginnen.
Ich bin hoffnungsvoll und kann mir sehr gut vorstellen:
dass heute jemand durch einen Neujahrsgruß glücklicher wird;
dass heute jemand genau die Umarmung bekommt, die er vermisst hat;
dass Gott im Abendmahl die Wunde eines Menschen heilt;
dass ein Lied eine vergossene Träne trocknet.
Die Zeit des Friedens kann ihren Beginn im Kleinen haben.
Diese Hoffnung habe ich und gebe ich nicht auf.
Auch wenn es manches Mal Mühe kostet und auch umsonst sein kann.
Fröhlich sein und sich gütlich tun
Im Buch Kohelet 3,9–15 steht weiter:
„Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen.
Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.
Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll.
Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.“
Freude am Genuss
Aus diesen Versen spricht die Erfahrung, dass es weise ist, sich die Grenzen der eigenen Möglichkeiten bewusst zu machen.
Die Konsequenz ist niemals, dass wir die Hände den Schoß legen sollen.
Sondern dass wir das Leben als ein Geschenk aus Gottes Hand annehmen und wir es in vollen Zügen genießen.
„Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Die Freude am Leben ist auch eine Gabe Gottes, die wir voll ausschöpfen können.
Udo Lindenberg singt in einem seiner zahlreichen Hits: „Nimm dir das Leben! …und lass es nicht mehr los.“
Ich denke, Udo Lindenberg hat vielleicht unbewusst viele Lebensmaximen des Buchs Kohelet übernommen.
Diese Sehnsucht nach Leben, nach Genuss, nach Essen, Trinken und Lieben ist zutiefst menschlich, und ihre Erfüllung hat etwas Göttliches.
Wie wichtig das Essen ist, wurde mir vor kurzem in einer Reportage über die von der Hamas entführten Kinder bewusst.
Die israelischen Soldaten, die die Kinder in Empfang nehmen, bekommen für den Umgang mit den traumatisierten Kindern einen Handlungsleitfaden.
Dieser Leitfaden sieht vor, dass die Soldaten zunächst durch einfache Sätze Sicherheit vermitteln:
„Ich bin hier, um mich um dich zu kümmern.“
Und gleich nach der medizinischen Versorgung sollen die Kinder ihr Lieblingsessen bekommen, ob Pizza oder Hähnchenschnitzel.
Ich vermute, dass keines dieser Kinder je diesen Moment vergessen wird, und es zeigt mir, dass Genuss kein Randthema, sondern lebensbedeutsam ist.
„Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Jesus Christus, die Mitte unseres Glaubens, ist ohne diese existenzielle Dimension des Genusses nicht denkbar.
Er verwandelt Wasser zu Wein, damit die Hochzeitsfeier in Kana weitergehen kann.
Er lädt Zöllner und Sünder und Ausgestoßene dazu ein, mit ihm zu essen und zu trinken.
Er sättigt Tausende mit Brot und Fischen. Er erzählt Gleichnisse vom Feigenbaum, vom Fischnetz, vom neuen Wein in alten Schläuchen, vom Sauerteig, vom Senfkorn, von der selbstwachsenden Saat. Jesus liebt das Leben.
In seinen Abschiedsreden hören wir den Spitzensatz: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh 15,5).
Genuss beim Abendmahl
Der Höhepunkt dieser Verbindung von leiblicher und geistlicher Sättigung ist das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern.
Wir werden nun miteinander unsere Sünde bekennen, beten, die Einsetzungsworte des Abendmahls hören und miteinander Leib und Blut Christi teilen.
„Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Ich wünsche uns allen, dass wir heute gut essen, trinken und so guten Mut für das nächste Jahr bekommen.
Amen.
- Als die Zeit erfüllt war
- Es war einmal.